Westen taumelt
Von Jörg KronauerManche mögen’s pathetisch. Um zu erläutern, was ein möglicher Eintritt nordkoreanischer Truppen in den Ukraine-Krieg bedeute, zog am Wochenende ein Spezialist des konservativen American Enterprise Institute (AEI) die alte Heartland-Theorie des Briten Halford Mackinder aus den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg heran. Wer das Heartland beherrsche, ein riesiges Territorium im Herzen Eurasiens, hatte Mackinder damals analysiert, kontrolliere die Weltinsel, große Teile Europas, Asiens und Afrikas; wer aber die Weltinsel beherrsche, kontrolliere die Welt. Wende man das auf die heutige Weltlage an, meinte der Mitarbeiter des AEI, dann müsse man sich mit Blick auf das zur Zeit entstehende Heartland-Bündnis Sorgen machen: Da schlössen sich Russland, Iran, Nordkorea, auch China immer enger zusammen. Sie griffen in Europa an – Russland die Ukraine –, im Nahen Osten – dort attackiere Iran Israel –; und könne man denn wissen, wie es in Ostasien mit Taiwan weitergehe? Die »Konföderation der Heartland-Diktatoren« sei eine ernste Gefahr.
Nun muss man, will man die Frage eines etwaigen Einsatzes nordkoreanischer Truppen im Ukraine-Krieg etwas näher unter die Lupe nehmen, nicht gleich schwülstige Konstrukte alter Imperialisten bemühen. Ohnehin ist immer noch unklar, was da wirklich geschieht. Hat Pjöngjang wirklich Truppen nach Russland geschickt? Wenn ja, wie viele – und was tun sie genau? Offensichtlich ist der Nutzen, den der Westen aus der Debatte zieht. Südkorea stellt – endlich, seufzen nicht wenige – die Lieferung von Kriegswaffen an die Ukraine in Aussicht, die es bislang verweigert hat. Seoul intensiviert seinen Schulterschluss mit der NATO, gegen den es immer noch Einwände gab. Hardliner fordern einmal mehr »Taurus«-Lieferungen sowie die Entsendung von NATO-Soldaten in die Ukraine: Die Kriegstrommeln werden lauter denn je gerührt.
Und doch: Sollte sich bestätigen, was manche vermuten – dass Moskau auf die westliche Billigung der ukrainischen Invasion nach Kursk asymmetrisch mit der Inanspruchnahme des Beistandspakts mit Pjöngjang antwortet –, dann wögen die Folgen schwer. Die Strategien westlicher Militärs für Ostasien gingen bisher von einem auch im Kriegsfall doch eher isolierten Nordkorea aus. Sie rechneten nicht damit, dass ihre Streitkräfte es in Europa je mit anderen als russischen – und belarussischen – Truppen zu tun bekommen würden. Schon die Drohnen und die Munition, die Iran und Nordkorea den russischen Streitkräften geliefert haben, haben ihre Kalkulationen in Frage gestellt. Ein nordkoreanischer Einsatz im Ukraine-Krieg würfe sie noch stärker über den Haufen. Schon die Debatte hat westliche Strategen – das Räsonieren des erwähnten US-Experten über die Heartland-Theorie zeigt es – plötzlich aus dem Gleichgewicht gebracht. In asiatischen Kampfkünsten – im Judo etwa, das Putin so schätzt – ist das ein echter Vorteil.
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