Utopie des Überlebens
Von Jürgen BlockKnapp 60 Leute im Goldenen Saal der klassizistischen Villa Ichon, die sich in fünf Stunden plus halbstündiger Kaffeepause zwölf Vorträge anhören, ohne auf gut Bremisch rammdösig zu werden – geht das? Aber klar, wenn zum Pausenkaffee Butterkuchen gereicht wird und es sich um das von der Marx-Engels-Stiftung und MASCH Bremen ausgerichtete Symposium zum 90sten Geburtstag von Thomas Metscher handelt, der ein wissenschaftliches Werk in Philologie und Philosophie vorweisen kann, dessen Vielseitigkeit sich in den Vorträgen der Freunde, Kollegen und Weggefährten widerspiegelte. Das Symposium am 27. Oktober in Bremen hatte das Thema: »Für eine Kultur des Friedens«.
Den Anfang machte Tochter Fiona Metscher, Schauspielerin, die Familiengeheimnisse ausplauderte: In ihrer Kindheit wurden nichts als Lieder gesungen und Gedichte aufgesagt. Das bewegendste Gedicht, das sie vortrug, war »Ich möchte leben« (1941) von der deutschsprachigen Selma Meerbaum-Eisinger: »Das Leben ist rot / braust und lacht. / Über Nacht / bin ich / tot.« Meerbaum ist 1942 in einem Zwangsarbeiterlager der SS umgekommen.
Edgar Radewald, ehemaliger Student und Herausgeber der jüngsten Festschrift für den Jubilar, wies darauf hin, dass es im strengen Sinn nur eine Kultur des Friedens gibt, wenn, wie es Metscher 1982 vorgeschlagen hat, die Humanität als Inhalt von Kunst und Kultur vorausgesetzt wird.
Der Theologe Dieter Kraft, der lange Zeit die philosophische Zeitschrift Topos redigiert hat, hob Metschers besondere Konzeption des »integrativen Marxismus« hervor. Danach gilt es, aus der Totalität des Wissens die Wahrheitsmomente herauszuarbeiten, die dem praktischen Handeln als Orientierung dienen. Nur so könnten die aktuellen Herausforderungen gemeistert werden.
Ian Watson, ehemals Dozent an der Uni Bremen und Schriftsteller, hat in den 1960er Jahren in Belfast mit Metscher und dem späteren Literaturnobelpreisträger Seamus Heaney Fußball gespielt. Watson trug das wunderbare Gedicht »Kickstart« vor, wie er als Doktorand drei Tage lang im Januar 1967, kurz vor Ausbruch des Bürgerkrieges, eine Arbeit über Faust und moderne Poesie getippt hat: »and slip-slide / this / under Dr Metscher’s door …«
Jörg Wollenberg, emeritierter Professor für Weiterbildung, verglich Richelieus Gedanken einer europäischen Friedensordnung von 1610, von dem Heinrich Mann in seinem Roman »Die Jugend des Königs Henri Quatre« erzählt, mit dem bis heute in der Öffentlichkeit kaum bekannten »Traum von Europas Vereinigten Staaten« von Willy Brandt, auf den Sohn Peter Brandt in jüngster Zeit zurückgekommen ist.
Die Diplompsychologin Ursula Vogt sprach über die pathische Gesellschaft. Psychische Deformationen der Menschen resultieren nicht aus individuellem Fehlverhalten oder Versagen, sondern werden von der profitorientierten Gesellschaft systematisch erzeugt.
Der Politikwissenschaftler und Schriftsteller Rudolph Bauer präsentierte eine Auswahl seiner außerordentlichen politischen Gedichte. Aus »Eirene«: »göttin des friedens / geschmückt mit schneekristallen / in der wintersonne // mit duftleuchtenden / knospen in des friedens flora / zarter frühlingshoffnung«.
Die Theologin Constanze Kraft erinnerte in ihrem Beitrag an den jungen jüdischen Kommunisten Herbert Baum, der 1942 mit anderen Jugendlichen einen Brandanschlag auf die antikommunistische Propagandaaustellung »Das Sowjetparadies« in Berlin verübte. 28 Mitglieder der Gruppe wurden von den Nazis ermordet, Baum begang Suizid. Für Kraft verfolgten diese Jugendlichen eine Utopie, die nach notwendiger Verwirklichung verlangt: Die Utopie des Überlebens.
Der Autor dieses Berichts, ehemaliger Student und freier Autor, stellte einige Aspekte des Friedensgedankens in Goethes Bearbeitung von Shakespeares »Romeo und Julia« vor. Wenn Romeo sich zurückbeugt und zu Julia am Fenster hinaufschaut, ist er in der Haltung der Reflexion, in der er seine Streitlust verliert und die Welt als lebendigen Organismus sieht.
Danach benannte der Literaturwissenschaftler Gert Sautermeister im zweiten Teil von Goethes »Faust« zwei Utopien: Die erste Utopie handelt von einem tätig-freien Leben auf freiem Grund, die zweite von einer unter »Gemeindrang« hergestellten Utopie des ökologischen Einklangs zwischen Mensch und Natur.
Am Schluss kam unser Jubilar ausführlich zu Wort. Wenn er schon im Mittelpunkt stehe, wolle er von sich erzählen. Eine Geschichte handelte von seinem Vater, der eine lukrative Zusammenarbeit mit den Nazis als Fischgroßhändler in Berlin ausschlug, um als Sanitäter, der keine anderen totschießen musste, in den Krieg zu ziehen. Es wäre nicht sein Verdienst, sagte Thomas Metscher, dass er jetzt in voller Pracht vor der Versammlung stünde, sondern Glück. Wir Zuhörer ergänzen gerne: Glück und Verdienst.
Mit einer Darbietung politischer Lieder und Texte von Jutta Kausch und Christa Weber fand das Symposium einen würdigen Abschluss.
Solidarität jetzt!
Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.
In unseren Augen ist das Urteil eine Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit in der Bundesrepublik. Aber auch umgekehrt wird Bürgerinnen und Bürgern erschwert, sich aus verschiedenen Quellen frei zu informieren.
Genau das aber ist unser Ziel: Aufklärung mit gut gemachtem Journalismus. Sie können das unterstützen. Darum: junge Welt abonnieren für die Pressefreiheit!
Regio:
Mehr aus: Feuilleton
-
Fragen stellen. »Großer Preis für Theater« für Regisseur Theodoros Terzopoulos
vom 31.10.2024 -
Schüsse in der Ferne
vom 31.10.2024 -
Nachschlag: Nicht ausgenutzt
vom 31.10.2024 -
Vorschlag
vom 31.10.2024