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Aus: Ausgabe vom 31.10.2024, Seite 10 / Feuilleton
Theater

Fragen stellen. »Großer Preis für Theater« für Regisseur Theodoros Terzopoulos

Von Sabine Fuchs
Agamemnon (Savvas Stroumpos) schreitet über das Volk hinweg(1).
Die »Orestie« des Dichters Aischylos in einer Inszenierung von Theodoros Terzopoulos

Der griechische Verband der Theater- und Bühnenkritiker hat am 21. Oktober in Athen den »Großen Preis für Theater der Saison 2023/2024« an den Regisseur Theodoros Terzopoulos verliehen. Der Preisträger ging in seiner Dankesrede vor allem auf politische Aspekte seiner Arbeit ein. Er stellte die Frage, ob das Theater Antworten für unsere Zeit bieten kann, in der »Globalisierung und Neoliberalismus nicht die schöpferische Begegnung von Erinnerung und Zeit, Mythos und Vernunft fördern, sondern diese Prinzipien einem autoritären, restriktiven System untergeordnet sind, einer Zeit, die die Menschen wirtschaftlichen und politischen Interessen ausliefert und eine Parallelwelt der Virtual-Reality sie mit Scheinkommunikation so vereinzelt, dass sie akzeptieren, dass ihre politischen Einflussmöglichkeiten auf einen gelegentlichen Gang an die Wahlurnen reduziert sind, von einem System, das gegen ihre Interessen handelt«. Diese Fragen, so Terzopoulos, könne das Theater nicht beantworten, weil es nicht seine Aufgabe sei, Antworten zu geben, sondern Fragen zu stellen.

Genau das tut er in der Inszenierung der »Orestie«, für die er vor allem ausgezeichnet wurde, auch wenn die Ehrung offiziell seinem »gesamten Schaffen in den letzten 40 Jahren« galt. Dabei hat schon die Tatsache, dass er diese Fragen unserem westlichen und keinem anderen politischen System stellt, ausgereicht, um bei konservativen und liberalen Journalisten Stirnrunzeln hervorzurufen: Darf man das überhaupt, unsere westliche Demokratie in Frage stellen? Im Zentrum der Inszenierung, darauf hat Terzopoulos im Vorfeld seiner ersten Zusammenarbeit mit dem Griechischen Nationaltheater bestanden, steht ein heutzutage unüblich großer Chor von 21 Darstellern. Dieser repräsentiert das Volk, ein Volk der Ausgegrenzten, der »Anderen«, deren Identität und kollektive Erinnerung mit dem Selbstverständnis der Oberschicht kollidiert.

Dieses Gefühl der Entfremdung entspringt direkt der griechischen Zeitgeschichte: Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde die mächtige griechische Widerstandsbewegung EAM, hinter der die Mehrheit der Bevölkerung stand, im Vertrag von Varkiza in ihre Selbstentmachtung manipuliert. Was folgte, waren der griechische Bürgerkrieg, Niederlage und für die Überlebenden Exil und völlige Entrechtung, alles unter dem Deckmantel der Eingliederung des Staates in den »freien Westen«. Terzopoulos hat im Zusammenhang mit der Inszenierung Varkiza immer wieder erwähnt, und so verwandelt sich der Volkschor auch in den drei Teilen der »Orestie«, steht nacheinander für Unterdrückung, Verlust, Rebellion und endgültige Niederlage, so die Theaterwissenschaftlerin, Semiotikerin und Dramaturgin Maria Sikitano, die für das Programmheft der »Orestie« Terzopoulos’ Vorgehensweise analysiert hat.

Verharrt der Chor in »Agamemnon« noch in einem Zustand der Angst unter der repressiven Herrschaft von Klytaimnestra, verarmt, manipuliert und nicht bereit, aktiv in die Entwicklung einzugreifen, so kommt es in den »Choephoren« zum ersten Versuch der Emanzipation – er kooperiert mit Elektra und Orest, um die herrschende Klasse zu stürzen und die Bedingungen der eigenen Existenz zu definieren. In den »Eumeniden« verwandelt er sich in die Erinnyen, manifestiert sich als rebellische Naturgewalt, die sich gegen das Herrschende wendet.

Doch die Göttin Athene versucht um jeden Preis, einen Friedenspakt zwischen Göttern und Erinnyen zu schließen, bietet institutionalisierte Teilhabe an, und die Erinnyen willigen schließlich ein, werden zu den Eumeniden. Der Chor des Volkes hat nun etwas zu verlieren, und ein Volk, das etwas zu verlieren hat, ist nicht mehr zur Rebellion fähig – Athene kann ohne Widerspruch die Demokratie, die neue Ordnung der Dinge errichten und die Rachegöttinnen weit weg führen vom Zentrum der Macht, in die Tiefen der Erde, die Dunkelheit, das Vergessenheit.

Wir müssen uns vorstellen, dass die Erinnyen zurückkehren, schreibt Sikitano. Vielleicht müssen wir es uns wünschen? Diese Einstellung könnte man auch als politisches Fazit von Terzopoulos’ Arbeit sehen.

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