Stimmen der Besiegten
Von Matthias RudeKeine Stimme ertönt außer der Stimme der Herrschenden«, heißt es in Bertolt Brechts Gedicht »Lob der Dialektik« (1934), und: »Die Gewalt versichert: So, wie es ist, bleibt es.« Diesem erdrückenden Zustand setzt der 1990 in Wuppertal geborene Schriftsteller Mesut Bayraktar mit seinem neuen Buch »Die Lage« etwas entgegen. Er gibt den Besiegten eine Stimme, denen, die zu Bittstellern herabgedrückt worden sind, den Entwürdigten, Beiseitegeschobenen, für die die Welt – auch die literarische – keinen Platz hat. Die 18 Kurzgeschichten werfen Schlaglichter auf biographische Ereignisse sehr unterschiedlicher Art, denen zwei Dinge gemein sind: Die Protagonisten stammen aus der Arbeiterklasse, und sie leiden unter ihrer eigenen Unwissenheit. Lösungen bieten sich ihnen nicht.
Da ist Hayat, eine Kurdin aus dem Irak, die nach ihrer Flucht vor einem gewalttätigen Mann vom Jobcenter gezwungen wird, weiterhin in einem Stripklub zu arbeiten. Da sind die in der Pflege schuftende Rozalia und ihr Mann Pawel, beide aus Polen. Über sie heißt es: »Nach dem Mauerfall folgten sie dem großen Versprechen in den Westen, auf dessen Einlösung sie bis heute warten.« Da ist Bernd, ein gescheiterter Akademiker, der seine Wohnung bei der Zwangsräumung in Brand setzt und sich vom Balkon in den Tod stürzt – eine tragische Geschichte, die sich 2017 in Tübingen tatsächlich ereignet hat. Da ist Robert, der nach einem lücken- und tadellosen Arbeitsleben als Lokführer aufs Abstellgleis geschoben wird und den fortan die Einsamkeit und die eigene Bedeutungslosigkeit zerfressen. Lediglich die Erinnerung an die Solidarität unter den Kollegen während des Bahnstreiks im Jahr 2011 lässt in seinem Geist noch »zaghaft das Antlitz einer Unbesiegbarkeit aufblitzen«.
Das Buch handelt vom Chaos des Alltags, hinter dem sich eine strikte Ordnung aus Gewalt und Disziplin verbirgt, und von der Stille der Ohnmächtigen, ihrer Sprachlosigkeit, Scham und Schmach, von der Angst und Panik der Gescheiterten, von Ausgrenzung und Selektion, von Trauer und der Wut im Bauch, die sich manchmal Bahn bricht – brechen muss. Es geht um vernarbte Wunden, die geleckt werden, um einsame Körper, die sich im Raum bewegen, um Fluchten, um Substanzen und Orte des falschen Glücks.
Neben dem Zitat »Wer seine Lage erkannt hat, wie soll der aufzuhalten sein?« aus Brechts »Lob der Dialektik« hat Bayraktar seinem Werk eine kurze Stelle aus Maxim Gorkis »Nachtasyl« (1901) vorangestellt. »Alles für den Menschen«, heißt es dort. Es ist sicher kein Zufall, dass im berühmten Schauspiel Gorkis im Anschluss an diese Stelle im vierten Aufzug davon die Rede ist, man solle den Menschen nicht bemitleiden, ihn nicht durch Mitleid erniedrigen, sondern respektieren. Seine Klasse würdig darzustellen – dies gelingt dem Autor mit bemerkenswertem Feingefühl.
Bei den Figuren selbst sucht man Klassenbewusstsein meist vergeblich. Wo es zum Ausdruck kommt, äußert es sich eher leise, in Nebenbemerkungen, Gedanken oder Ahnungen – beispielsweise, wenn einem autonomen Hausbesetzer zu dämmern beginnt, was wirklich die Lösung wäre für das Problem, das er mit seinem politischen Aktivismus bekämpfen möchte: »So was wie einen Staat« bräuchten wir auch, kommt es ihm in den Sinn angesichts der eskalierenden Gewalt der Exekutivorgane des bürgerlichen Staats, die er am eigenen Leib erfährt – »nur besser«.
Die historische Niederlage des Sozialismus hat auch in der Arbeiterklasse das Gefühl des Besiegtseins hinterlassen. Entsprechend düster sind viele der Geschichten. Und doch scheint etwas in ihnen vor, eine Art Hoffnung – und die Wut, der Klassenhass, der nötig ist, als Triebkraft, als Ansporn, um die Verhältnisse umzuwerfen, in denen, um mit Marx zu sprechen, der Mensch ein erniedrigtes und verlassenes Wesen ist.
Mesut Bayraktar: Die Lage. Erzählungen. Autumnus-Verlag, Berlin 2024, 314 Seiten, 19,95 Euro
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