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Aus: Ausgabe vom 01.11.2024, Seite 11 / Feuilleton
HipHop

Hier war jeder Schlüsselkind

Dein Rap steht für Schwachsinn: Auf »Dr. Pöbel« rappt der Rostocker Pöbel MC seine Wahrheit
Von Norman Philippen
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»Du hast alles reflektiert bis auf dein Wohlstandprivileg und bist so lange woke, bis sich dein Linkssein wieder legt« Pöbel MC

Schon die ersten Verse seines auf Platz sieben der Albumcharts gestarteten, dritten Albums »Dr. Pöbel« stellen unmissverständlich klar: Pöbel MC hat nun seinen (Prädikats-)Dr. (rer. nat.) in der Tasche. »Dr. P. Dr. P. Dr. Dr. Pöbel, ich rezitiere Lyrik, während ich die Toys verprügel / Pöbel, Dr. Pöbel, Dr. Dr. P., Bildungsbürgerproll, es geht weiter im Sujet« (»Dr. P.«). Das heißt beim Pöbel seit jeher, sich weder seines Bildungsbürger- noch Prolltums zu schämen, sondern als pöbelnder Bildungsbürgerproll bei jeder Gelegenheit holterdiepolter die Demarkation der Sozialsphären einzureißen. Aufzuzeigen, dass das Prekariat auch mit Doktorgrad darbt. Und sei es im Rollkragenpulli. Akademiker, die beim Pöbelhören nicht aufpassen, könnten auf die Idee kommen, sie hätten mit den Prolls etwas gemeinsam, schipperten gar im selben Bötchen gen Doomsday.

Dr. P. konnte ein langes Unileben nicht einreden, es könnte anders sein: »15 Jahre Uni und ich chill nur mit Verbrechern oder menschlich Hochbegabten, alle gut frisiert / Die meisten, mit denen ich hänge, haben nicht studiert, ficke auf Klassismus sowie Antiintellektuelle / Schlau und aggressiv, Antithese der Verbaldurchfälle.« Nicht von unten nach oben kacken, ist aber keine Lösung, denn »Der Wohlstand unter sich konstruiert die Unterschicht«. Außerdem, so der »Afterworkrapper« im Partyballertrack Nummer vier von zwölf, »Kunst ist kacken, nicht Arschkriechen« beziehungsweise »Rap heißt kacken, ich mach Scheiße zu Gold«. Kunstlos, aber Muss sind (wie in »Heliaktion«) »Action, Demo, Bomben, das ist keine Kunst / Du lässt nachts den Heli kreisen, und zwar wegen uns«. Irgendwer muss ja, weil »Wie viele Menschen haben sich jahrzehntelang gewehrt? Ihr werdet höchstens wütend, wenn’s euch Böhmermann erklärt / Bullen machen ihren Job, also mach du dein’, Action, Demo, Bomben, ja so muss das sein.« Eben. Übrigens, falls es wer bis dahin überhörte: »Ja ich hab studiert, doch was hast du dir gedacht?!« Nix soweit, außer vielleicht »wissen ja alle jetzt auch mal, lieber Pöbel MC. Get over it?! Maybe?«

Pöbelrap jedenfalls heißt kacken wie pissen. Etwa auf wache Geister entgeisternde Versionen von Wokeness – »Rätätätät, deine Werte ein Witz, deine Wokeness ein Piss, deine Linie Kommerz, dein Songbild ist Schlager, ich schrei’ fick eure Welt, Majors sind Versager« (Track vier/zwölf). Apropos Rätätätät, Pöbel MC ist nach wie vor am besten, wenn er auf hochtaktigen (Tombs Beats/DJ Flexscheibe-)Trap/Boom-Bap-Beats maschinenmundmäßig hohenbogens Salven spuckt. Jenen ins Auge, die nach unten nur krümeln wollen. Oder die beim »Lebermord am Centercord« (fünf/zwölf) nicht mithalten können wie der sportliche »Kokainobelix« – »Drei Jahrzehnte Schwerenöter, ein Leben hab ich wie mein Oberkörper« – oder hab ich mich verhört? Jedenfalls: »Kokainobelix / Nein geballert hat er nix / Ein Champion ohne Tricks.«

Etwas trickreicher wirkt der nach dem achten und schwächsten Track »Kein Berliner« der für Pöbel-MC-Standards tränsusende Track »90s Ost«. Der trotz des Videos aber nicht im Radio gespielt werden wird. Weil Verse wie »90s Ost, hier war jeder Schlüsselkind / Wo ich herkomm: Jochbeinbruch und Küstenwind / Spar dir mal dein Mitleid, es gibt nichts zu bedauern / Ham auf unser’m Weg gelernt uns eigenständig zu empowern« zwar durchgehen. Solch wenig radikale wie »Du hast alles reflektiert bis auf dein Wohlstandprivileg und bist so lange woke, bis sich dein Linkssein wieder legt / Es geht um strukturelle Kämpfe, scheiß auf Identität / Und am Ende geht’s immer darum, wofür der einzelne steht« aber bereits nicht. Hat Pöbel MC aber vielleicht selbst nicht dran geglaubt. Weil er doch – »Und ich hab nie geglaubt, dass ihr korrekt seid, / Wokeness wird zum Opfer seiner eigenen Korrektheit« (»Sud«) – weiß, »Was wir gemeinsam haben, endet bei Smalltalk und Phrasen / Und das kann ja auch schon reichen, um sich halbwegs zu ertragen«. Und das »WIR« in uns hopefully halbwegs zu definieren, wie der MC seinen Oberkörper.

Des Pöbels bestes, weil bislang auch auf Beatbasis abwechslungsreichstes Album gibt dessen Fanboys ’n’ Girls zu den finalen 80er Schmuserockgitarrensoli von »Sonnenaugen« gute Gelegenheit, von des Pöbels für postmoderne Popverhältnisse wahrhaftig breiter Brust zu träumen. Oder mitzusummen bei »Die Welt ist schon im Arsch, doch es ist ein schöner Tag / Ich häng mit Menschen, die ich mag und deine Freundin kann Spagat / Loorbeer’n schmecken, aber machen keine Mahlzeit / Dein Rap steht für Schwachsinn, meiner steht für Wahrheit«. Wollen wir mal so stehenlassen.

Pöbel MC: »Dr. Pöbel« (Audiolith)

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