Rosa-Luxemburg-Konferenz am 11.01.2025
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Aus: Ausgabe vom 01.11.2024, Seite 12 / Thema
Algerien

Ein grausamer Kampf

Vor 70 Jahren begann die algerische Revolution. Die französische Kolonialmacht antwortete mit einem brutalen Krieg
Von Sabine Kebir
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Folter gehörte zum Standardrepertoire der französischen Besatzer. Gefangene Kämpfer der Armée de Libération Nationale (ca. 1958)

Am 1. November 1954 wird das als Teil Frankreichs geltende Territorium Algeriens von Bombenanschlägen auf militärische und paramilitärische Einrichtungen erschüttert: Kasernen, Gendarmerien, Telegrafenmaste, Telefonleitungen. An manchen Orten brennen auch Fabriken. Am selben Tag bekennt sich über Radio Kairo eine bislang unbekannte Organisation zu den Aktionen: die Front de Libération Nationale (FLN). Zu ihrem politischen Ziel erklärt sie die nationale Unabhängigkeit.

Die französische Verwaltung war völlig überrascht worden und schritt zu wahllosen Verhaftungen. In der Metropole hatten die perfekt koordinierten Anschläge sofort Auswirkungen. Die Regierung von Pierre Mendès France musste sich einem Misstrauensvotum stellen und gewann es nur, weil ihr die Vertreter der Algerienfranzosen, genannt »Pieds-noirs«, noch vertrauten. Drei Monate später sorgten dieselben Kräfte für den Sturz der Regierung.

Die arabische und berberische Bevölkerung Algeriens schöpfte nicht nur durch die Anschlagsserie des 1. November Hoffnung, sondern vor allem durch die Solidarität, die sie plötzlich aus dem bereits unabhängigen und selbstbewussten Ägypten Gamal Abdel Nassers erhielt. Muslime, die zuvor kaum Interesse an Radioapparaten hatten, weil sie Musiksendungen als moralische Gefährdung ihrer Frauen und Kinder empfanden, kauften die Apparate plötzlich massenhaft. Das Abhören der Nachrichten aus dem Kairoer Büro der FLN, zu dessen Stab auch der künftige erste Präsident, Ahmed Ben Bella gehörte, war jedoch eine Herausforderung, weil der Sender stark gestört wurde. Meist konnte nur der Familienvater etwas erlauschen, wenn er das Ohr dicht an den stoffverkleideten Lautsprecher hielt.

Aufstand ohne Alternative

Am 29. November 1954 kommt es bei Arris im Aurèsgebirge zu einem ersten Gefecht zwischen dem bewaffneten Arm der FLN – der Armée de Libération Nationale (ALN) – und einer gerade aus Indochina abkommandierten französischen Division. Die dort in der »Schlacht um Dien Bien Phu« erlittene Niederlage, die Vietnams Entkolonisierung einleitete, hatte die Algerier ermutigt, ebenfalls den bewaffneten Kampf aufzunehmen. Die französische Seite, insbesondere die hohen Ränge der Armee, war entschlossen, eine ähnliche Niederlage mit allen Mitteln zu verhindern. So begann der sieben Jahre währende algerische Unabhängigkeitskrieg, der eine Million Tote kostete. Andere afrikanische Kolonien Frankreichs erhielten die Unabhängigkeit schneller und mit wesentlich weniger physischer Gewalt. Aber die Interessen der Kolonialmacht waren in Algerien nicht nur wegen des hohen Anteils der angesiedelten Europäer besonders stark. Das Land barg enorme natürliche Ressourcen und in der Sahara sollten Atombombentests stattfinden.

Die autochthone Bevölkerung hatte 124 Jahre Kolonisation erlitten. Anders als in Marokko und Tunesien, die erst seit einem halben Jahrhundert französisch waren, hatte man die algerischen Ländereien, die meist in Besitz von Familien oder Stämmen gewesen waren, ab 1870 enteignet und an Europäer verkauft. Damit wurden Sozialstrukturen zerstört und die kulturelle Identität der Menschen auf den Islam beschränkt. Denn Schulbildung wurde den Einheimischen vorenthalten; die meisten blieben bis zur Unabhängigkeit Analphabeten, was mit verbreiteter Verelendung einherging. Von Algeriern gegründete politische Parteien wirkten meist nur in der Illegalität, ihre Führer lebten mehr im Gefängnis als in der Freiheit. Für die Teilnahme vieler Algerier an der Seite Frankreichs im Zweiten Weltkrieg war eine Demokratisierung versprochen worden. Als sie am 8. Mai 1945 von Demonstranten im ganzen Land eingefordert wurde, antwortete die Kolonialmacht innerhalb von fünf Tagen mit der Massakrierung von 45.000 Algeriern.

Erst jetzt durften die Schulen zehn Prozent Muslime aufnehmen, obwohl diese 90 Prozent der Bevölkerung stellten. 1947 wurde ein Wahlsystem mit zwei Kammern eingeführt. Weil ehemals verbotene Parteien Kommunalwahlen gewonnen hatten, wurden die Wahlergebnisse der zweiten, für Algerier bestimmten Kammer, gefälscht. Nach Ausbruch des Unabhängigkeitskriegs wurde diese Pseudoinstitution wieder abgeschafft.

Die berühmteste Analyse der überschießenden Gewalt, die diesen Konflikt prägte, lieferte der aus Martinique stammende Psychiater Frantz ­Fanon (1925–1961). Seit 1953 leitete er eine Klinik nahe Algier. Mit einigen Mitarbeitern stellte er sich 1955 in den Dienst der Exilregierung, die sich im inzwischen unabhängig gewordenen Tunesien konstituiert hatte. Fanon schuf dort therapeutische Stützpunkte für die große Zahl traumatisierter Kriegsflüchtlinge, darunter viele Kinder. Und er nahm politische Funktionen wahr – etwa innerhalb der Kommunikation mit bereits unabhängigen afrikanischen Staaten. In seinem posthum, kurz vor der Unabhängigkeit, veröffentlichten Buch »Die Verdammten dieser Erde« (1966) – im Original auf französisch »Les Damnés de la Terre« (1961) – legte er dar, dass es zum bewaffneten Aufstand keine Alternativen gegeben habe, weil der algerischen Mehrheitsbevölkerung demokratische Mittel zur Durchsetzung ihrer Rechte versagt wurden.

Anders als heutige Medien betrachtete Fanon nicht nur den Schlagabtausch direkter physischer Gewalt während des Konflikts, sondern schloss auch die vorangehende, oben beschriebene strukturelle Gewalt in die Analyse ein. Der Kolonialismus sei ein »Zusammentreffen zweier von Geburt an antagonistischer Kräfte« und »immer ein Phänomen der Gewalt« gewesen. Deshalb ziele der Kampf auf einen strukturellen und institutionellen Umbruch – auf einen eigenen Staat.

Die koloniale Welt, so Fanon weiter, sei eine zweigeteilte Welt, in der es »Eingeborenenstädte und Europäerstädte« gebe. »Die Trennungslinie, die Grenze wird durch Kasernen und Polizeiposten markiert. Der rechtmäßige und institutionelle Gesprächspartner des Kolonisierten, der Wortführer des Kolonialherrn und des Unterdrückungsregimes ist der Gendarm oder der Soldat.«¹ Mangels demokratische Kommunikationskultur werde der »Kontakt« mit »Gewehrkolbenschlägen und Napalmbomben« gepflegt. Der »Agent« der kolonialen Ordnungsmacht »benutzt die Sprache der reinen Gewalt«. Er »erleichtert nicht die Unterdrückung und verschleiert nicht die Herrschaft. Er stellt sie zur Schau, er manifestiert sie mit dem guten Gewissen der Ordnungskräfte«.

Entgiftende Gewalt

Als Psychiater konstatiert Fanon eine Übertragung: Die gewaltsam agierenden Ordnungskräfte tragen »die Gewalt in die Häuser und in die Gehirne der Kolonisierten«. Denn der Algerier wisse, dass er nicht das »Tier« sei, auf das ihn Haltung und Diskurs des Kolonialherren reduziere. »Und genau zu derselben Zeit, da er seine Menschlichkeit entdeckt, beginnt er seine Waffen zu reinigen, um diese Menschlichkeit triumphieren zu lassen.«²

Die Zerstörung und Perspektivlosigkeit des sozialen Raums löse bei den Kolonisierten ein permanentes Gefühl von Scham aus. Werde auch noch verlangt, sie auf europäische Werte einzuschwören, erfasse sie »eine Art Anspannung, ein Starrkrampf der Muskeln«. Es könne geschehen, »dass der Kolonisierte, wenn er eine Rede über die westliche Kultur hört, seine Machete zieht«.³ Für ihn »wirkt die Gewalt entgiftend«. Sie befreie ihn »von seinem Minderwertigkeitskomplex, von seinen kontemplativen und verzweifelten Haltungen«.⁴ Weil er nicht Herr seines Raums und seiner Bewegungen ist, sondern dort zu sein hat, wo ihn der Kolonialherr haben will, »sind seine Träume Muskelträume, Aktionsträume, aggressive ­Träume«.

Aber diese »in seinen Muskeln sitzende Aggressivität wird der Kolonisierte zunächst gegen seinesgleichen richten«. Es kommt zu Schlägereien zwischen einzelnen Menschen bis hin zu Stammesfehden. Okkultismus und Aberglaube nehmen zu. Alles scheint erlaubt zu sein, »um die angestaute Libido, die verhinderte Aggressivität vulkanisch ausbrechen zu lassen. Symbolische Tötungen, bildliche Ritte, vielfältige eingebildete Morde (…). Die bösen Säfte ergießen sich, donnernd wie Lavamassen«.⁵ Es kann lange dauern, bis es einer geheimen Organisation gelingt, diese Energien ins Politische zu kanalisieren.

Zwei Jahre nach Beginn der Unabhängigkeitskämpfe gelang es Paris, einen Teil der Führungsgruppe der FLN auszuschalten. Mohammed Khider, Mostefa Lacheraf, Hocine Aït Ahmed, Mohammed Boudiaf und Ahmed Ben Bella hatten sich im unabhängig gewordenen Marokko aufgehalten. Am 22. Oktober 1956 wurde eine Douglas DC-3 der Royal Air Maroc während ihres geplanten Fluges von Rabat nach Tunis von einem französischen Jagdflieger abgefangen und in Algier zur Landung gezwungen. Die Inhaftierung der fünf Führungskader, deren historische Rolle damit nicht beendet war, hatte allerdings keinen Einfluss auf den weiteren Verlauf des Konflikts. Die FLN besaß genügend qualifizierte Kräfte, um den Kampf weiterführen zu können.

Die nachträgliche Glorifizierung antikolonialer Kämpfe unterschlägt oft, dass der von Fanon für die vorpolitische Phase ausgeführte Aspekt der Gewalt innerhalb der kolonisierten Gruppe in der politisch organisierten Kampfphase nicht beendet ist. Da nicht alle Kolonisierten der abverlangten revolutionären Disziplin Folge leisten, wird sie mit Terror erzwungen. Streng wird mit von der Kolonialmacht angeworbenen Spitzeln verfahren. Da als die Nation einigende Kultur nur der Islam zur Verfügung stand und in Teilen der Widerstandsbewegung fundamentalistische Positionen herrschten, konnte es zu fanatisierter Wiederbelegung von Geboten kommen, die schon lange nicht mehr als verbindlich galten. In der Anfangszeit verhängten manche Kommandeure in ihrem Operationsgebiet ein Tabakverbot und bestraften nicht nur Kämpfer, sondern auch rauchende Zivilisten mit der Amputation von Nase oder Lippen. Ein generelles Zigarettenverbot war aber nicht durchsetzbar, zumal es sich politisch und militärisch als kontraproduktiv erwies.

Zur besonderen Tragik von Befreiungskriegen gehört, dass Gruppen oder sogar ganze Ortschaften ausgelöscht werden, wenn sie wechselnd unter die militärische Kontrolle der Kolonialarmee und der antikolonialen Kräfte geraten und von der einen oder anderen Seite des »Verrats« bezichtigt werden. Opfer einer solchen Verstrickung wurden am 28. Mai 1957 315 der 374 Einwohner des ostalgerischen Dorfes Melouza, die von der ALN der »Kooperation mit den Franzosen« beschuldigt und getötet wurden. Die FLN vermeldete über Radio Kairo, das Massaker sei ein »Werk der französischen Kolonialmacht« gewesen.

Auch innerhalb der Führungsgruppe der FLN gab es Meinungskämpfe, die bis zu Morden führten. Nur ein Beispiel ist der Fall von Abane Ramdane, zunächst die unumstrittene Nummer eins der FLN. Mit politischem Talent hatte er die Verbindungsnetze zwischen Algerien, Frankreich, Ägypten, Tunesien und Marokko koordiniert sowie die Gründung einer geheimen Gewerkschaft und einer geheimen Studentenvereinigung der FLN angestoßen. Auf einem am 20. August 1956 im ostalgerischen Tal der Soummam abgehaltenen Kongress erklärte sich die FLN als einzige legitime Vertreterin des algerischen Volkes, die ermächtigt sei, über einen Waffenstillstand zu entscheiden und anschließende Verhandlungen über die Unabhängigkeit des gesamten nationalen Territoriums zu führen. Ramdane führte einen weitreichenden Beschluss herbei, wonach der militärische Kampf der ALN unter politischer Kontrolle der FLN stehen, aber der innere Widerstand gegenüber den im Ausland agierenden Gruppen politische Priorität haben sollte. Um das Prestige der FLN sowohl in Algerien als auch im Ausland zu fördern, enthielt der Beschluss auch strenge Klauseln, die der Gewalt Grenzen setzten. Einzelne Kommandeure sollten gegen Spitzel keine Todesurteile verhängen dürfen, sondern Zivilgerichte anrufen. Amputationsstrafen und das Töten durch Schächten wurden untersagt. Gefangene sollten nicht mehr erschossen und ein Regelwerk für ihre Behandlung erarbeitet werden. Der Soummam-Kongress legte auch erstmals die politische Perspektive einer umfassenden Agrarreform nach der Unabhängigkeit fest.

Zweifellos war die gnadenlose Dynamisierung der militärischen Auseinandersetzung, für die Frankreich zeitweise eine halbe Million Soldaten mobilisierte, der Grund, weshalb sich diese Beschlüsse nur zum Teil durchsetzen ließen und Ramdanes Vorgabe der Priorität des Politischen gegenüber dem Militärischen nicht einzuhalten war. Es kam in der Folge zu einem von Führungskräften der FLN in Tunis gefassten Beschluss, Ramdane nach Marokko zu locken und an einem geheimen Ort gefangenzuhalten. Dass die FLN über solche Orte in dem Nachbarland verfügte, zeigt, wie stark sie – dank des Wohlwollens des damaligen Königs – dort verankert war. Wahrscheinlich auf Beschluss des in Marokko mit dem Vorhaben Beauftragten wurde Ramdane am 27. Dezember 1957 auf einer Farm bei Tétuan ermordet. Radio Kairo meldete, er sei »auf dem Feld der Ehre gefallen«.

Operation »Bleuite«

Für die Ausschaltung Ramdanes kann auch eine Rolle gespielt haben, dass der innere Maquis durch die zwischen Januar und Oktober 1957 stattgefundene »Schlacht um Algier« stark geschwächt war und die politische Führung endgültig auf die Exilregierung in Tunis überging. Um das gesamte Widerstandsnetz in der Hauptstadt zu zerstören, griff die Kolonialmacht auf ein engmaschiges System einer bereits in Indochina angewandten Foltermethode mit starken Elektroschocks zurück. Bis zu 300 Gefolterte erklärten sich bereit, mit den Franzosen zusammenzuarbeiten und die Befreiungsbewegung zu infiltrieren. Während der Schulungen durch den Geheimdienst trugen sie blaue Arbeitsanzüge, weshalb die Operation den Codenamen »Bleuite« erhielt. Mit Hilfe der manipulierten Verräter wurde nicht nur der Widerstand in der Hauptstadt weitgehend neutralisiert. Es gelang, im gesamten Maquis großes gegenseitiges Misstrauen unter den Kämpfern und ihren Unterstützern zu säen, was 1958 und 1959 zu massenhaften Folterungen und Tötungen Unschuldiger führte, darunter auch hochrangiger Offiziere der ALN. Ganz besonders zerstörerisch waren die Folgen in der nahe Algier gelegenen Kabylei, wohin nicht nur FLN-Aktivisten aus Algier geflohen waren, sondern auch eine beträchtliche Anzahl von Schülern und Studenten, die sich der Revolution zur Verfügung stellen wollten. Allein schon, weil sie eine französische Ausbildung genossen hatten, wurden Hunderte als angebliche Spitzel ermordet.

Französische Geheimdienste verbuchten die »Bleuite« als Erfolg. Aber weder die Schwächung der ALN noch die selbst in kleinsten Dörfern von der Kolonialmacht installierten Folterhöllen vermochten den Widerstand der Bevölkerung zu brechen. Zu viele Menschen waren bereit, eher ihr Leben zu wagen als noch länger unter kolonialer Entwürdigung zu leben. Als wirkungslos erwies sich auch die Zwangsumsiedlung von Bevölkerungen ganzer Dörfer in geschlossene Lager, womit die Versorgung des Widerstands mit Nahrungsmitteln unterbunden werden sollte.

Hinzu kam, dass der Konflikt immer mehr das Mutterland erfasste. In Frankreich hatte sich unter den zahlreichen algerischen Arbeitsmigranten ein organisiertes Netz der FLN gebildet, das dem Widerstand in der Heimat große Geldsummen zur Verfügung stellte. Dieses Netz wurde auch von Franzosen unterstützt. Das durch den französisch-algerischen Journalisten Henri Alleg (1921– 2013) publik gemachte Foltersystem empörte die Weltöffentlichkeit ebenso wie das nach und nach bekannt werdende rücksichtslose Vorgehen der französischen Armee gegen die Zivilbevölkerung. Weil in dem nicht enden wollenden Krieg auch viele Soldaten umkamen, widersetzten sich immer mehr Rekruten der Einberufung zum Dienst in Algerien. Ab 1957 erhielten Deserteure Unterstützung von der Kommunistischen Partei Frankreichs.

Putschgefahr

Dass die Erfolge der Armee begrenzt blieben, lasteten die Generäle auch der politischen Führung in der Metropole an, weshalb der 4. Republik 1958 ein faschistoider Militärputsch drohte. Zunehmende Panik der Algerienfranzosen brachten hochrangige Generäle dazu, für den 13. Mai einen Generalstreik und eine Massendemonstration in Algier zu organisieren, wo sie sich als wahre Verteidiger der Interessen Frankreichs präsentieren wollten. Lautsprecher verkündeten, dass die Pariser Regierung Algerien »verkaufen« würde. Die Menge, die »Algérie française!« und »Die Armee an die Macht!« skandierte, durfte das von Generalgouverneur Robert Lacoste fluchtartig verlassene Regierungsgebäude stürmen. Schließlich verkündeten die Generäle Jacques Massu, Roger Trinquier und Jean Robert Thomazo die Bildung eines für die Kolonie zuständigen »Wohlfahrtskomitees«. Auch Paris solle eine »Regierung des öffentlichen Wohls« installieren, »die fähig ist, Algerien als integralen Bestandteil der Republik zu bewahren«, hieß es.

Zunächst schien der Plan aufzugehen. Der am 1. Juni zum Ministerpräsidenten ernannte Charles de Gaulle ließ sich drei Tage später von derselben Menge in Algier feiern und rief ihr sein berühmtes »Je vous ai compris!« – »Ich habe euch verstanden!« – zu. In Wirklichkeit aber arbeitete er hinter den Kulissen auf die Abtrennung der unhaltbar gewordenen Kolonie hin. Um die schwelende Putschgefahr zu bannen, ließ er die Generäle jedoch zunächst weiter Krieg führen.

Am 8. Januar 1961 ordnete de Gaulle ein Referendum an, in dem sich eine Mehrheit in Frankreich und Algerien für das Recht auf Selbstbestimmung aussprach. Als Reaktion wurde am 20. Januar in Madrid die Organisation de l’Armée Secrète (OAS) unter dem Motto »Algerien ist und bleibt französisch« gegründet. Am 21. April kam es unter Führung der Generäle Raoul Salan, Edmond Jouhaud und André Seller zum Putschversuch, der aber scheiterte. Am 20. Mai begannen im schweizerischen Évian-les-Bains zunächst geheime Gespräche über die Unabhängigkeit. Verhandlungspartner waren unter anderem jene fünf Führungskader der FLN, deren Flugzeug 1956 entführt worden war. Obwohl ein gemeinsames Exekutivkomitee für die Organisation der Machtübergabe beschlossen wurde, blieb man sich uneinig über das künftige Statut der »Pieds-noirs« und die Forderung, dass die Sahara französisch bleiben sollte. Auch willigten die Algerier noch nicht in einen Waffenstillstand ein, den sie für verfrüht oder gar für eine Falle hielten.

Obwohl der Putsch gescheitert war, gelang es der aus abtrünnigen Militärs und paramilitärischen »Pieds-noirs« bestehenden OAS, die eingeleitete Transition zur mörderischsten Phase des ganzen Krieges zu machen. Es kam nicht nur zu Anschlägen gegen Algerier, sondern auch gegen regierungsloyale Militärs und Algerienfranzosen, die die Unabhängigkeit unterstützten. Zwischen Zivilisten, die die Ziele der OAS teilten, und Polizeikräften gab es regelrechte Straßenschlachten.

Der Weg in die Unabhängigkeit

Am 19. März 1962 wurden in Évian die Unabhängigkeitsverträge unterzeichnet. Sie sahen einen sofortigen Waffenstillstand vor, die Freilassung der politischen Gefangenen, die Heimkehr der Deportierten und Emigranten, die Einführung algerischen Personals in alle Teile der Verwaltung und ein erneutes Referendum über die Unabhängigkeit. Frankreich erhielt Nutzungsrechte einiger Militärbasen und erreichte, dass Erdölfelder in der Sahara gemeinsam ausgebeutet werden sollten.

Am 5. Juli 1962 wurde Algerien unabhängig. Aber durch die vorangegangenen blutigen Monate war die Kluft zwischen Muslimen und Algerienfranzosen so stark geworden, dass etwa 900.000 »Pieds-noirs« in einer dramatischen Fluchtbewegung das Land verließen. Damit verloren etliche in Évian für die Algerienfranzosen getroffenen Vereinbarungen an Bedeutung wie die Doppelstaatsangehörigkeit, die Unantastbarkeit von Besitz wie auch das Verbot von Strafverfolgung für Handlungen vor dem Waffenstillstand.

Gerade dieser Passus hätte auch die sogenannten Harkis schützen können, die 150.000 muslimischen Hilfskräfte der französischen Armee, denen die schmutzigsten Aufgaben übertragen worden waren – etwa Folterungen ihrer Glaubensbrüder. Aber für sie bahnte sich eine Tragödie an. Weil die Accords d’Évian, die Verträge von Évian, ihren Transfer in die Metropole nicht vorgesehen hatten, fielen mehrere tausend »Harkis« Racheakten zum Opfer. Nur wenige von ihnen gelangten illegal nach Frankreich. Dort mussten sie anschließend jahrzehntelang um ihre soziale Integration kämpfen.

Die Übergangsregierung wurde von den heute weithin vergessenen Politikern Benyoucef Ben­khedda und Ferhat Abbas geführt, die in der FLN für ein Mehrparteiensystem eingetreten waren. Als am 9. September 1962 der weitgehend unbekannte Colonel Houari Boumédiène von Tunesien her mit einer Parade sowjetischer Panzer nach Algier zog, wurde deutlich, dass Algerien trotz erklärter Blockfreiheit künftig eng mit dem Ostblock zusammenarbeiten würde. Boumé­diène überließ die Präsidentschaft in der am 25. September verkündeten Demokratischen Volksrepublik Algerien zunächst dem charismatischen Ben Bella und übernahm selbst nur das Amt des Verteidigungsministers.

Während Ben Bella auf der Welle internationaler Solidarität für den algerischen Befreiungskampf zu einer Führungsfigur der Blockfreien wurde, entwickelten sich schnell starke innenpolitische Widersprüche. Die von dem ebenfalls 1956 entführten Hocine Aït Ahmed geleitete Berberbewegung kämpfte gegen den proklamierten Panarabismus und für politische und kulturelle Freiheiten in einem föderalen System. 1963 wurde in der von der größten Berbergruppe bewohnten Kabylei ein Aufstand niedergeschlagen. Und im selben Jahr kam es zu einem kriegerischen Grenzkonflikt mit Marokko, das den algerischen Unabhängigkeitskampf zuvor noch solidarisch unterstützt hatte.

Am 19. Juni 1965, drei Tage, nachdem eine Übereinkunft zwischen Ben Bella und Aït Ahmed bekannt geworden war, erfolgte der Staatsstreich Boumédiènes, der das Land bis zu seinem Tod 1979 als Einparteienstaat prägte. Aït Ahmeds sozialdemokratisch orientierte »Front Sozialistischer Kräfte« (Front des Forces Socialistes, FFS) und auch die Kommunistische Partei wurden samt ihren Jugendorganisationen unter Gewaltanwendung in den Untergrund gezwungen.

Mohammed Boudiaf, der ebenfalls ein Mehrparteiensystem anstrebte, ging ins Exil nach Marokko. Als die 1988 erkämpfte Demokratie einer radikalen islamistischen Partei 1991 den Wahlsieg ermöglichte, die Armee aber verhinderte, dass diese Partei die Regierung übernahm, kehrte Boudiaf zurück und fungierte als provisorischer Präsident, der sich um eine laizistische Ausrichtung der Demokratie bemühte. Weil er wohl auch Interessen der Armee in Frage stellte, wurde er nach wenigen Monaten von einem Angehörigen seiner Leibgarde ermordet.

Trotz der vielen dunklen Phasen, die Algerien vor und nach der Unabhängigkeit durchlebte, hat das Land – dank der immer wieder um demokratische Mitbestimmung kämpfenden Bevölkerung – bis heute das am weitesten entwickelte Sozialsystem in Afrika. Und es nimmt einen führenden Platz unter den antiimperialistischen Staaten ein.

Anmerkungen

¹ Frantz Fanon: Die Verdammten dieser Erde. Mit einem Vorwort von Jean-Paul Sartre. Aus dem Französischen von Traugott König. Nachdruck der deutschsprachigen Erstauflage von 1966, Frankfurt am Main 1969, S. 29

² Ebd., S. 27

³ Ebd., S. 27 ff.

⁴ Ebd., S. 72

⁵ Ebd., S. 40 ff.

Sabine Kebir schrieb an dieser Stelle zuletzt am 7. Oktober 2024 über Kafkas Tätigkeit in der Arbeiter-Unfall-Versicherungsanstalt für das Königreich Böhmen in Prag: »Der andere Kafka«.

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