Nur noch Notgemeinschaft
Von Kristian StemmlerWegbügeln wollte der Regierungssprecher das anhaltende Geraune über die Ampel dann doch. Steffen Hebestreit hat am Freitag in Berlin vor Journalisten erklärt, er sehe die Zukunft der Bundesregierung von SPD, FDP und Grünen nicht gefährdet. »Ich habe nicht den Eindruck, dass irgendwer dabei ist, sich in die Büsche zu schlagen«, sagte Hebestreit. Jüngster Anlass für muntere Spekulationen der Hauptstadtpresse über ein Auseinanderbrechen der Koalition war der von Kanzler Olaf Scholz (SPD) abgehaltene »Industriegipfel« am 29. Oktober ohne weitere Ministerbeteiligung. Auch die FDP-Fraktion hielt an dem Tag ihren eigenen Wirtschaftsgipfel ab. Der Regierungssprecher betonte dazu am Freitag, die getrennt abgehaltenen Gespräche von Scholz und Finanzminister Christian Lindner (FDP) stünden gar nicht in Konkurrenz zueinander, sondern seien »gutes Regierungshandeln«.
Nächster großer Streitpunkt am Kabinettstisch dürften die Verhandlungen über den Haushalt 2024 sein. Diese sollen nach bisheriger Planung bei der Bereinigungssitzung im Bundestagsausschuss am 14. November abgeschlossen werden. Das Budget soll am 29. November im Plenum abgenickt werden. Der Vorsitzende des Haushaltsausschusses, Helge Braun (CDU), äußerte gegenüber der Welt vom Donnerstag Zweifel an diesem Zeitplan. Lindner müsse dem Ausschuss jetzt sehr schnell darlegen, »wie er die Milliardenlücken im Haushalt, von denen er selber spricht, schließen will«.
Über weitere Kürzungen in den Ressorthaushalten wollen die Beteiligten allerdings nicht öffentlich streiten. Statt dessen wird fleißig an der Außendarstellung gearbeitet. So sprach sich Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) in einem am Freitag veröffentlichten Gastbeitrag in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) für einen Verbleib in der Ampelkoalition aus. Auch FDP-Chef Christian Lindner übte im Spiegel zwar harte Kritik an der Ampel, will ein Ende der Koalition aber immerhin nicht »mit Vorsatz« herbeiführen. Machtpolitisch dürfte Lindners Partei an vorgezogenen Neuwahlen kein Interesse haben. In den vergangenen Wochen war die FDP in Umfragen auf Zustimmungswerte von vier Prozent abgerutscht, so am Mittwoch beim Forsa-Institut und am Donnerstag bei den von Infratest Dimap veröffentlichten Erhebungen.
Wissing gab sich angesichts dieser Ausgangslage in der FAZ staatstragend. Eine vorzeitige Auflösung der Koalition wäre »respektlos« vor dem Souverän. Es seien die Bürger, »die über die Möglichkeiten der Mehrheitsbildung entscheiden, nicht Politiker oder Parteitage«, behauptete der Verkehrsminister. Koalitionen seien nicht einfach, ebenso wie Regieren und Demokratie nicht einfach seien. Die aktuelle Situation erfordere von den Parteien, sich nicht nur darüber zu definieren, welche Positionen der anderen sie ablehnten, schreibt Wissing.
Auch für den Finanzminister war das Image der Koalition zunächst wichtiger als Milliardenlücken im Bundeshaushalt. Lindner kritisierte gegenüber dem Spiegel, die Regierung präsentiere sich nicht gut und auch die »nicht geklärte Grundrichtung« entspreche nicht seinem »Selbstanspruch an Regierungshandeln«. Es gelinge der Koalition »in zunehmendem Maße nicht«, sich auf etwas zu verständigen, es öffentlich zu vertreten und umzusetzen. In welchem Maß das an Christian Lindner liegt, ließ der Minister offen. Deutschland brauche »eine Richtungsentscheidung«, forderte er. Die anstehenden Haushaltsverhandlungen seien entscheidend, erklärte Lindner. Eine Regierung brauche einen Haushalt, »sonst ist sie keine Regierung mehr«.
SPD und Bündnis 90/Die Grünen sind ebenso wenig an vorgezogenen Wahlen interessiert. In einer Umfrage für den ARD-»Deutschlandtrend« liegen die Sozialdemokraten im Vergleich zu Anfang Oktober unverändert bei schwachen 16 Prozent, die Grünen landen bei elf Prozent. Die CDU legt dagegen um drei Prozentpunkte zu und erzielt damit 34 Prozent Zustimmung. Die AfD verharrt bei 17 Prozent, das BSW verliert zwei Prozentpunkte und erreicht sechs Prozent. 54 Prozent der Befragten wünschen sich baldige Neuwahlen, 41 Prozent votieren dafür, dass die Ampel bis zum regulären Wahltermin am 28. September 2025 weitermacht.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Rainer Erich K. aus Potsdam (2. November 2024 um 06:52 Uhr)Gutes Regierungshandeln? Der Kanzler-Sprecher tut das, wofür er bezahlt wird: das desolate Bild der Ampel schönreden. Ein Wirtschaftsgipfel der SPD und einer der FDP, obwohl sie für dieses Ressort gar nicht zuständig sind, und das Fehlen des Ressortministers zeigen ein Bild der Verwüstung einer Koalition, die nur noch auf dem Papier existiert. Die Grünen scheinen überhaupt keinen Plan zu haben, wie sie aus dem selbstverschuldeten Wirtschaftsabstieg herauszukommen gedenken. Dürfte auch schwierig sein, wenn man einerseits verbohrter Transatlantiker ist und andererseits genau hier die Probleme der deutschen Wirtschaft zu finden sind. Man hat sich völlig realitätsfern vorgestellt, die russischen Energieträger eins zu eins durch US-amerikanisches Frackinggas ersetzen zu können. Dass dies nicht funktionieren würde, hätte den grünen »Wirtschaftsexperten« jeder erläutern können, der in der Lage ist, eins und eins zusammenzurechnen. Und so kam, was kommen musste. Die deutsche Wirtschaft leidet unter einem enormen Kostenanstieg, insbesondere bei der benötigten Energie, und ist weit entfernt von Energiepreisen, von denen die US-Wirtschaft profitiert. Die Transatlantiker in der deutschen Regierung haben ganze »Arbeit« geleistet.
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