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Aus: Ausgabe vom 02.11.2024, Seite 10 / Feuilleton
Kino

Grenzen des Traums

Sexarbeit als launige Farce: Sean Bakers Cannes-Gewinnerfilm »Anora«
Von Holger Römers
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Geld verlieren, Geld gewinnen: Ani (Mikey Madison) und Iwan (Mark Eidelschtein)

Es versteht sich von selbst, dass die Ehe, welche die Hauptfiguren von »Anora« während eines Ausflugs nach Las Vegas schließen, nicht lange halten wird. Die unverhoffte Braut Ani (Mikey Madison) ist eine toughe New Yorker Sexarbeiterin, bis zum spontanen Besuch einer kommerziellen Hochzeitskapelle hat sie sich jede Minute des Zusammenseins mit dem künftigen Ehemann teuer bezahlen lassen. Bräutigam Iwan (Mark Eidelschtein) ist ein in jeder Hinsicht kindischer russischer Milliardärssohn, der beim Heiraten wie bei all seinen anderen leichtsinnigen Unternehmungen einer berauschten Laune folgt. Sobald seine Eltern, die in der fernen Heimat lange unsichtbar bleiben, die Neuigkeit aus der dortigen Klatschpresse erfahren, rufen sie den Priester Toros (Karen Karaguljan) auf den Plan, der den nichtsnutzigen Filius im pompösen Brooklyner Feriendomizil der Familie beaufsichtigen sollte. Kaum sind die frisch Vermählten zurück, taucht Toros mit zwei Handlangern (Jura Borissow, Watsche Towmasjan) in besagter Villa auf, um resolut auf die nächstmögliche Annullierung der Ehe zu drängen.

Wenn darauf in einer langen Sequenz neben einem Nasenbein teures Mobiliar zu Bruch geht, schlägt Sean Baker einen burlesken Ton an, den man aus dem Kino des 1971 geborenen Filmemachers bisher nicht gewohnt war. Ebenso ungewohnt wirkt die leise Melodramatik, in der der sparsame Plot schließlich mündet und deren Nüchternheit dadurch betont wird, dass der unmittelbar folgende Abspann musiklos bleibt.

Allerdings setzt der US-Amerikaner, der zu seinem achten Spielfilm auch das Drehbuch verfasst hat, hier konsequent die Auseinandersetzung mit Themen fort, die ihn seit 2012 beschäftigen, als er mit »Starlet« seinen internationalen Durchbruch erzielte. Baker knüpft an die in jenem Film begonnene, mit »­Tangerine L. A.« (2015) und »Red Rocket« (2021) fortgesetzte, betont unaufgeregte Darstellung von Sexarbeit an, deren Entstigmatisierung er auch in Interviews regelmäßig befürwortet. Bakers Abbildung des Metiers wirft freilich in »Anora« erneut die Frage des Realitätsanspruches auf: Zwar gibt Ani in einem anfänglichen Dialog mit einer Kollegin zu Protokoll, dass sich unter ihren Kunden auch furchterregende Typen fänden. Und ein Wortwechsel mit dem Betreiber des Manhattaner Nachtklubs, in dem die junge Frau arbeitet, stellt bald klar, dass ihr eine Sozialversicherung fehlt. Doch Bakers Inszenierung, deren unbefangene Vulgarität sich früh in Großaufnahmen wackelnder Hintern ankündigt, weckt den Eindruck, dass mit Lapdances und gelegentlicher Prostitution so umstandslos viel Geld zu verdienen wäre, dass kein vernünftiger Mensch anders seinen Lebensunterhalt bestreiten wollte.

Je größer die Zweifel am Wirklichkeitsgehalt ihrer Abbildung werden, desto mehr bietet die kleinunternehmerische Sexarbeit sich hier aber als Metapher auf eine (neoliberale) Lebenseinstellung an, die in den USA unter dem mehrdeutigen Begriff des »Hustling« mitunter zur Nationaltugend verklärt wird. Jedenfalls betont Bakers Figurenzeichnung, dass die Protagonistin den rein instrumentellen Bezug auf das eigene Selbst und auf die Mitmenschen so komplett verinnerlicht hat, dass sie gar nicht mehr jenes äußerlichen Statements bedarf, das eine Kollegin sich in Gestalt von Dollar-Zeichen auf die Fingernägel gepinselt hat. So stellt sich unter den Vorzeichen einer zunehmend launigen Farce die reizvolle Frage, ob jemand wie Ani überhaupt noch etwas anderes erträumen kann.

Dabei geht es selbstverständlich nicht um Liebe, sondern um ein Schlaraffenland, in das ein schwerreicher Kindskopf hypothetisch den Weg ebnen könnte. Durchaus folgerichtig ist ein Großteil der Handlung von »Anora« an Orten angesiedelt, die dem Lustprinzip zu huldigen vorgeben: Dazu gehört neben den diversen Amüsierbetrieben von Las Vegas sowie dem erwähnten Manhattaner Nachtklub auch ein mit knallbunten Bonbons angefüllter Süßigkeitenladen, in dem zwei Freunde Iwans jobben. Er befindet sich offenbar auf Coney Island, in dessen Nähe überproportional viele frühere Emigranten aus der Sowjetunion leben, zu denen wiederum auch die meisten der hier auftretenden Figuren gehören. Wenn Drew Daniels’ Kamera den dortigen Vergnügungspark en passant ins Bild rückt, bleiben die Karussells allerdings außer Betrieb – was in diesem Cannes-Gewinnerfilm ebenso bezeichnend wirkt wie das trübe Herbstlicht, das die meisten Außenaufnahmen prägt.

»Anora«, Regie: Sean Baker, USA 2024, 139 Min., bereits angelaufen

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