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Aus: Ausgabe vom 02.11.2024, Seite 3 (Beilage) / Wochenendbeilage

Liebesehe und Welthandel

Friedrich Engels 1884: Als das Bürgertum aufkam, blieb die Ehe Klassenehe. Proklamiert wurde aber das Menschenrecht auf Wahlfreiheit
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Formal sind Mann und Frau im 17. Jahrhundert in der Bürgerehe gleich: Die Altvorderen beraten die finanziellen Details des Heiratskontrakts, die Liebenden dürfen Händchen halten

Vor dem Mittelalter kann von individueller Geschlechtsliebe nicht die Rede sein. Dass persönliche Schönheit, vertrauter Umgang, gleichgestimmte Neigungen etc. bei Leuten verschiednen Geschlechts das Verlangen zu geschlechtlichem Verkehr erweckt haben, dass es den Männern wie den Frauen nicht total gleichgültig war, mit wem sie in dies intimste Verhältnis traten, das ist selbstredend. Aber von da bis zu unsrer Geschlechtsliebe ist noch unendlich weit. Im ganzen Altertum werden die Ehen von den Eltern für die Beteiligten geschlossen, und diese finden sich ruhig hinein. Das bisschen eheliche Liebe, das das Altertum kennt, ist nicht etwa subjektive Neigung, sondern objektive Pflicht, nicht Grund, sondern Korrelat der Ehe. Liebesverhältnisse im modernen Sinne kommen im Altertum nur vor außerhalb der offiziellen Gesellschaft. Die Hirten, deren Liebesfreuden und Leiden Theokrit und Moschos uns besingen, der Daphnis und die Chloë des Longos, sind lauter Sklaven, die keinen Teil haben am Staat, der Lebenssphäre des freien Bürgers. Außer bei Sklaven aber finden wir Liebeshändel nur als Zersetzungsprodukte der untergehenden Alten Welt und mit Frauen, die ebenfalls außerhalb der offiziellen Gesellschaft stehn, mit Hetären, also mit Fremden oder Freigelassenen: in Athen vom Vorabend seines Untergangs an, in Rom zur Kaiserzeit. Kamen Liebeshändel wirklich vor zwischen freien Bürgern und Bürgerinnen, so nur von wegen des Ehebruchs. Und dem klassischen Liebesdichter des Altertums, dem alten Anakreon, war die Geschlechtsliebe, in unserm Sinne, so sehr Wurst, dass ihm sogar das Geschlecht des geliebten Wesens Wurst war. (…)

Und als mit dem Überwiegen des Privateigentums über das Gemeineigentum und mit dem Interesse an der Vererbung das Vaterrecht und die Monogamie zur Herrschaft kamen, da wurde der Eheschluss erst recht abhängig von ökonomischen Rücksichten. (…) Dass die gegenseitige Neigung der Beteiligten der alles andre überwiegende Grund des Eheschlusses sein sollte, das war in der Praxis der herrschenden Klassen unerhört geblieben von Anfang an; so etwas kam vor höchstens in der Romantik oder – bei den unterdrückten Klassen, die nicht zählten.

Das war der Zustand, den die kapitalistische Produktion vorfand, als sie, seit dem Zeitalter der geographischen Entdeckungen, durch den Welthandel und die Manufaktur sich anschickte zur Weltherrschaft. Man sollte meinen, dieser Modus der Eheschließung habe ihr ausnehmend gepasst, und so war es auch. Und dennoch – die Ironie der Weltgeschichte ist unergründlich – war sie es, die die entscheidende Bresche in ihn legen musste. Indem sie alle Dinge in Waren verwandelte, löste sie alle überkommenen, altherkömmlichen Verhältnisse auf, setzte an die Stelle der ererbten Sitte, des historischen Rechts, den Kauf und Verkauf, den »freien« Vertrag; wie denn der englische Jurist H. S. Maine glaubte eine ungeheure Entdeckung gemacht zu haben, als er sagte, unser ganzer Fortschritt gegen frühere Epochen bestehe darin, dass wir gekommen seien from status to contract, von erblich überkommenen zu freiwillig kontrahierten Zuständen, was freilich schon im »Kommunistischen Manifest« stand, soweit es richtig ist. (…)

Die Welt war mit einem Schlage fast zehnmal größer geworden; statt eines Quadranten einer Halbkugel lag jetzt die ganze Erdkugel vor dem Blick der Westeuropäer, die sich beeilten, die andern sieben Quadranten in Besitz zu nehmen. Und wie die alten engen Heimatsschranken, so fielen auch die tausendjährigen Schranken der mittelalterlichen vorgeschriebnen Denkweise. Dem äußern wie dem innern Auge des Menschen öffnete sich ein unendlich weiterer Horizont. Was galt die Wohlmeinung der Ehrbarkeit, was das durch Geschlechter vererbte ehrsame Zunftprivilegium dem jungen Mann, den die Reichtümer Indiens, die Gold- und Silberminen Mexikos und Potosis anlockten. Es war die fahrende Ritterzeit des Bürgertums; sie hatte auch ihre Romantik und ihre Liebesschwärmerei, aber auf bürgerlichem Fuß und mit in letzter Instanz bürgerlichen Zielen.

So geschah es, dass das aufkommende Bürgertum, namentlich der protestantischen Länder, wo am meisten am Bestehenden gerüttelt wurde, auch für die Ehe die Freiheit der Vertragschließung mehr und mehr anerkannte und in der oben geschilderten Weise durchführte. Die Ehe blieb Klassenehe, aber innerhalb der Klasse wurde den Beteiligten ein gewisser Grad von Freiheit der Wahl zugestanden. Und auf dem Papier, in der moralischen Theorie wie in der poetischen Schilderung, stand nichts unerschütterlicher fest, als dass jede Ehe unsittlich, die nicht auf gegenseitiger Geschlechtsliebe und wirklich freier Übereinkunft der Gatten beruht. Kurzum, die Liebesehe war proklamiert als Menschenrecht, und zwar nicht nur als droit de l’homme, sondern auch ausnahmsweise als droit de la femme.

Friedrich Engels: Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats. Hottingen-Zürich 1884. Hier zitiert nach: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke (MEW), Band 21. Dietz-Verlag, Berlin 1962, Seiten 80–82

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