Kriegstreibende Kraft
Von Arnold SchölzelAm 14. Oktober erschien unter dem Titel »Der Westen im Niedergang. Ökonomie, Kultur und Religion im freien Fall« die deutsche Ausgabe eines neuen Buches des französischen Anthropologen und Historikers Emmanuel Todd – Anlass für die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) zu einem am Donnerstag in ihrer internationalen Ausgabe veröffentlichten Interview. Der Frager Roman Bucheli agiert unbedarft bis inquisitorisch. Denn Todd hat zu den Ursachen und zum Verlauf des Ukraine-Kriegs andere Ansichten als die NZZ, die NATO-Propaganda insgesamt und – Gipfel der Unverschämtheit – verallgemeinert die auch noch.
Er beginnt mit dem kühlen Satz: »Die Russen werden diesen Krieg gewinnen.« Die Begründung ist ebenso schlicht wie entwaffnend, kurzgefasst: weil der Westen verblödet ist. Wörtlich: »Die europäischen Politiker und Denker sind nicht mehr in der Lage, einen Krieg zu führen.« Bucheli darauf: »Es gibt einen breiten Konsens darüber, wer in diesem Krieg der Aggressor ist.« Dass sich der Kriegspakt NATO im Kriegsfall einigermaßen einig ist, gilt ihm als Argument. Todd: »Putin führt einen defensiven Angriffskrieg. Natürlich missbillige ich den Krieg. Nur waren es hier die Amerikaner, die sich der ukrainischen Armee angenommen haben. Die Ukraine wurde de facto in die NATO integriert.« Das sei zusammen mit Großbritannien »mit einem offensiven Ziel, einem Projekt zur Rückeroberung des Donbass«, geschehen. Er, Todd, sei Historiker und versuche »einfach zu verstehen, was passiert ist« – ähnlich wie die Kriege Cäsars.
Da Tatsachen in der Kriegs-NZZ nicht überschätzt werden, wirft das den Interviewer fast aus der Bahn. Er findet endlich »Kassandra« als Etikett für Todd, denn ranziger Kulturpessimismus und »Untergang der Demokratie«-Geblöke ist Teil dessen, was Bucheli für Konsens hält, also verkraftbar. Aber Todd will nicht in die Schublade. Er interessiere sich »für die ökonomischen Kräfte, für Religion und Bildung«, um die Gegenwart »und ein winziges Stück der Zukunft zu erkennen«.
Erkenntnis ist allerdings westlich des Dnipro gegenwärtig des Teufels, also von Putin, und Todd für Großmedien mit solchem Ansinnen vogelfrei. Auf die Pennälerfrage, warum er immer wieder von ganz unterschiedlichen Seiten angegriffen werde, stößt Todd grundsätzlich Bescheid: »Ich bin Historiker bis auf die Knochen. In einer Gesellschaft, die kein historisches Bewusstsein mehr hat, muss ich zwangsläufig in Konflikt geraten mit den Intellektuellen der Gegenwart.« Es ist selbstverständlich reine Anmaßung, wenn Todd die Gegenwart von historischen Analphabeten gestaltet sieht, er hat lediglich recht. Beleg: der Fortgang der NZZ-Befragung. Bucheli macht den Affen, der den Zoologen vernimmt: »Sie werden verachtet. Aber verachten Sie nicht auch Ihrerseits die Medien?« Todd: »Absolut, ich habe mir diese Geringschätzung in langer Erfahrung angeeignet.« Er habe sogar eine eigene »Theorie über den Untergang des Journalismus«. Wie die laute? Todd: Es habe anfänglich »ein pluralistisches System mit vielfältigen Positionen« gegeben, aber heute seien »die Zeitungen austauschbar«: »Der Journalismus trägt sehr stark zu der Unfähigkeit im Westen bei, den Ukraine-Krieg nüchtern zu betrachten.« Journalisten ohne Geschichtsbewusstsein seien »sich ähnlich geworden mit ihren wenigen schlichten Ideen«, der Journalismus »eine kriegstreibende Kraft«.
Die Sinnlosigkeit der beruflichen Existenz des Interviewers ist so hinreichend aufgezeigt. Der stellt dennoch weiter Fragen nach dem, was er für Konsens hält. Todds Höflichkeit reicht für ein paar begriffliche Ohrfeigen – so nennt er die russische Gesellschaft »autoritäre Demokratie«, die im Westen »oligarchische« –, der Rest ist NATO-konformes NZZ-Gestammel.
Todd beginnt mit dem kühlen Satz: »Die Russen werden diesen Krieg gewinnen.« Die Begründung ist ebenso schlicht wie entwaffnend, kurzgefasst: weil der Westen verblödet ist.
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