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Aus: Ausgabe vom 02.11.2024, Seite 6 (Beilage) / Wochenendbeilage
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Unter Genossen

Totenbesuch auf dem Friedhof von Buñol
Von Erich Hackl

Von Buñol, das außerhalb der Region Valencia, wenn überhaupt, nur wegen der Tomatina bekannt ist, eines absonderlichen Spektakels, bei dem an jedem letzten Mittwoch im August Zehntausende Touristen die Ortschaft stürmen, um sich eine Stunde lang in 125 Tonnen überreifer Tomaten zu wälzen – von Buñols wahren Attraktionen hat mir als erster der Schriftsteller Alfons Cervera erzählt. Alfons war um das Jahr 1967, noch tief in der Franco-Zeit, als Junglehrer dorthin versetzt worden und hatte zu seinem Erstaunen eine kommunistische Enklave vorgefunden, deren Bewohner Vornamen wie Germinal, Giordano, Darwin oder Leningrado trugen, abends heimlich, aber in Gesellschaft La Pirenaica hörten, den Geheimsender der Kommunistischen Partei, und nach Konzerten der beiden miteinander rivalisierenden Symphonieorchester, La Artística und La Armónica, die »Hymne an Buñol« anstimmten, in der Freiheit, Fortschritt und Demokratie, Brüderlichkeit, Liebe, Frieden sowie, zum besonderen Ärger der Obrigkeit, die Treue zur Republik beschworen wurden. Unter der Woche trainierte Alfons mit der lokalen Fußballmannschaft, dem C. D. Buñol, der von Chimo (d. i. Joaquín) Masmano Ibáñez gecoacht wurde. Masmano war von Beruf Bäcker, und in der Backstube der Familie hatte ab ihrem zwanzigsten Lebensjahr auch seine Mutter Josefina gearbeitet, die bei den Parlamentswahlen von 1933 als erste Frau für die Kommunistische Partei Spaniens kandidiert hatte und drei Jahre später, ebenfalls als erste Frau, in den Gemeinderat der Ortschaft gewählt worden war.

Nach dem Ende der Diktatur, als Alfons längst in der knapp vierzig Kilometer entfernten Landeshauptstadt Valencia arbeitete, seinen Lehrerberuf aufgegeben und die Fußballschuhe an den Haken gehängt hatte, wurde Masmano bei den ersten demokratischen Kommunalwahlen 1979 mit überwältigender Mehrheit zum Bürgermeister der 10.000-Einwohner-Gemeinde bestimmt, konnte die Amtszeit krankheitshalber jedoch nicht beenden. Ihm folgte sein Sohn und Namensvetter Chimo Masmano Palmer nach, der 1983 als Bürgermeister bestätigt wurde und als Listenführer der Vereinigten Linken, in der die Kommunistische Partei bis heute die stärkste Kraft ist, in vier weiteren Amtsperioden als Bürgermeister fungierte. Mit seiner Parteigenossin Minerva Gómez Perelló wurde 1999 erstmals in Buñol eine Frau zum Stadtoberhaupt gekürt, mit Rafael Pérez Gil stellte die Vereinigte Linke in den Jahren 2015 bis 2017 zum bisher letzten Mal den Bürgermeister. Chimo Masmano (der Jüngere) ist nach wie vor politisch aktiv und hat zahlreiche Projekte realisiert, mit denen die Erinnerung an die spanische Republik und den Kampf gegen das Franco-Regime wachgehalten wird: Ausstellungen, Straßenbenennungen, Gedenkfeiern. Vor fünf Jahren hat er einen Prachtband über »Comunistas en Buñol« herausgegeben, eine penibel rekonstruierte und reich bebilderte Geschichte der Ortsgruppe der Kommunistischen Partei seit ihrer Gründung 1921.

Die jahrzehntelange Hegemonie der Kommunisten, die in Buñol schon 1936, als sie landesweit fast bedeutungslos waren, den Bürgermeister gestellt hatten, verdankt sich nicht nur ihrer Integrität, Disziplin und Verbundenheit über mehrere Generationen hinweg, sondern erklärt sich auch aus den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen: Anders als die Gemeinden im Umland, die nach wie vor agrarisch geprägt sind, war Buñol schon seit Ende des 18. Jahrhunderts, als die erste von sieben Papiermühlen ihren Betrieb aufnahm, ein Industriestandort, bedeutend vor allem wegen der großen Zementfabrik, die 1917 gegründet wurde und deren letzte noch verbliebene Produktionsanlage seit 2021 dem türkischen Multi Çimsa gehört. Die rasante ökonomische Entwicklung, zu der auch der frühe Anschluss an das Eisenbahnnetz und die Lage an der Fernstraße nach Madrid beitrugen, führte nicht nur zur Ausbildung einer schlagkräftigen Arbeiterbewegung, sondern begünstigte durch den Zuzug von Ingenieuren und Gewerbetreibenden das Entstehen eines progressiven, antiklerikalen Bürgertums, bei dem die Freimaurerei viele Anhänger fand.

Als 1886 der jetzige Friedhof angelegt wurde (der alte war aufgrund der Gelbfieber-, Pocken- und Choleraepidemien zu klein geworden), beschloss der damalige Bürgermeister Joaquín Ballester, neben dem katholischen einen zivilen, säkularen Sektor zu errichten. Wie das Emblem über dem Eingangstor (ein Dreieck, darin Zirkel und Winkelmaß) verrät, waren seine Grabnischen und Erdgräber damals ausschließlich für die Freimaurer bestimmt. Erst ab 1914 fanden dort auch Sozialisten, Anarchosyndikalisten und – entsprechend dem politischen Kräfteverhältnis – immer mehr Kommunisten ihre letzte Ruhe. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass deren Geschichte auf dem Friedhof von Buñol gegenwärtiger ist als irgendwo sonst. Er liegt etwas außerhalb der Ortschaft, an einem sanften Hügelzug inmitten eines Zypressenhains, und es lohnt sich, ihn zu Allerheiligen oder Allerseelen gemeinsam mit Chimo und Alfons zu besichtigen, der immer wieder über Verfolgung und Widerstand im gebirgigen Hinterland Valencias geschrieben hat.

Gleich hinter dem Tor, am Eingang zum zivilen Sektor, finden sich ein übermannshoher Monolith mit der Inschrift »Die Zukunft ist ein Kind der Vergangenheit« und dem eingravierten Auge der Vorsehung »zur Erinnerung an die Freimaurer und Freimaurerinnen, die für Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit kämpften«, und neben einem Olivenbaum, der als »Hommage an das historische Gedächtnis« gepflanzt wurde, eine Tafel mit den Namen von dreiundsiebzig »Opfern des Spanischen Bürgerkrieges«, zu denen auch diejenigen Männer und Frauen aus Buñol gehören, die nach 1939 in der Guerrilla gegen das Franco-Regime, als Résistancekämpfer in Frankreich und als »Rotspanier« in deutschen Konzentrationslagern (drei von ihnen in Mauthausen) umgekommen sind.

Beeindruckender als diese an sich schon außergewöhnlichen kollektiven Erinnerungsmale sind freilich die individuellen Grabplatten aus schwarzem Granit oder Marmor, die in die Hunderte gehen und längst auch den christlichen Sektor prägen. Sie sind mit Hammer und Sichel, den Initialen der Kommunistischen Partei PCE, der sozialistischen Faust, die eine Rose umklammert, oder der Trikolore der Republik geschmückt und tragen Inschriften, mit denen die Angehörigen Charakter, Beruf und Berufung der Verstorbenen benennen. Sie gedenken ihrer aber nicht nur in Worten, sondern auch in originellen, oft amüsanten Grafiken, Reliefs oder Fotos von Gitarren, Posaunen, Stricknadeln mit Wollknäueln, Weinstöcken, Backöfen, Imkerschleudern, Bienenkästen, Schafen, Fallen, Flinten und Jagdhunden, die Hasen apportieren. Solche Abbildungen finden sich auf den meisten Nischengräbern, auch auf denen ohne politische oder weltanschauliche Symbolik, wie bei der Bosnierin Anðelka Jeremić, die Anfang der neunziger Jahre in Buñol Zuflucht fand, aber ihre Heimat – das Wappen von Tuzla und die Brücke über die Neretva verweisen darauf – nicht vergessen konnte. Volimo te, steht unter ihrem Namen – und das verstehen auch die Einheimischen: »Wir lieben dich.«

Auf den Grabstein von Chimos Vater, dem Fußballtrainer, haben seine Angehörigen unter den Symbolen der Kommunistischen Partei einen Fußball samt Stollenschuh sowie Ähre und Bäckerschaufel prägen lassen. Sein Genosse Benjamín Martínez Gil wird »wegen deiner Weltsicht« gelobt: »Du warst ein Verfechter des dialektischen Materialismus«, und vom einzigen Sohn des Ehepaars Corachán Atienza, Enrique, der nur vierundvierzig Jahre alt wurde, ist zu erfahren, dass er »weit in der Welt herumkam und dabei Liebe und Güte verströmte«. Enriques Vater war ein Anführer der kommunistischen Agrupación Guerrillera del Levante y Aragón gewesen, die nach der Niederlage der Republik den Kampf gegen die Guardia Civil und andere bewaffnete Einheiten des Regimes fortgesetzt hatte. Kaum war es ihm gelungen, sich bis Frankreich durchzuschlagen, wurde er 1950, nach dem Verbot der spanischen Partei durch die französischen Behörden, nach Algerien deportiert. Im Jahr darauf gelangte er über Polen in die Tschechoslowakei, wo er die spanische Parteiorganisation in Ústí nad Labem (Aussig) leitete. Es dauerte Jahre, bis ihm Frau und Kind dorthin folgen konnten. Vermutlich ist die Familie erst nach dem Amnestiegesetz 1977 nach ­Buñol zurückgekehrt.

Nicht weit von ihnen ruhen die sterblichen Überreste von Peregrina Lambies Galarza und Sinforiano Ortiz Navarro. Der Spruch, mit dem die Kinder und Enkelkinder ihr Wesen erfasst haben, beginnt pathetisch und klingt lapidar aus: »Honradez, justicia y nobleza es un decir«, auf deutsch: »Rechtschaffenheit, Gerechtigkeit und Edelmut, wie man so sagt«. Auf der Grabplatte ist der fünfzackige Stern mit Hammer und Sichel vom Dreieck der Freimaurer umschlossen. Dieser Kombination zweier Weltanschauungen begegnet man nicht selten. Sinforianos Eltern Josefa und Felipe, die in der Nischenwand direkt unter ihm begraben liegen, waren – das Dreieck aus Schaffenskraft, Wachstum und Harmonie besagt es – noch ausschließlich Freimaurer, keine Marxisten gewesen. Für das Ehepaar Juan Manzano Carrasco und Francisca Vallés Galarza sowie deren Tochter Luisa hat sich der Steinmetz besonders ins Zeug gelegt; hier ist in liebevoller Detailansicht die von ihnen geführte Venta Mina zu sehen, eine Einkehr für Reisende an der Landstraße nach dem Winzerort Requena, in der Pablo Iglesias – nicht der ehemalige Podemos-Politiker, sondern der Gründer der Sozialistischen Arbeiterpartei und der Allgemeinen Arbeiterunion – in der Illegalität Zuflucht gefunden hatte.

Die erste Kommunistin, die – notgedrungen ohne kommunistische Symbolik – im katholischen Teil des Friedhofs bestattet wurde, war Chimos Großmutter Josefina. Sie starb 1953, als Witwe, weil ihr Mann Joaquín Masmano im September 1936 zusammen mit neun anderen Kommunisten in Talavera de la Reina erschossen worden war. Ihre Leichen wurden in den Río Tajo geworfen und nie gefunden. Josefa selbst wurde nach der Niederlage der Republik zu dreißig Jahren Haft verurteilt, aber nach zwei Jahren auf Bewährung entlassen. Wahrscheinlich hatte sie bei den Aufständischen prominente Fürsprecher, die ihr bescheinigten, unter der Volksfrontregierung niemanden angeschwärzt zu haben. Dass sie vier kleine Kinder hatte, wäre kein Grund für eine Begnadigung, eher für eine Strafverschärfung gewesen.

Nicht besser als ihrem Mann erging es Vicente Galarza Santana, der Anfang August 1947 neunundzwanzigjährig auf dem Friedhof von Paterna hingerichtet wurde. Im Jahr davor war er im Auftrag der Kommunistischen Partei aus Frankreich zurückgekehrt, um die Leitung der regionalen Guerrillagruppe zu übernehmen. Auch diejenigen, die wie Artemio Galarza Hernández die Freischärler versorgten, sind auf dem Friedhof begraben. Im Nischengrab vereint sind außerdem die – nennen wir sie: im Glauben gespaltenen Paare. Zum Beispiel Joaquín Mas Ponce und Manuela Rubio Núñez: auf seiner Seite Hammer und Sichel, zwischen ihm und Manuela drei Rosen mit Schleife. Dass er Atheist und sie gottgläubig war, erkennt man am jeweiligen Sterbedatum: Es ist bei Manuela mit dem Kreuzzeichen, im Fall Joaquín mit einem spitzwinkligen Dreieck mit der kurzen Seite nach oben bezeichnet.

Die bekennenden Sozialisten sind, verglichen mit den Freimaurern und Kommunisten, arg in der Minderzahl. Aber ihre Grabsteine sind eindrucksvoll gestaltet, wie bei Remedios Varas Porteros und Jaime Rodríguez Lisarde. Jaime war Unteroffizier der Republikanischen Volksarmee und nach der Niederlage zur Fahndung ausgeschrieben. Über seine Jahre in der Verbannung hat er ein Buch veröffentlicht: »Mi Arco Iris. Guerra civil y exilio« (1979), in den Stein sein holpriges Vermächtnis hauen lassen: »Liebe, Literatur und Dichtung, das ist es, was ich in meinem bescheidenen Universum hinterließ und so sehr liebte.« Dichtung muss auch die Leidenschaft von Luis García López und Emilia Ruiz Miguel gewesen sein, wenn man das detailgetreu eingravierte Buch und die auf ihm plazierte Rose richtig deutet. Nicht einmal ein Lesezeichen wurde vergessen.

Ich könnte nicht sagen, beim Rundgang durch den Friedhof Wehmut empfunden zu haben. Jedenfalls nicht beim Anblick der politischen Symbole. Die vielen Grafiken und Ornamente verströmen in ihrer Vielfalt Heiterkeit und Humor. Wenn überhaupt, dann sind es die Versprechen, Schwüre und lobenden Worte der Angehörigen, die einem in ihrer Schlichtheit nahegehen. Bei María Navarro Pardo etwa: »Du warst jemand ganz besonderer, wir werden dich nie vergessen.« Bei Marconi Sinforiano Ortiz Lambies: »Der beste Ehemann, Vater, Großvater und Urgroßvater, immer in unserem Herzen.« Rafael Escorihuela Gómez: »Rafael, du wirst immer die Liebe meines Lebens sein. Deine Frau.« Oder Mariana Tello Gómez: »Dass du den Frieden und die Liebe finden magst, die du verdienst.« Da schmerzt es beinahe, dass an Álida Carrascosa Villanova nur die kommunistischen Symbole erinnern. War Álida ein Einzelkind, die letzte der Familie, oder war sie der Ansicht, dass Hammer und Sichel sowie die Initialen der Partei ausreichten, ihr neunundachtzigjähriges Leben zu beschreiben?

Im vergangenen Jahr, 2023, hat Buñol dreimal gewählt. Das Parlament in Madrid, das Autonomieparlament in Valencia und den Gemeinderat. Bei den ersten beiden Wahlgängen stimmten die Wahlberechtigten mehrheitlich für linke Parteien, aber auf lokaler Ebene wurde der konservative Partido Popular mit Abstand stimmenstärkste Partei. Seither hat die Ortschaft, die dieser Tage wie die gesamte Region von einer Unwetterkatastrophe erfasst wurde, zum ersten Mal seit Menschengedenken eine rechte Bürgermeisterin. Daran sind laut Chimo Masmano die Zwistigkeiten innerhalb der Linken schuld, die sich mit vier Listen gegenseitig befehdet hatten. Gut, dass wenigstens der Friedhof fest in kommunistischer Hand geblieben ist. Die Rückeroberung des Rathauses würde ich von hier aus starten, mit einem Zug liebenswerter Skelette hinunter in die Ortschaft, die den Menschen klarmachen, wofür es sich zu leben und zu sterben lohnt. Wenn das nichts hilft, bleibt einem immer noch die Möglichkeit, sich in ein Nischengrab zurückzuziehen; ein leeres habe ich schon entdeckt, in der dritten Etage und in bester Lage. Unter mir liegen Álida Villanova Corachán und Anacleto Carrascosa Marzo, die Eltern der anderen Álida, der einsamen.

Erich Hackl wurde 1954 in Steyr (Oberösterreich) geboren. Er arbeitet seit 1983 als Übersetzer, Herausgeber und freier Schriftsteller. Zuletzt schrieb er an dieser Stelle am 6. Januar 2024 über die Geschichte der antifaschistischen steirischen Künstlergruppe »Die Prenninger«

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