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Aus: Ausgabe vom 04.11.2024, Seite 3 / Schwerpunkt
US-Wahlen

Too close to call

Einen Tag vor der US-Wahl scheint alles offen. Wirtschaft, Kampf der Kulturen, fragile Arithmetik
Von Felix Bartels
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Bundesstaat auf der Rasierklinge: In wenigen Wahllokalen entscheidet sich der Ausgang für das ganze Land (Detroit, Michigan, 28.10.2024)

In den Vereinigten Staaten werden Wahlen in der Mitte gewonnen. Das gilt geographisch, und es gilt politisch. Gerade die buchstäbliche Zerrissenheit des Landes in ein unverrückbar rotes und ein unverbesserlich blaues Amerika – die mehr als politisch, vielmehr schon Ausdruck zweier sich kaum noch berührender Kulturen ist – macht die schwankende Masse der Wähler im Wahlkampf so wichtig. Jene Unentschlossenen, die man gewinnen muss, finden sich vor allem in mittelständischen Milieus, wo Politik weniger um fundamental Weltanschauliches kreist. Gewiss geht es auch dort am Küchentisch, vorm Tresen oder nach dem Gottesdienst hin und wieder um Geld für die Ukraine, das Recht auf Abtreibung, bibeltreuen Lebenswandel, Bürgerrechte, Tradition und Diversity, den Wahnsinn in Nahost, den Status des Supreme Courts, die Reformierung des Wahlrechts, Klimawandel, nationale Sicherheit, Schusswaffen.

Entscheidend für die Wahl aber sind Fragen des täglichen Überlebens. Nach einer Yougov-Umfrage aus dem Oktober 2024 gaben 46 Prozent der registrierten Wähler wirtschaftliche Themen als Hauptkriterium ihres Wahlverhaltens an: Inflation, Preise, Jobs, Wachstum, Gesundheitsversorgung, Steuern, Staatsausgaben. Migration kam auf 15 Prozent, dieser Komplex aber wird eng verknüpft mit wirtschaftlichen Problemen. Lediglich ein Prozent der Wähler vermerkte, dass Außenpolitik für sie das wichtigste Kriterium bei der Abgabe der Stimme sei.

Die politische Mitte nun ist zugleich eine geographische. Es lässt sich wohl sagen, dass die Küsten ideologisch gefestigt stehen und das rurale Hinterland ebenso. Den Demokraten gehören die nördliche Ostküste und die gesamte Westküste. Hinzu kommen ein paar tiefblaue Staaten im Inland, Colorado etwa, New Mexiko, Minnesota und Illinois. In ihnen lebt und repräsentiert sich das liberale Amerika, urban, aufgeklärt, tolerant, gebildet, wirtschaftlich bessergestellt. Den Republikanern gehören das westliche Inland, der zentrale Süden und die südliche Ostküste. Eine Allianz aus Konföderiertentradition und Hillbilly-Kultur. Man ist provinziell, weniger gebildet, wirtschaftlich und kulturell ab vom Schuss.

Umkämpfte Staaten

Im Innern des Landes befinden sich zugleich die Swing States, genannt auch »Battle Ground States«, weil die Präsidentschaftswahlen dort entschieden werden. Welche Bundesstaaten hierzu zählen, das hat sich über die vergangenen Jahrzehnte hinweg nur leicht verändert. Florida und Ohio etwa gehörten in der Obama-Periode noch dazu, sind aber heute fest in republikanischer Hand. Virginia und Colorado waren Swing States, mittlerweile rechnen sie unter die sicheren Staaten der Demokraten. Umgekehrt ist aus dem blauen Staat Nevada und den roten Staaten Georgia, North Carolina und Arizona umkämpftes Gebiet geworden. Das Fuzzy Set umschließt allerdings einen festen Kern. Aktuelle Swing States haben in der Regel eine Geschichte als Swing State.

Bei der Wahl 2024 muss man sieben Bundesstaaten als umkämpft angeben: Arizona, Georgia, Michigan, Nevada, Pennsylvania, North Carolina und Wisconsin. Wenige Tage vor der Wahl waren die Umfragewerte so knapp, dass sich beim besten Willen keine Vermutung über den Ausgang in diesen Staaten und mit Rücksicht auf deren entscheidende Bedeutung auch nicht für die Wahl insgesamt treffen lässt. In den Jargon der Wahlnacht übersetzt: too close to call. Während Harris vor einem Monat noch in vier der sieben Staaten mit zwei oder drei Prozentpunkten führte, ist ihr Vorsprung dort auf nunmehr weniger als ein Prozent geschmolzen oder hat sich gar in einen Rückstand verwandelt. Demoskopischer Erfahrung nach bewegen sich Abstände von weniger als drei Prozent innerhalb der Fehlertoleranz. Wussten wir also vor einem Monat nichts, wissen wir heute sozusagen weniger als nichts. Dem mittleren Wert der Umfragen sämtlicher Institute und Medien zwischen dem 25. Oktober und 2. November zufolge kommt Harris mit Stand vom 3. November landesweit auf 47,9 Prozent, während Trump bei 46,9 liegt. Jüngste Erhebungen vom 2. November zeigten sogar einen Gleichstand beziehungsweise eine Führung Trumps von bis zu zwei Prozentpunkten. Auf dem Boden der ausschlaggebenden Staaten widerspiegelt sich das Momentum des roten Kandidaten noch deutlicher. In Arizona hält Trump einen Vorsprung von 2,1 Prozentpunkten, in North Carolina von 1,6, in Georgia 1,5, in Nevada 0,4. Bei den Rust-Belt-Staaten scheint Harris leichte Vorteile gerade noch konservieren zu können, sie führt in Michigan mit einem und in Wisconsin mit 0,6 Prozentpunkten. Im größten Swing State Pennsylvania ist sie letzthin in einen Rückstand von 0,1 geraten.

So ergibt sich für das Electoral College ein ziemlich fragiles Zahlenspiel. Rechnet man die sicheren Staaten zusammen, hält Harris 226 Wahlmännerstimmen, Trump 219. Benötigt wird bei der Gesamtzahl von 538 eine Mehrheit von 270. Die noch offenen 93 verteilen sich auf die sieben Swing States. Gewinnt Trump die vier südlichen, käme er auf 268 Stimmen. Gewinnt Harris die drei Rust-Belt-Staaten im Norden, hätte sie die nötigen 270 beisammen. Das heißt allerdings, dass sie diese drei braucht, denn Trump, der in den südlichen Staaten deutlicher führt als Harris in den nördlichen, benötigt nur einen von diesen, um die Wahl für sich zu entscheiden.

An den Rust-Belt-Staaten stellt sich ein kultureller Wandel des Landes dar, der die grundsätzliche Tendenz der Gesamtbevölkerung hin zur Demokratischen Partei und ihrer Kultur zu durchkreuzen scheint. Während die einst sicheren roten Staaten Georgia und North Carolina, wie vor ihnen Virginia schon, vermöge schwarzer Wählerschichten aus dem traditionell weißen Süden ausbrechen, macht sich im Rust Belt, dieser von Industrie und Proletariat geprägten Großregion, eine zunehmende Distanz zur Demokratischen Partei bemerkbar. Stabil blau sind Illinois und New York; Ohio und Indiana wählen mittlerweile verlässlich rot. Michigan, Pennsylvania und Wisconsin, wie ausgeführt, bleiben umkämpftes Gebiet. Unstrittig jedenfalls, dass sich beträchtliche Teile der Arbeiterklasse in dieser Region von den Demokraten nicht mehr vertreten fühlen.

Harris-Wir und Trump-Wir

Warum diese Schichten, bei aller Frustration, dann ausgerechnet den Republikanern zulaufen, von denen eine Politik für ärmere Menschen noch weniger zu erwarten wäre, lässt sich vielleicht erklären, wenn man auf die in den Vereinigten Staaten dominierenden Ideologeme achtet. Grob vereinfacht halten Republikaner es mit einer radikalen Eigenverantwortung; Gesellschaft und Staat sollen möglichst wenig regeln. Wer es nicht packt, geht unter. Die Demokraten setzen demgegenüber auf einen Ausgleich ungleicher Voraussetzungen; das auch für sie maßgebliche Prinzip der Subsidiarität soll durch solidarische Elemente etwas abgeschwächt werden. Im Grunde stehen beide Parteien, wie überhaupt das gesamte Biotop USA, auf libertären Boden. Indem die Demokraten aber dieses Prinzip weniger radikal vertreten, erklären sie sich als verantwortlich für das Geschick des Einzelnen. Harris’ Schlagwort einer »Ökonomie der Möglichkeiten« drückt diese Stellung aus, es geht um die Förderung von Selbsthilfe, aber für Leute mit schlechteren Startvoraussetzungen. Obwohl nun republikanische wie demokratische Regierungen in der Vergangenheit ihre wirtschaftspolitischen Versprechen oft nicht einlösen konnten, hält sich hartnäckig die Erzählung, die Republikaner seien die Partei mit der Wirtschaftskompetenz. Wo eine ganze Gesellschaft vom Ideologem der Eigenverantwortung bestimmt ist, gerät die Partei in Nachteil, die sich dennoch zumindest graduell als verantwortlich erklärt. Republikaner versprechen den Menschen nicht, dass sie es ihnen besser gehen lassen. Sie versprechen freie Bahn für die, die ihre Chancen nutzen können. Der einzelne soziale Verlierer wird in diesem geistigen Umfeld die Schuld eher bei sich suchen denn bei denen, die ihm immer nur sagen, dass er und nur er seines Glückes Schmied ist.

Zudem wissen die Republikaner den Frust über soziale Schwierigkeiten in Hass gegen Randgruppen oder kulturelle Phänomene zu überführen: Wirtschaftliches Elend wird, wo immer es geht oder nicht geht, an der Migration festgemacht; das Narrativ einer woken Oberschicht, die Einwanderer ins Land lässt und die traditionell US-amerikanischen Werte bedroht, ersetzt die soziale Frage. Die Republikanische Partei ist das Dach, unter dem Milliardäre und Prekariat Seite an Seite gegen Zuwanderer und Bildungseliten kämpfen sollen.

So hat man in den USA die Wahl zwischen zwei Narrativen: dem Trump-Wir und dem Harris-Wir, die beide darauf reagieren, dass es ein tatsächliches Wir in einer von kapitalistischer Akkumulation, globalen Krisen und sozialem Elend zerrissenen Gesellschaft bei bestenfalls kümmerlich ausgebildeter Sozialstaatlichkeit nicht geben kann. Das Harris-Wir übertüncht diese Spaltung, das Trump-Wir überführt sie auf das weite Feld der Kulturkämpfe.

HintergrundMacht durch System

Auch die 60. Wahl des US-Präsidenten wird an einem Dienstag stattfinden. Warum eigentlich? Praktisch gesehen ist die traditionelle Terminierung auf einen Werktag ein Ärgernis, zumal sich Wähler in den USA selbständig registrieren müssen, was eine eminente Hürde ausmacht. Tatsächlich hatte die Festlegung einen praktischen Grund: Gewählt wurde immer am Dienstag nach dem ersten Montag des Novembers, weil zu diesem Zeitpunkt die Ernte abgeschlossen war und im weitläufigen Land eine Anreise zum Wahllokal auch mal einen ganzen Tag in Anspruch nehmen konnte. Die Regelung hat in den heutigen USA keinen Sinn mehr, steht aber exemplarisch für die Eigenheit dieses Landes, mit schwerverständlicher Treue an Traditionen festzuhalten.

Ähnliches gilt vom Electoral College, das im zweiten Artikel der Verfassung festgeschrieben ist. In den USA werden Präsidenten nicht direkt gewählt, es herrscht ein Mehrheitswahlrecht. Bundesstaaten, heißt das, entsenden Wahlleute, die in einer Versammlung, dem Electoral College, den Präsidenten wählen. Auch wenn ein Kandidat einen Staat hauchdünn gewonnen hat, stimmen dessen Wahlleute geschlossen für ihn. Man wird das Prinzip kaum demokratisch nennen dürfen, weil wenige Stimmen ungleich mehr Gewicht erhalten können. Hinzu kommt die Verteilung der Stimmen. Ein Bundesstaat erhält mindestens drei Wahlmännerstimmen, gleich wie dünn er besiedelt ist. Während Kalifornien mit seinen 39 Millionen Einwohnern 54 Wahlleute nach Washington entsendet, schickt Wyoming mit seinen 560.000 Bewohnern drei ins Electoral Collage, obwohl ihm arithmetisch betrachtet nicht mal eine ganze Stimme zustünde. Das führt zu einer Aufwertung der dünnbesiedelten Staaten, von der vor allem die republikanische Partei profitiert. In absoluten Zahlen hatten seit George Bushs Wahlsieg 1988 die Republikaner mit bloß einer Ausnahme (2004) stets weniger Stimmen als die Demokraten. Dennoch konnten sie vermöge eines Systems, das die ländliche Bevölkerung aufwertet, mehrere Wahlen für sich entscheiden.

Entsprechend groß ist der Widerstand der Republikaner gegen eine vielfach geforderte Wahlreform. Während der laufenden Amtsperiode hatte Präsident Biden seiner Vize Kamela Harris die nicht zu lösende Aufgabe übertragen, eine solche Reform zu entwickeln und im Kongress durchzubringen. Hierzu benötigt man allerdings starke Mehrheiten in beiden Kammern, Senat und Repräsentantenhaus. Die wären auch ohne die beschriebene Verzerrung kaum zu bekommen, mit ihr werden sie unmöglich. Die Republikaner blockieren also mittels ihrer Macht qua System eine Reform, die eben diese Macht beseitigen würde. (fb)

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