Krieg der Symbole
Von Peter MergZu den aktuellen Kriegen in Nahost ist die im weiteren Sinne linksliberale internationale Kulturwelt mittlerweile ziemlich einer Meinung: Die Angriffe auf den Gazastreifen und den Libanon, vor allem die schrecklichen Folgen für die palästinensische Zivilbevölkerung stoßen auf breite Ablehnung. Das dokumentiert auch ein Aufruf, der unter dem Titel »Refusing Complicity in Israel’s Literary Institutions« am 28. Oktober veröffentlicht wurde. Initiiert hatte ihn das Palästina-Literaturfestival (PalFest), das jedes Jahr Veranstaltungen in Städten des Westjordanlands organisiert. Initiativen wie »Books against Genocide«, »Publishers for Palastine« oder »Writers Against the War on Gaza« schlossen sich an. Es sei »der größte kulturelle Boykott gegen israelische Institutionen der Geschichte«, erklärte das Festival auf seiner Homepage.
Das erscheint angesichts der Erfolge der BDS-Bewegung etwas hoch gegriffen, doch die Unterstützung ist in der Tat beachtlich: Über 1.000 internationale Schriftsteller, Verleger und andere Vertreter der Buchbranche drücken in dem Schreiben ihr Entsetzen über die israelische Kriegführung aus, »die auf 75 Jahre Vertreibung, ethnische Säuberung und Apartheid« folge. Sie erklären, nicht mehr mit israelischen Kulturinstitutionen zusammenzuarbeiten, »die sich an der überwältigenden Unterdrückung der Palästinenser mitschuldig gemacht haben oder diese stillschweigend beobachten« – d. h. alle Verlage, Publikationen, Festivals, Agenturen etc. zu boykottieren, die entweder aktiv »durch diskriminierende Richtlinien und Praktiken oder durch Schönfärberei und Rechtfertigung der israelischen Besatzung, Apartheid oder des Völkermords« die Rechte der Palästinenser verletzten oder diese im Völkerrecht verbrieften Rechte nicht öffentlich anerkannt hätten. Wie weit das Ansinnen reicht, verdeutlicht, dass laut Angaben des PalFest nur eines der etwa hundert israelischen Verlagshäuser nicht unter diese Kriterien fällt.
Weder das Begehr ist neu, mit dem politisch unmittelbar wirkungslosen Boykott ein Zeichen gegen die mit Fug als abscheulich empfundene israelische Politik zu setzen, noch die konkreten drastischen Formulierungen oder der Anspruch, für eine Art internationale »Community« zu sprechen. Doch zeugen die prominenten Namen bei den Unterzeichnern davon, wie viele liberale Intellektuelle sich mittlerweile gezwungen sehen, zum Thema Stellung zu beziehen. Neben erwartbaren Unterstützern wie Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux, Judith Butler, Naomi Klein, Rachel Kushner, Sally Rooney und Arundhati Roy finden sich auf der Liste auch der Literaturnobelpreisträger Abdulrazak Gurnah, die Pulitzer-Preisträger Junot Díaz und Jhumpa Lahiri, sowie Amit Chaudhury, Anne Chisholm, Percival Everett, Ha Jin, Jonathan Lethem, Valeria Luiselli, Sarah Schulman und Ocean Vuong.
Eine illustre Runde, die der ebenfalls 1.000 Unterzeichner umfassende Gegenaufruf der proisraelischen Creative Community for Peace kaum zu spiegeln vermag, trotz der deutschsprachigen Literaturnobelpreisträgerinnen Herta Müller und Elfriede Jelinek (die sich politisch selten in einem Boot finden) sowie bekannten Gestalten wie Pulitzer-Preisträger David Mamet, Bernard Henri-Lévy, Howard Jacobson, Simon Sebag Montefior, Ozzy Osbourne und Gene Simmons. »Unabhängig von der eigenen Meinung zum aktuellen Konflikt schaffen Boykotte von Kreativen und kulturellen Institutionen lediglich mehr Spaltung und schüren weiteren Hass«, heißt es in dem am 29. Oktober veröffentlichten Text. Auffällig: Während korrekterweise moniert wird, dass im Boykottaufruf der Angriff auf Israel vom 7. Oktober 2023 und die in dessen Zuge Ermordeten nicht erwähnt werden, sparen die Verfasser der Gegenerklärung die Zehntausenden unschuldigen Opfer der israelischen Kriegführung aus – und damit selbst nicht an Einseitigkeit.
Die meisten hiesigen Medien brauchten etwas, bis sie das Thema aufgriffen, vielleicht auch, weil keine Deutschen unter den Unterzeichnern sind, und die BRD diesmal nicht direkt tangiert ist, anders als bei der »Strike Germany«-Initative, welche im Januar die deutschen Feuilletons zum Kochen brachte. Als sie dann kamen, fielen die Reaktionen erwartbar aus: »Angesichts dieser aggressiven Realitätsblindheit stellt sich die Frage, was von den genannten Schriftstellern zu halten ist, nicht als Schriftsteller, sondern als Denker«, schrieb die Welt-Literaturredakteurin Mara Delius am 31. Oktober. »Das halbgebildete Shitbürgertum und sein Antisemitismus«, konstatierte einen Tag zuvor ihr in Sachen Halbbildung kundiger Chef Ulf Poschardt auf X. Gerrit Bartels vom Berliner Tagesspiegel blieb in seinem Kommentar (31.10.) höflich und fragte, wie weit die Boykottbestrebungen der Unterzeichner reichen: »Canceln Jonathan Lethem, Ha Jin oder Leslie Jamison ihre Auftritte auf Festivals, wenn dort auch Lizzie Doron oder Etgar Keret eingeladen sind? Wie verhalten sie sich bei Preisen, auf deren Short- oder Longlists Israelis oder israelfreundliche Autoren und Autorinnen gelistet sind? Wie weit geht die Solidarität mit dem palästinensischen Volk?« Nicht ohne süffisant anzumerken, dass Annie Ernaux auch den »Strike Germany«-Aufruf unterschrieben hatte, ihre Bücher aber weiterhin im Berliner Suhrkamp-Verlag erscheinen.
Jacques Abramowicz fragte in der Jüdischen Allgemeinen gleichentags, warum die irische Bestsellerautorin Sally Rooney keine Übersetzungen ihrer Bücher ins Hebräische wünscht, diese aber auf Chinesisch erscheinen können. »Wir alle« seien gefordert, »diese antisemitische Scheinheiligkeit nicht länger zu dulden«. Die absurde Vorstellung, jemand müsse, um ein Übel zu benennen, sich auch zu jedem anderen verhalten, um ernst genommen zu werden, verdeckt den richtigen Hinweis, dass von einem allgemeinen Boykott auch linke, friedensbewegte israelische Einrichtungen betroffen sind, ebenso wie arabisch-israelische Institutionen. Die FAZ enthielt sich einer eigenen Einordnung und ließ am 1. November statt dessen den israelischen Schriftsteller Ron Segal als Gastautor zu Wort kommen, der die Dialogverweigerung, die im Boykott steckt, als dem literarischen Sprechen wesensfremd bezeichnete: »Durch Schweigen wird kein Frieden erreicht. Schriftsteller, die sich nicht bemühen, mit ihren Lesern in Dialog zu treten, sind bestenfalls faul.«
Vladimir Balzer schließlich, Korrespondent im Hauptstadtstudio des Deutschlandfunks, monierte ebenfalls am Freitag in den »Informationen am Morgen«, dass im Aufruf die Rolle von Hamas und Hisbollah nicht erwähnt und »Israels Politik als Quelle allen Übels« dargestellt werde. Zweifellos handele es sich um »einen großen Einschnitt für die Kultur- und Wissenschaftswelt in Israel«, doch sei es unwahrscheinlich, dass sich die israelische Literaturszene nun gegen die Netanjahu-Regierung stelle, um den Erwartungen der Unterzeichner zu entsprechen. Eine bemerkenswert blauäugige Feststellung, ist das Anliegen der Literaten doch offenkundig nicht, das Verlagswesen des Landes in die Opposition zu nötigen, sondern allgemeinpolitischen symbolischen Charakters. Isolation als Statement, weniger als Waffe.
Ob höflich oder unflätig, ob wütend oder naiv: Diese Kommentierung durch deutsche Medien zeigt, wie fest deren Macher noch immer die Augen davor verschließen, wie sehr in Sachen Nahost die internationale intellektuelle Diskussion und das hierzulande als akzeptabel erachtete Meinungsspektrum auseinanderklaffen. Gaza mag in Trümmern liegen – den Krieg um die Symbole hat Israel längst verloren.
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