Am Ende nicht allein sein
Von Eileen HeerdegenDie zartflügeligen schwarzweiß getupften Falter, die im Frühjahr gerade erwachende Hölzer mit schaurig-schönem grauen Gespinst überziehen, haben ganzjährig ein Zuhause bei Robert Smith gefunden, der den tragischen Märchenwald auf seinem Kopf stolz zu dramatischem Augen-Make-up und dem legendären verschmierten knallroten Lippenstift trägt. »So sehen ›Boomer‹ normalerweise nicht aus«, schreibt ein Journalist. Wie denn? Sex and Drugs and Rock ’n’ Roll, und später dann Kittelschürze und Pepitahütchen? Er wird wahrscheinlich noch dreißig Jahre brauchen, bis er das Leben versteht.
»And I’m outside in the dark staring at the blood red moon / Remembering the hopes and dreams I had and all I had to do / And wondering what became of that boy and the world he called his own / I’m outside in the dark wondering how I got so old«, singt der 65jährige Smith im »Endsong« des aktuellen Albums, »Songs of a Lost World« von The Cure. Die Kindheitserinnerung des 10jährigen, der gemeinsam mit dem Großvater im Juli 1969 staunend den gerade erstmals von Erdenbewohnern betretenen Mond betrachtet, wunderbar übertragen in die ebenfalls fast kindlich staunende, unfassbare Beobachtung des eigenen Alterns.
Es braucht einfach Zeit, um festzustellen, dass Tag und Nacht Leonard Cohen rauf und runter zu hören, nichts mit einer Depression zu tun hat, oder wie Robert Smith es im Interview formuliert: »Tod und Sterben werden leider zu einem Teil des Alltags. Wenn man jünger ist, romantisiert man es. Dann passiert es deiner Familie und Freunden, das ist es etwas anderes.«
16 Jahre hat es gedauert, bis Robert James Smith sich mit der seit fünf Jahren angekündigten Präsentation des 14. Studioalbums befreien konnte. Selbstverständlich sind die Songs sehr »persönlich«, wie die »Tagesschau« fast erstaunt anmerkt, das ist nicht Bohlens »Cherry Cherry Lady«, es ist das künstlerische Aufbäumen eines Menschen gegen die Zeichen und den Zahn der Zeit.
»Whenever I’m alone with you / You make me feel like I am home again / However far away / I will always love you / I will always love you« – der berühmte »Lovesong« von 1989, der wie das entglittene Lippenrot, wie eigentlich alles an Robert Smith und The Cure Legende ist, und so viel schöner und so viel wahrer, als man damals überhaupt begriffen hat. Mit »And Nothing is Forever« legt er jetzt noch mal nach und einen drauf. Fast sieben Minuten dauert die verzweifelte Liebeserklärung. Piano und Streicher beginnen zunächst wie eine recht konventionelle Filmmusik für ein tragisch-romantisches Liebesepos, mit einem Schuss klassischer Opulenz wie etwa bei »Full of Life« von Christine and the Queens. Bevor es zu gefällig werden kann, mischt sich eine schnarrende Gitarre ein, und schließlich meint man im Hintergrund Dudelsäcke zu hören, ein rhytmisches Schlagzeug komplettiert zum kurzen Marsch, bevor nach zweieinhalb Minuten das Keyboard wieder übernimmt und Roberts unverändert erstaunlich jung klingende Stimme einsetzt: »Promise you’ll be with me in the end« – herzzerreißend. Wen das nicht anrührt, oder wer das nicht aushalten kann, der muss sich die ebenfalls gerade erschiene Helene-Fischer-LP mit Kinderliedern kaufen, mit der sie uns »in ihre perfekte kleine heile Welt einlädt«. Alle andern müssen durch den Schmerz. So etwas ist kathartisch, reinigend, befreiend. Für Künstler und Publikum. Hat Puccini »Nessun Dorma« komponieren können, ohne schluchzend über der Partitur zu hängen? Wer nicht hemmungslos in seine Gitarre oder seinen Laptop geheult hat, wird nichts bewegen können. »And slide down close beside me / In the silence of a heartbeat / And wrap your arms around me / In a murmured lullaby / As you hold me for the last time / In the dying of the life.«
Trauerzugtrommeln begleiten den musikalischen Abschied – »I can never say Goodbye« – vom geliebten Bruder Richard Smith, man könnte neidisch werden auf die Gabe, Verlust so verarbeiten zu können.
Und all das nach dem ebenfalls sehr emotionalen Opener »Alone«. Auch knapp sieben Minuten, mit einem fast dreieinhalbminütigen schwermütigen Intro aus Synthiestreichern, Piano, verhaltenem Schlagzeug und allerlei Geräuschen, die wie Walgesänge klingen, die sich mit Möwen mischen, die nahe Küsten ankündigen. »This is the end of every song we sing.« Eine Klage über das Feuer, das zu Asche wurde, Vögel, die vom Himmel fallen, wie die Worte, die uns fehlen. Und wieder das kindliche Erstaunen darüber, dass nichts bleibt, wie es war: »And it all stops / We were always sure that we would never change / And it all stops / We were always sure that we would stay the same / But it all stops.«
Entsetzlich traurig und wahnsinnig schön, traurig sein zu dürfen. Mir fehlt aber bei all dem die Wut. Gestern haben wir uns noch die schwarze Theaterschminke von den Lippen geküsst, heute müssen wir uns von depperten Kindern als Boomer beschimpfen lassen. Mit 45 zu alt für den Arbeitsmarkt, aber mit 65 zu jung für die Rente. In der Schweiz durften Menschen über 60 in Coronazeiten nicht einkaufen gehen, alles natürlich nur zu ihrem Besten. So wie der in Großbritannien von Labour jetzt geplante Zwang zur Abnehmspritze für dicke Arbeitslose, eine Maßnahme, die, auch wenn gerade im Alter die Pfunde erfahrungsgemäß mehr werden, auch junge Menschen betrifft und einfach hundertprozentig in Robert Smiths Aussage passt, nach 30 Jahren Aufwärtsentwicklung gehe es seit 1975 immer nur nach unten. »Das ist der Kern … Das ist das schlagende Herz des Albums.«
Gesagt, nicht getan. Dabei ist der Musiker durchaus ein politischer Geist. Er hat sich beispielsweise deutlich kritisch zu den Kosten der Krönungsfeierlichkeiten für King Charles geäußert und stellt sich vehement gegen die absurd hohen Ticketpreise für Konzerte, aber der »Warsong«, Nr. 4 des aktuellen Albums, kommt zwar beeindruckend mit Harmonium und einem Gewitter aus Gitarren und Schlagzeug daher, der beschriebene Krieg, »I want your death, you want my life«, bleibt aber wieder im politischen Privaten. Okay, der letzte Satz geht vielleicht darüber hinaus: »For we are born to war.«
Mit dem bereits erwähnten »Endsong«, 10:23, und seinem orchestralen Trommel-Kreischgitarren-Synthie-Intro schließt sich der große Gefühlskreis: »It all feels wrong / It’s all gone, it’s all gone, it’s all gone / No hopes, no dreams, no world / No, I don't belong / I don’t belong here anymore.«
Wir dürfen das aber vielleicht nicht so ernst nehmen, denn Robert Smith hat bereits zwei neue Alben angekündigt. Es musste wohl einfach mal alles raus, und auch bei Puccini heißt es am Ende: Vincero!
The Cure: »Songs of a Lost World« (Lost/Polydor/Universal)
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