Rosa-Luxemburg-Konferenz am 11.01.2025
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Aus: Ausgabe vom 05.11.2024, Seite 12 / Thema
Deutschland und Türkei

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Die Verbindungen zwischen der Türkei und Deutschland gehen bis an den Anfang des 19. Jahrhunderts zurück. Das Deutsche Reich schickte Ausbilder und Waffen.
Von Tim Krüger
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Modernisierung mit deutscher Hilfe. Karikatur aus der Zeitschrift Kladderadatsch von 1914

Die Kontakte zwischen Deutschland, in Form des Königreichs Preußens, und dem Vorläufer der heutigen Türkischen Republik, dem Osmanischen Reich, reichen bis ins 18. Jahrhundert zurück. Preußen war es zu Beginn des 19. Jahrhunderts während der Napoleonischen Kriege mittels der Stein-Hardenbergschen Reformen (1807–1815) gelungen, sein Verwaltungs- und Militärwesen grundlegend zu modernisieren. Doch während Preußen mit Berufsbeamtentum und Bürgerheer zum Prototypen des späteren deutschen Nationalstaates wurde, geriet das Osmanische Reich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zusehends in Bedrängnis. Die europäischen Kolonialmächte Großbritannien und Frankreich drängten immer aggressiver in seinen Einflussbereich im Mittleren Osten und Nordafrika, und das Russische Zarenreich hatte ein Auge auf den Kaukasus geworfen. Nationale Unabhängigkeitsbestrebungen wie die Griechische Revolution (1821–1829) und die Serbischen Aufstände (1804–1813 und 1815–1817) endeten für das Osmanische Reich in großen Gebietsverlusten und schürten Ängste über den Zerfall des Reiches.

Das Osmanische Reich war mit seiner dezentralisierten Verwaltungsstruktur, einer unterentwickelten Wirtschaft und einer weitgehend auf feudalen Beziehungen aufbauenden Herrschaftsstruktur gegenüber den aufstrebenden europäischen Mächten deutlich im Rückstand. Das Reich musste sich reformieren oder aber an sich selbst scheitern. 1839 begann die »Tanzimat-Periode«, eine Phase weitreichender Reformen und der Neuordnung des Verwaltungs-, Finanz- und Heereswesens, die 1876 mit der Verabschiedung der Osmanischen Verfassung endete. Während sich die Reformbewegung um die Mitte des Jahrhunderts stark an Frankreich orientierte, kam es schon vor dem eigentlichen Beginn der Reformperiode zu ersten Kontakten mit Deutschland. So begab sich der preußische Generalfeldmarschall Helmuth von Moltke schon 1835 in das Osmanische Reich, wo er zwischen 1836 und 1839 als Instrukteur der Osmanischen Armee diente. Auf seiner Reise begleitete ihn eine Mannschaft von acht weiteren Offizieren und 16 Unteroffizieren. Sie stellten das Kontingent der ersten deutschen Militärmission im Osmanischen Reich.

Ausbildung des Offizierskorps

Doch trotz der eingeleiteten Reformen stand das Vielvölkerreich weiter unter Druck. Nach der Niederlage der osmanischen Armee im Russisch-Türkischen Krieg (1877–1878) entschied sich der Sultan ein weiteres Mal, um ausländische Hilfe bei der Neuaufstellung seiner Armee zu bitten. Das 1871 nach dem Sieg über Frankreich gegründete Deutsche Reich erschien dabei als ein geeigneter Partner. So stellte Deutschland ein gewisses Gegengewicht zum britischen Einfluss dar. Die Partnerschaft bot sich auch deshalb an, weil das Deutsche Reich, anders als Frankreich oder Großbritannien, keinen Anspruch auf Territorien innerhalb des Osmanischen Reiches erhob.

Zu Beginn der 1880er Jahre entsandte das Deutsche Reich daher erneut eine Militärmission in die Türkei, die mit der Ausbildung des osmanischen Offizierskorps betraut wurde. Die Militärmission bedeutete bald auch für die deutschen Rüstungsfabrikanten ein lukratives Geschäft. Hunderte Kanonen und Feldgeschütze, später auch Torpedoboote, wurden an die Osmanische Armee verkauft. Bei den Firmen Mauser und Loewe wurden Hunderttausende Repetiergewehre und Zehntausende Karabiner in Auftrag gegeben. Zur gleichen Zeit begann auch die Ausbildung von jährlich 20 türkischen Offizieren an der Militärakademie in Potsdam. Während die deutsche Diplomatie aktiv daran arbeitete, die osmanische Außenpolitik zu beeinflussen und das Reich gegen Russland, Frankreich und Großbritannien in Stellung zu bringen, ermöglichte die Ausbildungsmission eine Einflussnahme auf den osmanischen Militärapparat.

Doch für deutsche Unternehmer fiel noch mehr ab als nur Waffenexporte. So stieg das gesamte deutsche Exportvolumen in das Osmanische Reich zwischen 1889 und 1907 von 30 auf 82 Millionen Goldmark. Deutschen Konzernen fiel auch die Konzession für den Bau der Bagdadbahn (1903–1918) zu, welche als das geopolitische Megaprojekt der damaligen Zeit über eine Strecke von 1.600 Kilometern vom türkischen Konya in die heutige irakische Hauptstadt Bagdad führen sollte.

1908 kam es in Folge einer Militärrevolte zur Konstitutionellen Revolution in der Türkei. Die jungtürkische Bewegung, eine heterogene Bewegung, die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts auf eine konstitutionelle Ordnung und teils liberale Reformen hinarbeitete, übernahm die Macht. Die jungtürkische Bewegung rekrutierte sich vor allem aus jungen Mitgliedern der osmanischen Elite, Offizieren, aber auch Diplomaten. Schon damals neigte ein beträchtlicher Teil der durchaus durchmischten Bewegung zu radikalen nationalistischen und rassistischen Positionen. Vor allem die Idee des sogenannten Panturkismus, auch als Turanismus bekannt, gewann zunehmend an Einfluss. Der moderne türkische Nationalismus lehnte sich dabei stark an sein historisches Vorbild, die alldeutsche bzw. pangermanische Bewegung, an, die zum Ende des 19. Jahrhunderts mit dem Erwachen des deutschen Imperialismus im damaligen Kaiserreich an Einfluss gewann. Viele der späteren Ideengeber und Führer des türkischen Nationalismus erhielten im Rahmen der deutschen Ausbildungsmission im Osmanischen Reich oder in der Offiziersakademie in Potsdam ihre militärischen Sachkenntnisse von der Armee des Kaisers vermittelt oder dienten im diplomatischen Korps des Osmanischen Reichs in Deutschland.

Auch Enver Pascha, einer der führenden Köpfe des militärischen Aufstandes von 1908, diente als Diplomat in Berlin, wo er maßgeblichen Anteil am Ausbau der deutsch-türkischen Waffenbrüderschaft hatte. Ähnlich wie ihre pangermanischen Ideengeber sahen die türkischen Protofaschisten um Enver Pascha die türkische Nation dazu berufen, alle Turkvölker von Aserbaidschan bis zu den Uiguren Chinas und den Steppenvölkern Sibiriens unter dem Dach eines großtürkischen Reiches, genannt Turan, zu vereinigen. Dabei steht Turan für die vermeintliche Urheimat der Turkvölker, die im historischen Mythos des pantürkischen Nationalismus eine Schlüsselstellung einnimmt.

Nachdem das Osmanische Reich weitere Gebietsverluste auf dem Balkan hinnehmen musste, putschte sich zu Beginn des Jahres 1913 ein Triumvirat bestehend aus den prodeutschen Offizieren Enver Pascha, Cemal Pascha und Talat Pascha an die Macht. Direkt zu Beginn ihrer Regierung forderten sie am 22. Mai 1913 erneut die Entsendung einer deutschen Militärmission. Die von Liman von Sanders angeführte Mission erhielt weitreichende Befugnisse. Während des Ersten Weltkriegs standen weite Teile der Osmanischen Armee de facto unter dem deutschen Oberkommando.

Unter deutschem Oberkommando

Das Triumvirat um Enver Pascha war 1915 hauptverantwortlich für den Völkermord an der armenischen und christlichen Bevölkerung des Osmanischen Reiches. Der Genozid, der nach unterschiedlichen Schätzungen bis zu 1,5 Millionen Menschen das Leben kostete, wurde unter den Augen des deutschen Generalstabs organisiert. So unterzeichneten deutsche Generäle und Offiziere Deportationsbefehle und hatten einen nicht geringen Anteil an der Planung, Organisation und Durchführung der Verbrechen. Der Chef des Generalstaabes des osmanischen Feldheeres, Friedrich Bronsart von Schellendorf, gilt als einer der führenden Köpfe hinter dem Völkermord. Er selbst machte kein Geheimnis aus seiner Haltung gegenüber der armenischen Bevölkerung und notierte nach dem Krieg 1919, dass der »Armenier (…) wie der Jude, außerhalb seiner Heimat ein Parasit« sei, »der die Gesundheit eines anderen Landes, in dem er sich niedergelassen hat, aufsaugt«. Auch wenn die deutsche Bundesregierung, als sie 2016 die Greuel von 1915 als Völkermord anerkannte, die Rolle der deutschen Militärangehörigen zwar bedauerte, ist die aktive Beteiligung deutscher Offiziere an Organisation und Planung des Genozids bis heute ein Kapitel der Geschichte, das nicht ausreichend ausgeleuchtet worden ist.

Nach der Niederlage der Mittelmächte im Ersten Weltkrieg musste auch das Osmanische Reich enorme Gebietsverluste hinnehmen. Weite Teile der arabischen Welt gingen verloren, und auch Gebiete der heutigen Türkei standen unter Besatzung der Ententemächte. Unter der Führung des jungtürkischen Offiziers Mustafa Kemal, besser bekannt unter seinem späteren Beinamen Atatürk, organisierte sich der Widerstand gegen die Besatzungsmächte. Anders als den pantürkischen Nationalisten um Enver Pascha, denen die Gründung eines türkischen Großreiches vorschwebte, strebte die Bewegung rund um Mustafa Kemal einen republikanischen Nationalstaat unter Einschluss von Teilen Nordsyriens und des Nordiraks an.

1919 begann der sogenannte Türkische Befreiungskrieg und die Kuvâ-yi Milliye, die Nationalen Kräfte, nahmen den Kampf gegen die ausländische Militärpräsenz auf. Der Krieg endete mit dem Sieg der türkischen Nationalbewegung. Bereits 1922 wurde das Sultanat abgeschafft und nach dem Rückzug der Besatzungstruppen am 29. Oktober 1923 die Türkische Republik ins Leben gerufen. Das neue, kurzzeitig republikanisch verfasste Deutsche Reich zählte zu den ersten Staaten, die diplomatische Beziehungen mit der jungen Republik aufnahmen.

Unterstützung beim Völkermord

In den 1920er Jahren übten der türkische Befreiungskrieg und die erfolgreiche Revision der im Vertrag von Sèvres (1920) festgelegten Gebietsabtretungen auf die nationalistische Bewegung der jungen Weimarer Republik eine große Faszination aus. Schließlich sah man sich selbst im Kampf gegen den als ungerecht empfundenen »Diktatfrieden von Versaille«. Es darf daher nicht verwundern, dass auch die Tageszeitung der NSDAP, der Völkische Beobachter, Atatürk in hohen Tönen lobte und Adolf Hitler den türkischen Führer in einem Interview mit der türkischen Zeitung Milliyet 1933 als »leuchtenden Stern« bezeichnete. Doch auch vor der Machtübergabe an die deutschen Faschisten waren die Wirtschaftsbeziehungen zwischen beiden Ländern ungebrochen eng. Nach 1933 avancierte das Deutsche Reich dann zum größten Importeur der Türkei überhaupt. Als die kemalistische Führung der Türkischen Republik im Anschluss an die Staatsgründung mit brutaler Gewalt gegen die kurdische Bevölkerung vorging, standen auch deutsche Waffenproduzenten wieder einmal bereit, um das entsprechende Werkzeug zu liefern.

So zeigen von der türkisch-kurdischen Zeitung Dersim Gazetesi 2019 veröffentlichte Dokumente aus dem türkischen Staatsarchiv, dass Mustafa Kemal Atatürk am 7. August 1937 ein geheimes Dekret über die Bestellung von 20 Tonnen chemischer Kampfstoffe und einer automatischen Abfüllanlage in Deutschland unterzeichnete. Bei den über die Botschaft in Berlin eingekauften Kampfstoffen soll es sich um Senfgas und Chloracetophenon gehandelt haben. Brisant ist das Dokument deshalb, weil die Bestellung in die Zeit des Völkermords von Dersim fällt, einem Massaker der türkischen Armee, dem je nach Schätzung bis zu 70.000 Menschen zum Opfer fielen. Dabei sollen auch Giftgas und chemische Kampfstoffe zum Einsatz gekommen sein. Schon länger bekannte Dokumente des türkischen Gesundheitsministeriums belegen zudem, dass es deutsche Chemiewaffenspezialisten waren, die die türkische Armee im Umgang mit den Kampfstoffen schulten. Zudem gab die türkische Regierung 1937 auch 24 zweimotorige Bomber vom Typ Heinkel He 111J in Auftrag, welche ab Oktober 1937 von den Heinkel-Werken Oranienburg ausgeliefert wurden.

Auch während des deutschen Faschismus wurden weiter Waffen geliefert, und es gab vielfältige wirtschaftliche Kooperationen. Auch politisch intervenierte das Deutsche Reich. Vor allem der deutsche Botschafter in der Türkei, Franz von Papen, arbeitete nach dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf Polen daran, die Türkei neutral zu halten. Mit der Unterzeichnung des deutsch-türkischen Nichtangriffspaktes am 18. Juni 1941 gelang der deutschen Diplomatie nur vier Tage vor dem Überfall auf die Sowjetunion dann der entscheidende Schlag. Im Oktober 1941 schlossen Nazideutschland und die Türkische Republik das sogenannte Clodius-Abkommen, im Rahmen dessen sich die Türkei bereit erklärte, die deutsche Rüstungswirtschaft mit dem dringend benötigten Chromiterz zu beliefern. Im Gegenzug erhielt sie Rüstungsprodukte aus Deutschland. Darüber hinaus war die Türkei ein wichtiger Umschlagplatz für deutsches Raubgold, vor allem aus den Niederlanden und Belgien. Die Dresdner Bank und die Deutsche Bank machten daraus ein lukratives Geschäft und verkauften mit Hilfe deutscher Diplomaten große Mengen des gestohlenen Edelmetalls auf den türkischen Märkten und an die Türkische Zentralbank. Die Türkische Republik entwickelte sich zu einer regelrechten Goldwaschmaschine für die deutschen Bankhäuser.

Auch innenpolitisch mischten die deutschen Faschisten in der Türkei mit. Schon ab den 1930er Jahren unterhielten die Nazis enge Verbindungen mit turanistischen Kreisen und förderten diese. Ein wichtiger Akteur war der junge Offizier Alparslan Türkeş, der sich schon früh nicht nur für den Turanismus begeisterte, sondern in seinen Reden auch Hitlers »Mein Kampf« zitierte. Türkeş galt dem Naziregime als wichtiger und zukunftsträchtiger Kontakt. So setzte er sich für den Kriegseintritt der Türkei auf seiten Nazideutschlands ein.

Formell blieb die Türkei aber bis 1945 ein neutraler Staat. Erst als bereits der größte Teil des deutschen Reichsgebietes unter Kontrolle der Westalliierten und der Roten Armee stand, schien man in Ankara zu begreifen, dass es vielleicht doch besser wäre, auf der Seite der Sieger zu stehen, und so erklärte das Land am 23. Februar 1945 dem Deutschen Reich und Japan den Krieg. Die Kriegserklärung blieb rein symbolischer Natur.

Gut vernetzte Faschisten

Nach der Kapitulation der deutschen Wehrmacht und dem Ende des Zweiten Weltkriegs setzte die Türkei ihre engen Beziehungen mit der Bundesrepublik Deutschland fort. Mit der Westintegration der BRD und dem NATO-Betritt der Türkei 1952 wurden beide Länder zu Frontstaaten des Kalten Krieges. 1963 unterzeichneten die Türkei und die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft EWG ein Assoziierungsabkommen, welches den langfristigen Beitritt der Türkei in die Gemeinschaft vorbereiten sollte und in der Folge zur Grundlage vieler weiterer Abkommen werden sollte. So wurde die Türkei auf Grundlage des Assoziierungsabkommens 1996 Teil der Europäischen Zollunion, was die Integration der deutschen und türkischen Wirtschaft erleichterte. Auch das 1961 unterzeichnete sogenannte Anwerbeabkommen zwischen der Bundesrepublik und der Türkei, besser bekannt als Gastarbeiterabkommen, sorgte für eine weitere Annäherung zwischen den beiden Ländern.

1969 gründete der ehemalige Vertrauensmann des Deutschen Reiches, Alparslan Türkeş, die Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) als neues legales Sammelbecken der türkischen faschistischen Bewegung. Die Organisation der MHP und ihr paramilitärischer Arm, die sogenannten »Grauen Wölfe«, entfesselten in den Folgejahren eine Welle des Terrors gegen Linke, Kommunisten, Kurden und Aleviten. Dabei agierte Türkeş keineswegs auf eigene Faust. Der mittlerweile zum Oberst beförderte Offizier war Gründungsmitglied der auf Initiative US-amerikanischer Dienste gegründeten sogenannten Taktischen Mobilisierungsgruppe (Seferberlik Tektik Kurulu). Die Sondereinheit hatte den Auftrag, eine Konterguerillaeinheit als türkischen Ableger der »Operation Gladio« zu gründen. 1970 wurde die »Taktische Mobilisierungsgruppe« durch das »Amt für spezielle Kriegführung« (Özel Harp Dairesi) ersetzt, das im Rahmen des bis heute bestehenden Kommandos Spezialkräfte des Generalstabes fortexistiert.

Die türkischen Faschisten organisierten sich von Anfang an auch in der türkeistämmigen Gemeinschaft in der Bundesrepublik Deutschland und wurden dabei vor allem von der CDU, aber auch von deutschen Faschisten der NPD wohlwollend unterstützt. 1973 wurde unter den Augen der deutschen Politik und Sicherheitsdienste die Auslandsorganisation der MHP in Deutschland ins Leben gerufen. Auch dank der freundlichen Annäherung der deutschen Politik konnten die »Grauen Wölfe« allein bis 1975 50 Verbände in Westdeutschland aufbauen. Am 1. Mai 1978 empfing der damalige bayrische Ministerpräsident Franz Josef Strauß sogar Türkeş und weitere führende Mitglieder der faschistischen Partei in München und versprach ihnen seine Unterstützung. Bis heute organisieren sich die »Grauen Wölfe« unter dem Dach der 1978 gegründeten Föderation der Türkisch-Demokratischen Idealistenvereine in Deutschland (ADÜTDF), heute bekannt als Türk Federasyon, und unterstützen Dutzende von Vereinslokalen im gesamten Bundesgebiet. Sie unterhalten gute Beziehungen, vor allem in die deutsche Lokalpolitik, und sind mit Akteuren unterschiedlichster Parteien, von der Union bis hin zur SPD und sogar von Bündnis 90/Die Grünen, gut vernetzt.

Die vor allem antikommunistisch und antikurdisch motivierte Gewalt der türkischen Faschisten erreichte ihren Höhepunkt in den Wochen und Monaten vor dem dritten erfolgreichen Putsch des türkischen Militärs. Am 12. September 1980 schritt das Militär unter dem Vorwand, die politische Gewalt auf den Straßen zu beenden, ein und riss die Regierungsgewalt an sich. Unter der Führung des Generals Kenan Evren wurde eine Militärjunta errichtet, die in sachen Grausamkeit und Brutalität die bisherigen Militärregime in den Schatten stellen sollte. Die türkische Tageszeitung Cumhuriyet geht davon aus, dass es im Zuge des Militärputsches über 650.000 politische Festnahmen, 571 verhängte und 50 vollstreckte Todesurteile gegeben hat; nachweislich kamen 171 Menschen durch Folter zu Tode.

Für die Bundesregierung war der Militärputsch allerdings kein Grund zur Besorgnis. So erklärte Bonn am 16. September 1980, dass »bestehende Abkommen (…) nicht ausgesetzt« würden, »weil die Militärverwaltung so schnell wie möglich zur Demokratie zurückkehren wird und Ankara die Achtung der Menschenrechte garantiert hat«. Die Aussage der Regierung unter Helmut Schmidt (SPD) ist symptomatisch für die deutsche Haltung gegenüber der Türkei.

Verfolgung der PKK

Statt die Konsequenzen aus der brutalen Diktatur in der Türkei zu ziehen und eine entsprechende Haltung gegen die Willkürherrschaft des Militärs einzunehmen, machte man sich in der Bundesrepublik lieber daran, ausgehend vom sogenannten Düsseldorfer Prozess, der 1987 gegen kurdische Revolutionäre begann, kurdische und türkische Revolutionäre zu verfolgen und zu kriminalisieren. Besonders das 1993 erlassene Verbot der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) leistete der türkischen Vernichtungs- und Verleugnungspolitik gegenüber dem kurdischen Volk eine nicht zu unterschätzende Schützenhilfe. Um der Junta beim Kampf gegen die seit 1984 operierende PKK-Guerilla unter die Arme zu greifen, lieferte die Bundesregierung seit 1980 insgesamt 397 veraltete »Leopard 1«-Panzer an Ankara. Als die Auseinandersetzungen zwischen der türkischen Armee und der PKK Anfang der 1990er Jahre ihren blutigen Höhepunkt erreichten und die türkische Armee Tausende kurdischer Dörfer entvölkerte, spendierte die Bundesregierung abermals militärisches Gerät. So schenkte die BRD der türkischen Armee 256.000 Kalaschnikow-Sturmgewehre, 5.000 Maschinengewehre, 100.000 Panzerfäuste, 445 Millionen Schuss Munition sowie über 400 Radpanzer aus ehemaligen Beständen der mittlerweile abgewickelten Nationalen Volksarmee der DDR. Ab 2005 verkaufte die BRD dann die neuen Modelle des »Leopard 2« und »Leopard 2A« an die türkische Armee. Bis zum Jahr 2013 wurden insgesamt 354 Panzer des deutschen Herstellers Krauss-Maffei Wegmann in die Türkei geliefert. Es waren diese Panzer, unter deren Ketten die kurdische Selbstverwaltung von Afrin 2018 zermalmt wurde und hinter welchen sich im Jahr 2019 beim Überfall auf Tel Abyad und Serêkaniyê die mit der Türkei verbündeten islamistischen Milizionäre verschanzten.

Seit Beginn des neuen Jahrhunderts und bis in das Jahr 2017 war die BRD der größte europäische Waffenexporteur überhaupt und erreichte ein Exportvolumen von einer Milliarde Euro. Im Jahr 2018, als die Türkei die kurdische Enklave Afrin im äußersten Nordwesten Syriens überfiel, beliefen sich die deutschen Waffenexporte in die Türkei auf ein Gesamtvolumen von 242,8 Millionen Euro und machten damit fast ein Drittel aller deutschen Kriegswaffenexporte des Jahres aus. 2019, als die türkische Armee gemeinsam mit islamistischen Milizen in die nordsyrischen Städte Tel Abyad und Serêkaniyê einmarschierte, lagen die Waffenexporte in die Türkei mit 344,6 Millionen Euro sogar über dem Vorjahr. Damit war die Türkei in beiden Jahren der beste Kunde deutscher Rüstungskonzerne.

Auch im allgemeinen Handel bleibt die Türkei einer der wichtigsten Partner deutscher Firmen. So erreichte das bilaterale Handelsvolumen beider Länder im Jahr 2023 mit 55 Milliarden Euro seinen bisherigen Höchststand, bereits im Jahr 2022 wurde mit 51,6 Milliarden der bis dato bestehende Rekord geknackt. Laut dem Auswärtigen Amt sind derzeit über 8.000 deutsche Unternehmen sowie türkische Unternehmen mit deutscher Kapitalbeteiligung in der Türkei tätig, und die Tendenz ist steigend. Auf der gemeinsamen Pressekonferenz am 19. Oktober 2024 verkündete Bundeskanzler Olaf Scholz, dass man auf der bisherigen wirtschaftlichen Zusammenarbeit »weiter aufbauen« werde.

Tim Krüger schrieb an dieser Stelle zuletzt am 12. September 2024 über die Verteidigung der syrisch-kurdischen Grenzstadt Kobanê gegen den Islamischen Staat.

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