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Aus: Ausgabe vom 05.11.2024, Seite 1 / Titel
Soziale Ungleichheit

Wo die Mitte schmilzt

Studie zur Einkommensungleichheit: Die Armut in der Republik wächst, die Mittelschicht hat mehr und mehr Existenzsorgen
Von Susanne Knütter
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Zwischen Abstiegsangst und abgestiegen. Szene vor der Deutschen Bank

Das Elend wird größer. Wer mit offenen Augen durch die Straßen der Großstädte geht, kann es nicht übersehen. Eine Studie der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung (HBS) liefert dazu jetzt neue Daten. Die Kurzfassung: Armutsquote und Ungleichheit befinden sich auf einem neuen Höchststand. Besonders die schwere Armut ist in den 2010er Jahren gewachsen, der Abstand der Armen zur Mittelschicht größer geworden, dort wiederum wachsen die Existenzsorgen. Das ist der Stand des Jahres 2021. Die große Teuerung der folgenden Jahre bilden diese Daten noch nicht einmal ab.

Die wichtigste Botschaft vermittelt der am Montag veröffentlichte Verteilungsbericht fast nebenbei: Ungleichheit ist kein Zufall. Die Entwicklung zeigt: Bereits in den späten 1990er und früher 2000er Jahren gab es in Deutschland einen deutlichen Sprung in der Einkommensungleichheit. Danach verharrte sie einige Zeit auf erhöhtem Niveau. Die nun ausgewerteten, neuesten verfügbaren Daten des sogenannten Sozioökonomischen Panels zeigen, dass sich der Anstieg der Ungleichheit seit den 2010er Jahren weiter fortgesetzt hat. Lag der Gini-Koeffizient, der die Ungleichheit mit Werten zwischen null und eins angibt, im Jahr 2010 noch bei 0,282, kletterte er bis 2021 auf einen neuen Höchststand von 0,310.

In realen Zahlen heißt das: Im Jahr 2021 lebten nach den Daten des Panels 17,8 Prozent der Menschen in Deutschland in Armut. Für einen Single bedeutete das, weniger als 1.350 Euro netto zur Verfügung zu haben. 11,3 Prozent lebten sogar in strenger Armut – mit höchstens 1.120 Euro im Monat als Alleinstehende. 2010 lagen die beiden Quoten noch bei 14,2 bzw. 7,8 Prozent. Besonders betroffen sind nach wie vor Frauen, Kinder, junge Erwachsene und Ostdeutsche. Überdurchschnittlich betroffen sind Menschen mit Migrationshintergrund, Erwerbslose und Menschen, die maximal den Hauptschulabschluss oder keinen beruflichen Bildungsabschluss haben. 40 Prozent dieser Armen und 20 Prozent derjenigen, deren Einkommen etwas oberhalb der Armutsgrenze liegt, haben keine finanziellen Rücklagen, um kurzfristige Notlagen zu überbrücken. Zehn Prozent waren demnach nicht in der Lage, abgetragene Kleidung zu ersetzen.

Infolge der Coronapandemie und des Inflationsschubs der vergangenen Jahre dürfte sich die Situation noch einmal verschärft haben. Darauf deuten die Angaben zu Existenzängsten hin. Deutlich mehr als die Hälfte der unteren Einkommenshälfte, aber auch knapp 47 Prozent der oberen Mittelschicht fürchteten im vergangenen Jahr, ihren Lebensstandard zukünftig nicht mehr halten zu können.

Bettina Kohlrausch, wissenschaftliche Direktorin des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut der HBS, das für die Untersuchung verantwortlich ist, sagte, mit der wachsenden Armut kehrten auch immer mehr Menschen dem politischen System den Rücken. Deshalb sei »das Teilhabeversprechen« der »sozialen Marktwirtschaft« »glaubhaft zu erneuern«. Gestärkt werden müssten dafür »Tarifverträge, eine auskömmliche gesetzliche Rente und eine leistungsfähige öffentliche Infrastruktur«.

Statt dessen wird in der Daseinsfürsorge gekürzt. Aussichten auf einen Job werden schlechter, die Sanktionen gegen Bedürftige härter. So meldete das Ifo-Institut am Montag, die Unternehmen seien »zurückhaltender bei der Personalplanung«, während Bild über eine interne Weisung der Bundesagentur für Arbeit berichtete, wonach »unkooperative Erwerbslose zu Ein-Euro-Jobs verpflichtet werden« sollen.

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