Kurachowe vor Einkreisung
Von Lars LangeKurachowe liegt nur 25 Kilometer westlich der Großstadt Donezk. 18.220 Einwohner hatte die Frontstadt im Donbass vor dem Krieg, jetzt ist sie weitestgehend verlassen. Nur noch wenige Menschen harren aus, während russische Einheiten bereits die östlichen Datschensiedlungen kontrollieren, die in eine Einfamilienhaussiedlung übergeht.
Als typische sowjetische Planstadt verfügt Kurachowe im Westen über einen ausgedehnten Kern von mehrstöckigen Plattenbauten. Dieser Häusertyp hat den russischen Truppen in der Vergangenheit erhebliche Schwierigkeiten bereitet – etwa in Awdijiwka, Wugledar oder Bachmut. Die meist fünfstöckigen Gebäude mit ihren massiven Betonkonstruktionen und ausgedehnten Kellern eignen sich hervorragend zur Verteidigung. Monate dauerte es früher, bis die russischen Angreifer solche Stadtgebiete einnehmen konnten.
Doch das hat sich jetzt geändert. Der russischen Armee gelingt es zunehmend schneller, die Siedlungen einzunehmen und weiter vorzurücken, etwa Selidowe, das in wenigen Wochen fiel. Die russischen Gebietsgewinne steigen drastisch: Während im Oktober 2022 nur 15 Quadratkilometer erobert wurden, waren es in diesem September bereits 389 und im Oktober sogar 559 Quadratkilometer. Allein am Sonnabend gelang es der russischen Armee, 49 Quadratkilometer einzunehmen, also mehr als doppelt soviel, wie im vergangenen Jahr in einem ganzen Monat.
Kurachowe wurde als Arbeitersiedlung für das gleichnamige Kraftwerk gebaut. Zwar wäre die Einnahme des Städtchens signifikant, doch droht den Streitkräften der Ukraine eine noch größere Niederlage. Denn es hat sich um Kurachowe eine Tasche gebildet, die die russische Führung jetzt zu einem Kessel abschnüren will. Die ukrainischen Streitkräfte sind in einem weitläufigen Gebiet von über 20 Kilometern Breite und etwa 25 Kilometern Tiefe zunehmend bedroht. In dieser taktisch prekären Zone, die sich mehr und mehr zu einer gefährlichen Frontvorwölbung entwickelt, operieren laut dem ukrainischen Portal Militaryland nominal 32 Brigaden und mehrere Bataillone. Theoretisch entspräche dies einer Gesamtstärke von über 100.000 Soldaten, doch die tatsächliche Zahl dürfte deutlich niedriger liegen. Grund dafür ist die Entscheidung Kiews, vorrangig neue Brigaden aufzubauen, statt die bestehenden Einheiten personell aufzufüllen. Dennoch ist hier ein bedeutender Teil der ukrainischen Streitkräfte eingesetzt, um die Front zu stabilisieren.
Dabei haben die russischen Kräfte in der Vergangenheit nicht versucht, einen echten Kessel herbeizuführen, in dem die gegnerischen Truppen vollständig abgeschnitten sind. Statt dessen zielt die russische Militärführung auf eine sogenannte operative Einkesselung ab, bei der alle logistischen Versorgungswege unter eigener Feuerkontrolle liegen. Diese Taktik folgt einem jahrtausendealten militärischen Prinzip, das der chinesische Kriegstheoretiker Sun Tzu in seinem Werk »Die Kunst des Krieges« – einer Pflichtlektüre in der russischen Armee – beschrieben hat: »Lasse ein Schlupfloch frei, wenn du eine Armee umzingelst. Das bedeutet nicht, dass es dem Feind erlaubt wird zu fliehen. Der Grund ist, ihn glauben zu machen, dass es einen Weg in die Sicherheit gibt, um ihn daran zu hindern, mit dem Mut der Verzweiflung zu kämpfen. Denn du darfst einen verzweifelten Gegner nicht zu hart bedrängen.«
Diese Strategie hat sich für die russischen Streitkräfte als effektiv erwiesen. Schätzungen zufolge gelingt es auf diese Weise, über 50 Prozent der operativ eingekesselten Gegner zu neutralisieren, also zu töten oder schwer zu verletzen – und das bei relativer Schonung der eigenen Kräfte. Nach diesem Muster gingen die russischen Verbände bereits in Bachmut, Awdijiwka, Wugledar und Selidowe vor. Die aktuelle Entwicklung um Kurachowe kann darauf hindeuten, dass sich dieses Szenario nun wiederholen könnte. Der Fall dieser Stadt würde den russischen Streitkräften den Weg nach Pokrowsk öffnen – und durch die bewährte Taktik der operativen Einkesselung erneut kampferprobte ukrainische Verbände entscheidend schwächen.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Joachim S. aus Berlin (5. November 2024 um 07:39 Uhr)Wie interessant, dass Lars Lange die Verbindung von uralten und modernen Militärstrategien herstellt. Allerdings heißt der Altmeister, der die berühmten Strategeme chinesischer Militärführung aufgeschrieben hat, nach moderner Pinyin-Transkription Sunzi. Sun Tzu (oder Tse) war eine in den 50er und 60er Jahren in Europa viel verwendete Schreibweise, die allerdings wegen ihrer deutlich größeren Abweichung von der wirklichen Aussprache des Hanchinesischen weitgehend aus der Mode gekommen ist. Dass seine Strategeme im Gegensatz dazu hochmodern bleiben: Wer hätte das gedacht!
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