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Aus: Ausgabe vom 05.11.2024, Seite 15 / Natur & Wissenschaft
Meeresschutz

Der Ökonomie unterworfen

Vor 40 Jahren: Die Internationale Nordseeschutzkonferenz wird von der Aktionskonferenz Nordsee kritisiert
Von Burkhard Ilschner
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Hochöfen an der Nordseeküste (IJmuiden, Niederlande)

Eine Demonstration zieht durch die City zum Marktplatz. Aus straßenbreiten Spruchbändern wickeln Teilnehmer eine mehrteilige Leiter, und lehnen sie gegen das Rathaus. Einer von ihnen klettert hoch und befestigt an der Fassade ein riesiges Transparent mit zentralen Forderungen der Kundgebung. Die Stoffbahn hängt dort tagelang.

Heute wäre so etwas wohl undenkbar ohne Eingreifen der Staatsgewalt – in Bremen indes hat es sich vor gut 40 Jahren so abgespielt: Am 28. Oktober 1984 beendete eben diese Rathausplakatierung in der Hansestadt einen Kongress, zu dem sich mehr als 750 Meeresumweltschützer etlicher Nordseeanrainerstaaten versammelt hatten. Anlass des »Aktionskonferenz Nordsee« (AKN) betitelten Treffens war die drei Tage später geplante Internationale Nordseeschutzkonferenz (INK) der Regierungen von Belgien, der BRD, Dänemark, Frankreich, Großbritannien, den Niederlanden, Norwegen und Schweden sowie Delegierten der Brüsseler EG-Kommission.

In den 1970er und 1980er Jahren war das kranke Meer in der BRD und Nordwesteuropa ein Dauer­thema. Das mediale Interesse galt vor allem der Nordsee, denn in diesem Randmeer des Nordatlantiks kumulierten die Symptome anthropogener Rücksichtslosigkeit. Debatten um die Ostsee gab es auch, aber deutlich schwächer.

Spektakuläre Tankerunfälle, rücksichtslose Abfallentsorgung durch giftige und ungeklärte Abwässer über die Flüsse ins Meer, Seeverbrennung von Chemieabfällen, Verklappung von Baggergut und anderes Fehlverhalten verseuchten Flora und Fauna, bewirkten krankhafte Veränderungen an Fischpopulationen und drastisch schwindende Bestände. Gigaplanungen küstennaher Industrieansiedlung sorgten für ökologische und soziale Konflikte. Ein AKN-Flyer geißelte sinngemäß, die Schädigung der Nordsee und die hohen Arbeitslosenzahlen in der Küstenregion hätten dieselbe Ursache: ein Wirtschaften ohne Rücksicht auf Mensch und Natur.

5 Minuten vor 12

1980 hatte in der BRD der Rat der Sachverständigen für Umweltfragen (SRU) der Regierung die Leviten gelesen: In einem 500 Seiten starken »Sondergutachten« hatten die Forscher in einer damals als herausragend geltenden Datensammlung die »Umweltprobleme der Nordsee« beschrieben. Der Wälzer gipfelte in der knappen, aber markanten Formulierung, ökologisch sei es für die heimischen Meere »5 Minuten vor 12«.

Die Politik reagierte hilflos und zaudernd: Statt zu handeln, lud man erst einmal die Nordseenachbarstaaten zu einer Konferenz nach Bremen ein, und zwar die jeweils für Umweltschutz zuständigen Ministerien. Allerdings gab es solche in den wenigsten Regierungen, auch nicht in der BRD. Fragen des Meeres- oder Küstenschutzes wurden hier oder da mitverwaltet: Für Fischerei waren meist die Agrarressorts zuständig, für Schiffahrt die Verkehrsressorts, Häfen oder Küsteninfrastruktur lag bei den Wirtschaftsressorts. Zwar feierte die westdeutsche Politik sich vorab für den großen Durchbruch in Richtung Meeresumweltschutz, tatsächlich erwies sich das Instrument INK – das Fischerei, Schiffahrt und Infrastruktur ausdrücklich ausklammerte – von vornherein als nicht nur stumpfes, sondern abgebrochenes Schwert.

Sobald sich zeigte, dass diese INK nur beschwichtigen, aber nichts wirklich ändern würde, formierte sich Widerstand. Überall in Westeuropa brach eine Zeit teils heftiger Konflikte zwischen Herrschenden und »Zivilgesellschaft« an. In der BRD machten Bürgerinitiativen mobil gegen strittige Industrieprojekte, Elbfischer blockierten den Fluss, Greenpeace und lokale Gruppen behinderten die Dünnsäureverklappung auf See, spektakuläre Aktionen richteten sich gegen Hafenerweiterungen von Emden bis Hamburg, um AKW-Baustellen in Brokdorf und anderswo tobten bürgerkriegsähnliche Schlachten, brachialer Küstenverbau zur Landgewinnung löste Demonstrationen aus: Der Glorienschein, der die Industrialisierung der Nachkriegs-BRD samt sogenanntem »Wiederaufbau« zum Glänzen bringen sollte, bröselte ökologisch wie sozial vor sich hin.

Um gegen die geplante INK politisch mobilzumachen, formierten sich mit Meerschutz befasste Naturschutzverbände der BRD und ihrer Nachbarländer mittels Bürgerinitiativen zu einem Bündnis, das – für 1984 geradezu sensationell – in der BRD sogar Unterstützung von Gewerkschaften des DGB erfuhr. In einem plakativ verbreiteten Zehnpunkteprogramm formulierte das Bündnis radikale Forderungen, gipfelnd in dem Appell an die INK, diese »zum Maßstab ihrer Politik zu machen – oder öffentlich zu erklären, warum sie dazu nicht willens sind«. Niemand erwartete ernsthaft, dass die INK dem nachkommen werde. In der Öffentlichkeit aber kam die Aktion gut an, denn als INK-Veranstalter war der unpopuläre Bundesinnenminister Friedrich Zimmermann (CSU) früh auf Konfrontation gegangen: Er hatte Gespräche mit Initiativen verweigert, Umweltverbände düpiert und selbst renommierte Forscher wegen kritischer Kommentare öffentlich zurechtgewiesen.

Die »Aktionskonferenz Nordsee« profitierte von dieser Stimmung, man versammelte zwei Tage lang Hunderte engagierter Menschen aus dem In- und Ausland und erweiterte in intensiver Auseinandersetzung das Zehnpunkteprogramm zu einem fundierten »Nordseememorandum« – das drei Tage später der INK offiziell überreicht wurde. Es enthielt teilweise richtungweisende Forderungen für einen schützenden Umgang mit Meer und Küste, die aber kurzfristig kaum zum Zuge kamen.

Unverbindlich

Denn die Ministerrunde beriet ihrerseits zwei Tage lang, phasenweise ziemlich heftig. Das Ergebnis war mehr als flau, Medien kommentierten das »Deklaration« betitelte Schlussdokument als »Sammelsurium von Unverbindlichkeiten, die (…) niemandem wehtun«. Schon damals erwies sich europäische Politik als von nationalen Egoismen geprägt: Keiner gab im Streit eigene Positionen auf, es wurde gefeilscht, bis alle zustimmten. Zimmermann feierte es denn auch als herausragendes Ergebnis, dass »alle erstmals an einem Tisch gesessen haben«. Zwei Fakten markierten letztlich den politischen Misserfolg: Zum einen besaß die »Deklaration« keine völkerrechtliche Verbindlichkeit und hatte so nur Appellcharakter. Zum anderen legte eine Klausel fest, vereinbarte Schritte seien nur dann durchzuführen, wenn deren »wirtschaftliche Verfügbarkeit gegeben« sei – der angeblich beabsichtigte Meeresumweltschutz blieb dem Primat der Ökonomie unterworfen.

INK-»Deklaration« und AKN-»Nordseememorandum« detailliert und fachlich-politisch zu vergleichen wäre hier zu umfangreich und vor allem nicht mehr aktuell. Daher soll an dieser Stelle versucht werden, die Bedeutung der beiden Konferenzen von 1984 für die Entwicklung deutscher und europäischer Meerespolitik zumindest kurz anzureißen.

Zunächst: Das Bündnis AKN fiel bald nach dessen Ende auseinander – erst die Achse Naturschutz–Gewerkschaft, dann auch die der Verbände und Initiativen untereinander. Soweit sie weiterexistieren, arbeiten sie heute oft in loser Form zusammen, etwa in Arbeitsgemeinschaften beim Forum Umwelt & Entwicklung (FUE) oder international im Bündnis Seas at Risk (SAR). Aus dem Koordinationskreis, der den Kongress AKN organisiert hatte, entstand 1985 unter demselben Namen ein eigener Verein, der zwar 25 Jahre eigenständig oder mit anderen aktiv für Meeresschutz arbeitete. 2010 wurde dieser Verein aufgelöst.

Das Regierungsinstrument INK hatte noch 22 Jahre Bestand, es gab weitere Treffen in London (1987), Den Haag (1990), Esbjerg (1995), Bergen (2002) und Göteborg (2006). Zwar erbrachten sie mehrere durchaus richtungweisende Impulse, die aber nie unmittelbar umgesetzt wurden: INK-Deklarationen blieben nämlich weiterhin unverbindlich – und ausdrücklich dem Primat der Ökonomie unterworfen. Nur zivilgesellschaftlicher Druck sorgte vereinzelt für politische Wirkung in anderen Strukturen. 1995 ging es etwa um Chemiepolitik, was dann in die EU-Richtlinie REACH mündete. Andere INK-Ergebnisse wirkten – teils Jahre später – in Beschlüsse der UN-Schifffahrtsorganisation IMO oder in die EU-Fischereipolitik. Überhaupt nahmen spätestens seit 1995 erst die OSPAR-Organisation für den Nordostatlantik und dann die EU-Kommission selbst die Meerespolitik in die Hand und in den Griff.

»Schutz durch Nutzung« – heute klebt das heuchlerische Etikett »nachhaltig« auf fast allem. Dabei sind einige Forderungen von 1984 noch immer unerledigt, viele neue Belastungen (Plastikmüll, Offshoreindustrialisierung) hinzugekommen – und weitere (CCS, Tiefseebergbau) drohen. Die (globale) Meeresumwelt ist auch 40 Jahre später in Gefahr.

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