»Menschen können nur aus dem Einzelschicksal lernen«
Von F.-B. HabelIn Frankfurt am Main lebt und arbeitet die Filmhistorikerin Rosemarie Killius, die derzeit die erste Biographie des Schauspielers Joachim Gottschalk schreibt. Der 1904 in Calau geborene Künstler wurde nach Jahren an verschiedenen Theatern 1938 für den deutschen Film entdeckt und wurde bis 1941 mit Hauptrollen in sieben Filmen zu einem Publikumsliebling. Im Stuttgarter Engagement hatte er seine jüdische Kollegin Meta Wolff kennengelernt und sie 1930 geheiratet. Sie erhielt wegen der Rassengesetze der Nazis Auftrittsverbot, Gottschalk sollte sich scheiden lassen – kam der Aufforderung aber nicht nach. 1941 sollte Meta Gottschalk mit dem achtjährigen Sohn Michael ins KZ Theresienstadt deportiert werden, und Joachim Gottschalk erhielt gleichzeitig die Einberufung zum Kriegsdienst. Gemeinsam nahmen sie sich in ihrer Wohnung in Berlin-Grunewald mit Gas das Leben.
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Als Filmhistorikerin beschäftigen Sie sich schon seit vielen Jahren mit der Aufarbeitung von Künstlerschicksalen während der Nazizeit. Ich nenne nur den Schauspieler Adolf Wohlbrück, der zwar bis 1936 noch in Deutschland arbeiten konnte, der aber wegen jüdischer Vorfahren verfolgt wurde. Er konnte sich nach England absetzen und änderte seinen Namen in Anton Walbrook, unter dem er international bekannt wurde und seine Möglichkeiten nutzte, um gefährdeten deutschen Kollegen zu helfen. Die Schauspielerin Renate Müller, die sich weigerte, jüdische Freunde zu verraten, wurde 1937 in den Selbstmord getrieben. Am Mittwoch jährt sich der Todestag von Joachim Gottschalk. Ihre Biographie über ihn steht kurz vor dem Abschluss. Warum arbeiten Sie speziell die Jahre des deutschen Films in den Jahren des deutschen Faschismus auf?
Das ist ganz einfach: Ich bin Historikerin, und mein Schwerpunkt heißt Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg. Meine jahrelange Lehrtätigkeit an der Goethe-Universität brachte mich dazu, auch Künstler von Bühne und Film zu erforschen. Das interessiert auch junge Leute sehr. Warum? Wegen der großen Sprach- und Schauspielkunst. Und weil diese Künstler uns als Menschen interessieren. Die Rolle des Künstlers in der Diktatur muss man sich sehr genau anschauen und darf nicht pauschalisieren. Was hat wer wann gemacht und warum?
Ich veranstalte regelmäßig im Frankfurter Raum Seminare über Filme der 30er und 40 er Jahre, bin dazu angefragt bei der Murnau-Stiftung und anderen Institutionen.
Um herausragende Künstler zu ehren, habe ich bisher drei Gedenktafeln für meine Favoriten organisiert, was viel Zeit und Mühe gekostet hat: in Frankfurt am Main 2014 mit Hilfe der Stadt und privaten Spendern für Joachim Gottschalk; in Wien 2018 für Gustav Diessl, bekannt aus Filmen von Fritz Lang und G. W. Pabst, und seine aus der heutigen Republik Moldau stammende Frau, die Opernsängerin Maria Cebotari, ebenfalls mit privaten Spenden; schließlich in Berlin 2023 für Adolf Wohlbrück. Auch diese Tafel wurde ausschließlich mit privaten Spenden finanziert – die Stadt Berlin hatte kein Interesse und kennt ihn wohl auch nicht, obwohl er noch 1960 für den Sender Freies Berlin gearbeitet hatte.
Und ich frage heute: Warum ist die Gottschalk-Büste von Knud Knudsen aus dem Foyer der Volksbühne verschwunden? Sie soll jetzt im Stadtmuseum Berlin sein. Ich habe mich vor etwa zwölf Jahren darum bemüht, dass sie in die Volksbühne kommt. Dort stand sie eine Weile.
Joachim Gottschalk agierte als Theaterschauspieler unter anderem in Cottbus, Stuttgart und Leipzig, ehe er 1938 an die Berliner Volksbühne kam. Im selben Jahr wurde er ein Filmliebling an der Seite von Schauspielerinnen wie Brigitte Horney, Paula Wessely und Ilse Werner, während seine Frau als Schauspielerin nicht mehr arbeiten durfte, da sie Jüdin war. Halten Sie sein Schicksal für typisch?
Jetzt, in dieser schrecklichen, turbulenten Zeit, wo der Antisemitismus wieder so präsent ist, habe ich mich entschlossen, die Biographie über Gottschalk zu schreiben als Lehrbeispiel, weil die Menschen nur aus dem Einzelschicksal lernen können. Und jede Biographie muss gesondert betrachtet werden.
Stellen Sie sich vor, der Staat will bestimmen, dass zwei Menschen sich trennen sollen! Das ist doch ungeheuerlich von dieser Nazibande! Gottschalk war ja der große Star in Frankfurt am Main, und er wurde deshalb aus Frankfurt verjagt. Vor mehr als zehn Jahren fing ich an, über Gottschalk zu recherchieren, war auch bei Anneliese Uhlig in Kalifornien, die mit ihm in der Volksbühne im Stück »Diener zweier Herrn« auf der Bühne stand.
Mit Brigitte Horney und Joachim Gottschalk hat Regisseur Hans Schweikart »Das Mädchen von Fanö« nach einem Roman von Günther Weisenborn adaptiert. Nach Gottschalks Tod schrieb er die Novelle »Es wird schon nicht so schlimm!« Unter dem Titel »Ehe im Schatten« wurde sie 1947 von Kurt Maetzig bei der Defa verfilmt und in ganz Deutschland ein Erfolg. Finden Sie, dass der Film der Person von Gottschalk und der seiner Frau gerecht wird?
Ich schätze den Film von Maetzig sehr, der auch sein eigenes Schicksal (die Mutter war jüdischer Abstammung und brachte sich um) damit verarbeitet hat. Das ist ein Schlüsselfilm, der subtil auf Gottschalks Schicksal aufmerksam macht, wenngleich ich auch einige Punkte herausgearbeitet habe, die nicht mit der Realität übereinstimmen. Ein großes Problem ist gerade für mich im letzten Drittel meines Buches das Thema »Kinder in den Tod mitnehmen«. In Maetzigs Film kommt kein Kind vor. Kann man sich dann leichter umbringen? Darf ich ein Kind mitnehmen? Ungeheuerlich ist, dass der fanatische Goebbels seinen kleinen Sohn Helmut und die fünf Töchter umbrachte!
Dem breiten Publikum dürften Joachim Gottschalk und seine Filme nichts mehr sagen. Bestenfalls in Programmkinos der Großstädte kann man ihnen noch begegnen. Fernsehanstalten – auch die öffentlich-rechtlichen – nehmen ihren kulturellen Auftrag, Geschichtswissen auch durch alte Filme zu vermitteln, nicht mehr ernst, weigern sich bis auf Ausnahmen überhaupt, in Schwarzweiß gedrehte Filme zu senden. Nachdem sich auch 3sat davon verabschiedet hat, bleibt nur noch das Arte-Programm, dessen Macher sich noch für historische Stummfilme engagieren. Wie beurteilen Sie diese Entwicklung?
Sie ist eine Schande für das Fernsehen und zeigt die Dummheit der Verantwortlichen dort. Gerade Schwarzweißfilme haben eine große Ausdruckskraft und ich schätze auch besondere Stummfilme, die in Habitus, Mimik und Gestik Sprache ausdrücken können, die heute verloren scheint.
Rosemarie Killius hat u. a. in Madrid und Paris Geschichte, französische und spanische Philologie studiert und wurde in Biographieforschung promoviert. Sie publiziert Aufsätze und Bücher über die Zeit des deutschen Faschismus und der Weltkriege. Ihr Engagement in Russland wurde mit dem Bundesverdienstkreuz gewürdigt. Als Expertin für die Filmgeschichte der 1930er bis 1950er Jahre ist sie freie Mitarbeiterin bei der Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung und am Deutschen Filminstitut/Filmmuseum (DFF).
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