Rosa-Luxemburg-Konferenz am 11.01.2025
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Aus: Ausgabe vom 06.11.2024, Seite 12 / Thema
Pädagogik in der BRD

Selbständig werden

Der kritische Deutschunterricht und das Lesebuch »Drucksachen«. Eine Geschichte aus dem »Roten Jahrzehnt« der Bundesrepublik
Von Sven Gringmuth
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Erziehung zur Selbständigkeit und Kritik: In den 1970er Jahren stieg das politische Bewusstsein in den Bildungseinrichtungen der BRD

Beim kritischen Deutschunterricht handelte es sich keinesfalls um ein geschlossenes Programm, vielmehr um eine äußerst heterogene Bewegung, angetrieben von Akteuren aus verschiedenen politischen Lagern mit verschiedenen Motivationen: engagierte Germanisten auf der Suche nach einer Wissenschaft mit mehr Praxisbezug, von der Protestbewegung 1967/68 politisierte Lehrer und Studierende auf der Suche nach dem revolutionären Subjekt und progressive Bildungspolitiker auf der Suche nach dem mündigen Bürger. Zudem wurde der Begriff selbst unterschiedlich aufgefasst: »Kritischer Unterricht« stand in Verbindung mit der damals neuen Schulform Gesamtschule. Zudem nahm er Bezug auf die Rahmenrichtlinien, mit denen die alten Bildungspläne in einigen Bundesländern überarbeitet oder ersetzt werden sollten. Auch alternative Arbeitsformen im Unterricht (Projektunterricht und Gruppenarbeit) klangen mit an; das bedeutete methodisch Schülerorientierung. Und dann gab es noch das konservative Verständnis. Denn für die CDU war kritischer Deutschunterricht ganz einfach: »Lesen lernen mit Ulrike Meinhof«.¹

Der Begriff wurde jedenfalls bald zu einem Label, auch wenn er vage blieb. Die Anhänger des kritischen Deutschunterrichts sahen dieses ­Problem und versuchten, den Begriff genauer zu fassen. Heinz Ide bestimmte ihn für die Gruppe »Bremer Kollektiv« folgendermaßen: »Jeder Lehrer nimmt für sich in Anspruch, er erziehe zu ›selbständigem, kritischen Denken‹. Eine unkritische Literaturbetrachtung nimmt ihren Gegenstand an und für sich und vermittelt ihn weiter, ohne die historische Differenz zu bedenken, und vor allem, ohne die gesellschaftliche Funktion zu berücksichtigen, die dem unkritisch Transferierten unter den veränderten gesellschaftlichen Bedingungen zukommt«.² Kritisches Denken bedeutet für Ide also historisch-kontextualisierendes Denken einerseits und ideologiekritisches Denken andererseits.

Emanzipatorische Lebenshilfe

Geprägt wurde der Begriff von Hubert Ivo. Seine Veröffentlichung »Kritischer Deutschunterricht« von 1969, ein schmaler Band in rotem Umschlag, gab die Marschrichtung vor. Ivo beschrieb Kritik zunächst einmal als Ablehnung des Alten, Überkommenen, sodann konkret als Hilfe zur Intervention in gesellschaftliche Prozesse: »Kritischer Deutschunterricht kann nur heißen, Schülern durch das Medium der Beschäftigung mit Sprache und Literatur zu helfen, sich im Handlungszusammenhang gesellschaftlicher Vermittlungsprozesse zu verstehen. Das intendierte Selbstverständnis ist nicht zu gewinnen, wenn sich die Gedanken in diesem Unterricht in einer hehren Sphäre gesellschaftsfreier Ideale und Werte (…) bewegen. (…) Seine kritische Funktion wird der Deutschunterricht (…) wahrnehmen, wenn deutlich wird, dass die Beschäftigung mit Sprache und Literatur die Schüler (…) in emanzipatorischer Absicht zu kritischer Reflexion befähigt.« Dies beinhaltet für Ivo einige »zentrale Aufgaben«, so vor allem: »Erweiterung und Sicherung der Sprachkompetenz der einzelnen (…) und Ausbildung einer kritischen Kompetenz gegenüber Steuerungsfunktionen der Sprache« – und im Bereich des Literaturunterrichts die »Fähigkeit zu reflektierter Rezeption«.³

Lebenshilfe solle der Deutschunterricht sein, es brauche Lehrer, die danach fragen, was die Schüler gebrauchen können, und dann den Stoff gemeinsam mit der Klasse diskutieren. Von Wolfgang Klafkis didaktischen Überlegungen ausgehend, stand der kritische Deutschunterricht für Schülerorientierung sowie für eine die Lebenssituation der Schüler als Ausgangspunkt für alle unterrichtlichen Planungen und Aktivitäten fokussierende Didaktik.⁴

Heinz Ide fasste diesen, bis dato neuen, Fokus zusammen: »Überlegungen zum Literaturunterricht gehen gemeinhin aus vom Gegenstand, von den Texten also, und fragen, wie sie zu vermitteln seien. Sie sollten aber ausgehen von den objektiven Interessen der Schüler und fragen, was und warum es gelehrt werden müsse. Man muss wissen, was die Schüler gebrauchen werden.«⁵

Dazu brauche es eine »Analyse der Situation der Betroffenen«. Hierzu zählen für Ide unter anderem die »gesellschaftliche, alters- und geschlechtsspezifische Situation«. Die Hessischen Rahmenrichtlinien sekundieren an dieser Stelle: »Die Frage, mit welchen Texten müssen sich die Schüler mit Rücksicht auf ihre gegebene und zu erwartende Lebenssituation beschäftigen und mit welchen sollten sie sich beschäftigen – führt dazu, Texte im Hinblick auf ihre Verwendungszusammenhänge zum Gegenstand von Unterricht zu machen. Das bedeutet: Bei der Textauswahl muss zugleich eine kritische Bestimmung der Schülerbedürfnisse stattfinden und geprüft werden, auf welche Weise die Beschäftigung mit einer Textsorte der Emanzipation dienen kann.«⁶ Sollte das vormals passive »Objekt Schüler« lediglich an die Literatur »herangeführt« werden, so ist der Schüler nun ein aktives, handelndes Subjekt, »einer, der aktiv mit Texten umgeht, d. h. sie nicht nur ›betrachtet‹, sondern sie sammelt, vergleicht, kritisch analysiert, verändert und in eigenen Kommunikationssituationen aktiv verwendet«.⁷

Mit welchen Materialien sollte dieser neue Unterricht durchgeführt werden? Heinz Ludwig Arnold sprach sich konsequenterweise für Loseblattsammlungen aus, die in Materialordnern angelegt werden sollten, um »als Protokolle zu dienen (…) und die Erlebniswelt der Schüler (…) und die auf sie einwirkende gesellschaftliche Wirklichkeit« festzuhalten und zugleich die »Offenheit und Wandelbarkeit der Erkenntnis« zu dokumentieren.⁸ Materialordner zu Themenkomplexen wie: »Krieg und Frieden, Arbeit, Staat, Gesellschaft, Parteien, Recht, Religionen, Ideologien, Sozialismus; diese Liste wäre zu erweitern«.⁹ Im Gegensatz zum klassischen Deutsch-Lese- oder -Arbeitsbuch sei hier wirkliche Offenheit, Freiheit und gesellschaftliche Relevanz zugleich gegeben.

Für die Arbeiterklasse

Aber auch neue Schulbücher für die kommende, neue Gesellschaft – zumal neue Lesebücher – sollten eingeführt werden. Diesen Gedanken brachten linke Intellektuelle, Wissenschaftler, aber auch Schulbuchverlage und Kultusministerien voran. Heinz Ludwig Arnold formulierte dazu sicherlich keine Einzelmeinung, als er schrieb: »Der formale Aspekt der Geschlossenheit signalisiert einen Gesellschaftsbegriff, den die Klassengesellschaft des 19. Jahrhunderts realisiert hat. Obgleich er in Überbleibseln wie dem Lesebuch überlebte, stimmt dieser formale Aspekt mit der gegenwärtigen gesellschaftlichen Realität nicht mehr überein. (…) Die Gesellschaft, der dieses Lesebuch und dieser Deutschunterricht genuin entsprechen, ist einer pluralistisch organisierten und liberal orientierten Gesellschaft mit einem grundsätzlich demokratischen Selbstverständnis gewichen. In unserer Gesellschaft werden tradierte Werte nicht mehr unhinterfragt akzeptiert und fortgelebt. Programmatisch, und weithin auch sozial und politisch real, löst der Rationalismus den Irrationalismus ab. An die Stelle des ahistorischen Fatalismus tritt die Erkenntnis von der Veränderbarkeit der Verhältnisse. Für eine sich so neu begreifende Gesellschaft sind nicht mehr Gehorsam, unbedingte Autoritätsgläubigkeit, nationale Beschränkungen und Vertrauen in die Obrigkeit die Erziehungsziele der Schule. Die Schule dient zuallererst dem Kind, seiner Entwicklung, seiner Imagination, seiner Spontanität, seiner geistigen Unabhängigkeit. Sie soll kritisches Denken und Zweifeln fördern. Der Deutschunterricht der Zukunft soll und muss ein Gesellschaftsunterricht sein. (…) Der Deutschunterricht muss die Veränderbarkeit gesellschaftlicher Strukturen aufzeigen«.¹⁰

Noch pointierter und klarer war hier Valentin Merkelbach, der betonte, es sei für die Kinder der Arbeiterklasse wichtig, in Lesebüchern »ihre soziale Identität und die Lebensgeschichte ihrer Klasse« aufzufinden und diese dort »studieren« zu können, dies sei das eigentliche Problem des »Literaturunterrichts und des Lesebuchs« und nicht die Frage nach »Strukturen, Gattungen, Genres«.¹¹

Der bekannteste Versuch, diesem Gedanken Ausdruck zu verleihen und ein gänzlich neues Lese- und Arbeitsbuch für den Deutschunterricht zu erschaffen, ist die Reihe »Drucksachen«, die ab 1974 erschien. Gerade durch die erstmalig und radikal umgesetzte Sprengung der Gattungs- und Genregrenzen wurde ein Aufbruch markiert: Wer braucht die Trennung in Epik, Drama und Lyrik, in Zeitungsbericht und Novelle? Das proletarische Kind kenne sie nicht, es sehe in all diesen Texten nur eines: »Drucksachen«. Doch nicht nur diese Trennung wurde eingeebnet – die neue Generation von Lesebüchern »verzichtete (…) erstmals in der deutschen Lesebuchgeschichte auf die Trennung nach Schulformen«, so entstand ein »schulart­umgreifendes Arbeitsbuch«.¹²

Die »Drucksachen« gerieten rasch zum Gegenstand einer erhitzten öffentlichen Debatte. Kein Lesebuch wurde in der Folge bekannter. Die Skandalisierung des Werkes und die Politisierung der Auseinandersetzung, auch die Breite der Debatte bis ins Feuilleton der großen Tageszeitungen und via TV in die Wohnzimmer der bundesdeutschen Bürger, sind sicherlich auch damit zu erklären, dass Lesebücher von vielen Menschen geprüft und kritisiert werden können. In den 1970er Jahren etablierte sich die Meinung, die Lesebücher als Gradmesser für die Beschaffenheit des Deutschunterrichts anzusehen.

Das von Malte Dahrendorf verantwortete und in der Folge zäh von ihm verteidigte Lesebuch »Drucksachen« jedenfalls folgte in vielerlei Hinsicht den Tendenzen der Zeit: Ausgehend von »realen Bedürfnissen« und »zugrundeliegenden Lebenssituationen«, von »sozialen Problemen« und »Vorurteilen« der Schülerinnen und Schüler wurde eine wirkliche Alternative zum klassischen Lesebuch geschaffen – mit letztlich tragischem Ausgang. Die meist von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) organisierten öffentlichen Aussprachen zum damals neuen Lesebuch waren gut besucht, zu einer Veranstaltung in Bad Zwischenahn in Niedersachsen kamen beispielsweise 800 Personen – die meisten jedoch, um ihren Unmut kundzutun. Die reißerischen Schlagzeilen und Pseudoenthüllungsberichte (»Roter Schmutz auf Schulkinder«, Bayernkurier, 7. September 1974; »Schweinereien im Lesebuch«, Rheinischer Merkur, 27. September 1974; »Lesebuch verdummt ihre Kinder«, Stadtanzeiger Neuss, 27. September 1974;) taten ihre Wirkung: »›Drecksack‹, ›schmeißt den Kerl doch raus‹, hatten entrüstete Eltern gerufen, als ein Pädagoge in der Siegerlandhalle zu Siegen die ›Drucksachen‹ zu erläutern suchte; ›Wir sind empört‹, stand auf Flugblättern niedersächsischer Eltern in Bad Zwischenahn«.¹³

»Unter Mitarbeit von Ulrike Meinhof«

Die Junge Union blies zudem zum Großangriff auf SPD-Kultusminister Jürgen Girgensohn in Düsseldorf, dessen »Radikalenbücher« seien »antiamerikanisch«, »altmarxistisch«, »klassenkämpferisch« und (wie man bewusst fälschlicherweise behauptete) »unter Mitarbeit von Ulrike Meinhof« entstanden: »Es ist wieder ein Versuch, in das Bewusstsein unserer Kinder zu kommen. (…) Die Junge Union ruft alle verantwortlichen Bürger zum geschlossenen Widerstand auf!«¹⁴

Im Ergebnis sah sich der Verlag gezwungen gegenzusteuern. Im Frühjahr 1975 erschienen ganzseitige Anzeigen in Fachzeitschriften: »Unser Beitrag zur Versachlichung der Diskussion. Wir ändern folgende Texte in den Neuauflagen (…).« Im Ergebnis entfielen – in Abstimmung mit den Kultusministerien in NRW und Niedersachsen – die Texte von Ulrike Meinhof (»Monika im Kinderheim« und »Monika in der Schule«), außerdem »fehlt beispielsweise eine Sammlung von Schimpfwörtern für Lehrer, die von ›Affentöter‹ und ›Arschgeiger‹ über ›Stupidienrat‹ bis ›Tintenscheißer‹ reichte«, wie dem Spiegel auffiel.¹⁵

Allerdings bestätigten Verwaltungsgerichte die Zulassungsberechtigung der Schulbehörde für Lehrbücher, denn ein Schulbuch wird genehmigt, wenn es übereinstimmt »mit der verfassungsmäßigen Ordnung und mit den Aufgaben der politischen Bildung«, wenn es »didaktische Grundsätze und bewährte neue methodische Wege« berücksichtigt und wenn die »Stoffauswahl und Anordnung« den »Lehrplanrichtlinien der betreffenden Schulform, Schulstufe, des Schultyps, der Klasse und des Faches« entspricht bzw. seine »fachwissenschaftliche Orientierung« in »Übereinstimmung mit dem Stand der Forschung« ist.¹⁶ All dies wurde bestätigt, und so blieb »Drucksachen« – in überarbeiteter Form und dennoch mit Texten von Autoren wie Peter Hacks, Max von der Grün, Erika Runge, Günter Wallraff oder Franz Josef Degenhardt – über Jahre im Deutschunterricht in Unter- und Mittelstufen in beiden Bundesländern eingesetzt.

Dabei stand Malte Dahrendorf zunächst einmal vor einem Problem: Als er 1973 noch mit den Vorarbeiten befasst war, befand er, dass es »einfach an Texten fehlt, welche die Lage der handarbeitenden Schichten und von deren Kindern reflektieren und die für diese zugleich interessant und lesbar sind«. Es fehle sowohl an »kritisch-aufklärerischen« als auch an »unterhaltenden Texten, die das Arbeiterkind nicht im Sinne der Herrschenden manipulieren«.¹⁷ Und weiter: »Ein Lesebuch, das ernstzumachen versucht mit der Idee der Chancengleichheit, dem Arbeiterkind also nicht mit Anpassungshilfe dienen möchte, steht daher vor besonderen Schwierigkeiten, welche durch die oft spröde (…), selten kindadäquate, praktikable Lösungen aufzeigende, ›Literatur der Arbeitswelt‹ ebensowenig aufgehoben sind wie durch eine bestimmte Spezies neuer Kinderbücher (Ursula Wölfel, Susanne Kilian, Christine Nöstlinger …). Solange die Gesellschaft die Unterschichten als Lesepublikum im Stich lässt (und sie muss es, solange vorrangig marktwirtschaftliche Gesichtspunkte für die Produktion von Büchern gelten), solange bleibt der Didaktik nichts anderes übrig, als mindestens teilweise auf beschönigende fiktive und ›sachliche‹ Darstellungen zurückzugreifen, das heißt, in direkter Konfrontation mit antiaufklärerischer Literatur ein Stück Aufklärung und Befreiung zu leisten. Es wird eine der entscheidenden Aufgaben aller neuen Lesebücher sein, dem Unterschichtenkind in seiner Situation gerecht zu werden, aber nicht durch künstliche Anhebung der Interessen auf Mittelschichtenniveau (dies ist der heute umstrittene ›kompensatorische Ansatz‹), sondern durch Befähigung zur Analyse der eigenen Lage, durch Hilfen und Vorschläge zu Lösungen, zur Aktivierung und Ausstattung mit Handlungsmöglichkeiten. Das bewusste Eingehen auf die Bedürfnisse von Unterschichtenschülern muss die Auswahlgesichtspunkte der Herausgeber beeinflussen. Zum Beispiel wird die das bisherige Lesebuch im fiktionalen Bereich beherrschende Kurzgeschichte und die Dogmatik einer offenen, verunsichernden Literatur zurücktreten müssen gegenüber handfest-geschlossenen Strukturen, die einen ungleich höheren Verbreitungs- und Wirkungsgrad haben als die offenen, mit denen Unterschichtenschülern kaum zu helfen sein wird«.¹⁸

Das Lesebuch als Lebenshilfe und Emanzipationsinstrument, darum ging es Dahrendorf. Zentraler Gedanke bei der Erstellung der »Drucksachen« war zudem, dass Texte zunächst einmal nichts anderes als »Kommunikationssituationen« darstellen, die Schüler bewältigen können sollen, um selbst zur »aktiven und kritischen Teilnahme am politischen und kulturellen Leben befähigt zu werden«.¹⁹

Reale Kommunikationssituationen

Die Tatsache, dass Texte in dieser Lesebuchkonzeption tatsächlich nichts anderes sind als verschiedene gleichwertige ›Drucksachen‹, hat in der Folge zu einiger Empörung geführt. Dahrendorf rechtfertigte diesen Ansatz schon im Vorgriff: »Die Schüler sollen lernen, von den in der Gesellschaft produzierten Texten adäquaten Gebrauch zu machen (Gebrauchstexte, authentische klassische und moderne Literatur, nicht anerkannte Literatur).« Dieser »weite Literaturbegriff (Textsortenvielfalt)« kennzeichnet »Drucksachen« vor allen anderen Lesebüchern der Zeit. Diese Konzeption nahm Dahrendorf auch später immer wieder in Schutz, denn ihm ging es um die Akzentuierung »inhaltlicher Leserfunktionen«, um ein Buch, das »von der Zielsetzung aus (geht – S. G.), für reale Kommunikationssituationen zu qualifizieren« und so »Motivation und Interessen des Lesers« schafft, nicht um ein Werk, das »vom Interesse der Literaturwissenschaft bestimmt ist«.²⁰

Und so behandelte etwa das 1974 erschienene Lesebuch »Drucksachen B8« für die Sekundarstufe I auch ausschließlich Themenfelder – keine Gattungen, Textstrukturen, Autorenbiographien oder literaturhistorische Chronologien. Um ein Beispiel für den Stil des Buches zu geben, seien die ersten drei Themenfelder genannt: »Wessen Recht ist dieses Recht?« (beinhaltend Auszüge aus dem Comic »Jerry Cotton«, Texte aus einer Tageszeitung und Texte von Bertolt Brecht, Frederik Hetmann und Alexander Solschenizyn), »Acht-Stunden-Tag« (beinhaltend Zeitungstexte, Schlagersongtexte und Texte von Günter Wallraff, Peter Weiss, Christian Geissler, Max von der Grün und Heinrich Heine) und »Schöner Wohnen« (beinhaltend Gesetzestexte aus der Bauordnung für Berlin, Mietverträge, Plakate, Inserate und Texte von Helga Reidemeister, Christa Reinig, Ursula Wölfel).

Im Lehrerhandbuch zu diesem Band heißt es schlicht: »Die Sequenzen sind durchweg thematisch orientiert. Sie berücksichtigen – entsprechend der Gesamtkonzeption – Ausschnitte der Wirklichkeit, die nach Ansicht des Autorenteams für die Schüler bedeutsam sind oder Bedeutung gewinnen können. Dabei werden solche Wirklichkeitsausschnitte, die in früheren Lesebüchern vernachlässigt worden sind (zum Beispiel Konfliktsituationen, Gruppeninteressen, Randgruppenprobleme, Sexualität), entschieden betont, weil ohne eine Auseinandersetzung mit ihnen eine begründete Position in der heutigen Welt nicht mehr möglich scheint.«²¹

Auch die Anordnung wird ebenso knapp begründet: »Der ›Gebrauch‹ von Texten (…) wird sicherlich manchem Deutschlehrer unangemessen erscheinen. Der Text, womöglich ein poetischer, zur Quelle degradiert, als Argument missbraucht!« Aber: »Hauptkriterium ist hier die Frage, welche Orientierungshilfe der Text im angesprochenen Problemkreis leisten kann.«²²

Aufschlussreich für die Rekonstruktion des kritischen Deutschunterrichts sind vor allem die in den »Lernzielen« und den »Hinweisen zum Unterricht« formulierten Anmerkungen, so etwa zu Wolfgang Borcherts »Lesebuchgeschichten« (»Erkennen, welche gesellschaftlichen Gruppen und Kräfte Borchert in diesem Text für die Entstehung von Kriegen verantwortlich macht«), zu einem Artikel aus der Bild (»Gibt es ›verbrecherische Neigungen‹? Was will Bild mit solch einem Artikel erreichen?«), zu einem Text von Ralph Giordano über Slums in US-Großstädten (»Am Beispiel erkennen, dass es auch von dem sozialen Zustand einer Gesellschaft abhängt, in welcher Weise in dieser Gesellschaft die Rechtsnormen von einzelnen Gruppen befolgt werden können«), zu Wallraffs Text »Im Akkord« (»Bei der Betrachtung des Textes kann es nicht nur darum gehen, Wallraffs Kritik an den Arbeitsbedingungen in einem Industriebetrieb bewusst zu machen. Erforderlich ist es auch, diese Kritik auf ihre Voraussetzungen und möglichen Konsequenzen zu befragen«) oder auch zu den Verwaltungsvorschriften und Bekannt­machungen des Bausenators von Berlin in bezug auf die Gestaltung von Kinderspielplätzen (»Mit dieser Verwaltungsvorschrift reagieren diejenigen, die das Mandat der Mehrheit der Bevölkerung haben. (…) Sie schreiben vor, was zu tun ist, und können, sofern nach der Vorschrift überhaupt verfahren wird, nur ein Minimum dessen erreichen, was nach pädagogischen, psychologischen wie auch ganz pragmatischen Erkenntnissen der Bedürfnis- und Interessenlage von Kindern entspricht«).²³

Standardlesebuch

Die Hinweise zur methodischen Gestaltung des Unterrichts sind vielschichtig und kreativ. Jenseits der offenen Diskussion im Unterricht wird zum Beispiel angeregt, den Text von Wallraff »einem Akkordarbeiter« vorzulegen und »das Gespräch darüber auf Tonband aufzunehmen und der Klasse vorzuführen«²⁴ oder zum Thema »Schöner Wohnen« eine »Erkundung im Nahraum« durchzuführen und mit der Klasse Kinderspielplätze zu besichtigen und über deren Standort, Funktionalität, Zustand etc. zu sprechen.²⁵ Schülerorientierung und ›Nützlichkeit‹ sind hier klar und nachvollziehbar intendiert – sicherlich auch ein Grund, weshalb »Drucksachen« vor allem in Nordrhein-Westfalen über Jahre ein Standardlesebuch im Bereich der Sekundarstufe I blieb, auch wenn es Überarbeitungen erfuhr.

Der kritische Deutschunterricht wurde auch nicht weiterverfolgt, weil sich die gesellschaftlichen Umstände, bei einigen Akteuren sicherlich auch die privaten Umstände, die »Theorie«- und »Didaktikmoden« an den Hochschulen und letztlich auch die Schülerklientel änderten. Die Frage, ob Erziehung überhaupt einen Beitrag zum gesellschaftlichen Fortschritt leisten könne, ²⁶ wurde zusehends problematisiert, und der Fortschrittsglaube wich einem breiten Skeptizismus zum Ende der langen 1970er Jahre. Wer aber heute Anregungen für einen kritischen Unterricht sucht, dem sei ein Blick in die »Drucksachen« empfohlen.

Anmerkungen:

1 So die Deutsche Zeitung in einem Artikel zum Lesebuch »Drucksachen« vom 4.10.1974

2 Heinz Ide, zit. n. Bodo Lecke (Hg.): Der politisch-kritische Deutschunterricht des Bremer Kollektivs. Peter-Lang-Verlag, Frankfurt am Main 2008, S. 63

3 Hubert Ivo: Kritischer Deutschunterricht. Diesterweg-Verlag, Frankfurt am Main/Berlin/München 1970, S. 5 f.

4 Vgl. Hannes Krauss/Jochen Vogt (Hg.): Didaktik Deutsch (Lesen 5): Probleme, Positionen, Perspektiven, Opladen-Verlag, 1976, S. 52 f.

5 Heinz Ide: Über die Notwendigkeit eines veränderten Literaturunterrichts. In: Diskussion Deutsch (1972), Sonderband: Ideologiekritik im Deutschunterricht, S. 5

6 Hessisches Kultusministerium Wiesbaden: Rahmenrichtlinien Deutsch für die Sekundarstufe I, Wiesbaden 1972; zit. n.: Hannelore Christ u. a.: Hessische Rahmenrichtlinien. Analyse und Dokumentation eines bildungspolitischen Konflikts, Bertelsmann-Universitätsverlag, Düsseldorf 1974, S. 104

7 Krauss/Vogt: Didaktik Deutsch (Anm. 4), S. 52

8 Heinz Ludwig Arnold: Das Lesebuch der 70er Jahre. Kritik und Neuentwurf, Kiepenheuer-und-Witsch-Verlag, Köln 1973, S. 89 und S. 92 ff.

9 Ebd, S. 95

10 Ebd, S. 62 f.

11 Valtentin Merkelbach: Lesebuch. In: Erika Dingeldey; Jochen Vogt (Hg.): Kritische Stichwörter zum Deutschunterricht. Ein Handbuch, Wilhelm-Fink-Verlag, München 1974, S. 204 f.

12 Werner Klose: Drucksachen – Drecksachen. Wie Schulbücher zur Wahlkampfmunition werden. In: Heinz Geiger (Hg.): Lesebuch­diskussion 1970–1975, Wilhelm-Fink-Verlag, München 1977, S. 367

13 Der Spiegel, 6.7.1975

14 Klose: Drucksachen (Anm. 12), S. 358

15 Der Spiegel, 6.7.1975

16 Ingelore Sengstmann: Ökonomische und administrative Bedingungen gegenwärtiger Lesebuchproduktion. In: Heinz Geiger (Hg.): Lesebuchdiskussion 1970–1975, Wilhelm-Fink-Verlag, München 1977, S. 348f.

17 Malte Dahrendorf: Eine neue Lesebuch-Generation: Das Lesebuch als Antwort auf eine konkrete gesellschaftliche Situation. In: ebd., S. 179

18 Ebd.

19 Ebd. S. 191

20 Malte Dahrendorf: Betr. »Drucksachen – Drecksachen«: Eine Antwort auf Werner Kloses Artikel. In: Heinz Geiger (Hg.): Lesebuch­diskussion 1970–1975, München 1977, S. 368 f.

21 Ursula Beul, Hans Bültel, Annemarie Siebert, Erika Wolf und die Verlagsredaktion Deutsch (Hg.): Drucksachen Lesebuch Ausgabe B 8. Schuljahr – Lehrerhandbuch, Düsseldorf, 1976, S. 5

22 Ebd., S. 6

23 Ebd., S. 23, 16, 17, 31 u. 43

24 Ebd., S. 31

25 Ebd., S. 58

26 Vgl. Lutz von Werder: Erziehung und gesellschaftlicher Fortschritt. Einführung in eine soziologische Erziehungswissenschaft, Ullstein-Verlag, Frankfurt am Main u. a. 1976, S. 17–30 u. Imbke Behnken; Manuela du Bois-Reymond: Schule und Bildungspolitik in der 68er-Pädagogik. Generationen im Gespräch, Kohlhammer-Verlag, Stuttgart 2020, S. 177

Sven Gringmuth schrieb an dieser Stelle zuletzt am 24. und 25. August 2022 über die Entstehung der Gesamtschule in der Bundesrepublik: »Ein bisschen mehr Demokratie« und »Vermeintlich chancengleich«. Im Frühjahr 2025 erscheint sein Buch »Was war kritischer Deutschunterricht? Rekonstruktion eines literaturdidaktischen Programms« im Universi-Verlag

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