Wille und Vorstellung
Von Sebastian CarlensIn Deutschland – dem Land, in dem die idealistische Philosophie die allerbuntesten Blüten trieb – ist die Welt weiterhin Wille und Vorstellung. Nur zum Triumph hat dieser Wille, den US-Wahlkampf gänzlich in deutschen Zeitungen auszufechten, nicht gereicht. An Mühe hat es, wie schon 2016 im Falle Hillary Clintons, kaum gemangelt. Was also ist diesmal schiefgelaufen?
Nun wurde, das ist das Hauptproblem, gar nicht in der BRD, sondern in den USA gewählt. Sonst sähe die Sache anders aus: Noch Mitte Oktober rechneten 62 Prozent der wahlberechtigten Deutschen mit Kamala Harris’ Sieg – mit einen Erfolg Donald Trumps nur 19 Prozent. Offenkundig lesen die Amerikaner keine deutschen Blätter, oder sie glauben ihnen nicht. Und die Deutschen wiederum haben ein Bild von den USA, das mehr über sie selbst aussagt als über Amerika.
Die klebrige und peinliche Distanzlosigkeit, mit der US-Angelegenheiten unter den Händen deutscher Leitartikler zu einer Art transatlantischer Weltinnenpolitik zusammenschnurren, hat ihren Ursprung in der bundesdeutschen Lebenslüge »des Westens« als Schicksalsgemeinschaft. Diese Mär ist Treib- und Brennstoff für Politikproseminare, steuerfinanzierte Parteienstiftungen und bürgerliche Massenmedien zugleich. Und doch: Auch Joe Biden hat die Strafzölle aus der ersten Ära Trump nicht rückgängig gemacht, von Harris wäre ebenfalls kein ökonomisches Entgegenkommen zu erwarten gewesen. Holen die USA zum Schlag aus gegen China oder Russland – die zweite Faust trifft stets das deutsche Kapital.
Nach dem Ersten Weltkrieg hat Karl Kraus die Frage, wie »die Welt regiert und in den Krieg geführt« wird, folgendermaßen beantwortet: »Diplomaten belügen Journalisten und glauben es, wenn sie’s lesen.« Heute ist alles viel einfacher, denn Journalisten belügen sich selbst, Diplomaten gibt es keine mehr. Warum auch? Im Oktober gaben 41 Prozent der 525 befragten deutschen Medienmacher an, den Grünen nahezustehen. Die Medien sind zum Appendix des Auswärtigen Amtes geworden – oder umgekehrt.
Was bleibt vom »freien Westen«, wenn sich seine Mitglieder aufs Messer bekämpfen und die Schutzmacht USA dem Bösen anheimgefallen ist? Damit kommen wir zum harten Kern der »westlichen Werte« – der Fähigkeit, notfalls militärisch neun Zehnteln der Menschheit den eigenen Willen aufzwingen zu können. Geht die verloren, was bleibt dann noch, um sich am transatlantischen Lagerfeuer zu erwärmen?
Irgendwer wird nun noch Herrn Selenskij in Kiew erklären müssen, dass er da etwas missverstanden hat.
Solidarität jetzt!
Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.
In unseren Augen ist das Urteil eine Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit in der Bundesrepublik. Aber auch umgekehrt wird Bürgerinnen und Bürgern erschwert, sich aus verschiedenen Quellen frei zu informieren.
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vom 07.11.2024
Tatsächlich wurde Wochen, ja Monate lang getrommelt und gepfiffen, liefen Reisereportagen und Westernfilme über die Bildschirme, und kurz vor ultimo fielen dann sogar ganze Heerscharen deutscher Journalisten in die Hauptstadt Washington ein, nur um uns klarzumachen, wie knapp der Wahlwettlauf zwischen Elefant (Demokraten) und Esel (Republikaner) ausgehen und womöglich mit Kamala Harris die erste Frau aus diesem „Kopf-an-Kopf-Rennen“ als künftige US-Präsidentin hervorgehen würde.
Dass es anders kam als weithin hoffnungsvoll prognostiziert, war keineswegs ein Betriebsunfall der Meinungsforschungsinstitute. Vielmehr ist zu betrachten, welche Rolle diesen Umfragen überhaupt beigemessen wird. Immerhin fliegen auch uns die Politbarometer, Deutschlandtrends usw. nur so um die Ohren. Jedes Medium, das auf sich hält, hält sich ein „Forschungsinstitut“, um angeblich Stimmungen und Meinungen zu erfassen. Trotzdem sind Fehleinschätzungen die Regel.
Die „Mutter“ der Meinungsforschung in der alten Bundesrepublik und Gründerin des Allensbach-Instituts, Elisabeth Noelle-Neumann, nannte deren Aufgabe indes „Agitation mit Zahlen“. Und „Agitation“ bedeutet laut Duden-Fremdwörterbuch: „aggressive Tätigkeit zur Beeinflussung anderer, vor allem in politischer Hinsicht“ oder auch „Werbung für bestimmte politische oder soziale Ziele“ – hier verborgen hinter einer wissenschaftlich-verbrämten Tüllgardine.