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Aus: Ausgabe vom 07.11.2024, Seite 12 / Thema
Wikileaks

Gegen das Pentagon

Vorabdruck. Guantanamo, Wikileaks und die Müllkrise von Kampanien. Investigative Arbeit, wo Leitmedien versagen
Von Stefania Maurizi
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Im Jahr 2010 begann die juristische Verfolgung des Wikileaks-Gründers Julian Assange, die erst in diesem Jahr mit dessen Ausreise nach Australien endete (London, 16.12.2010)

Die investigative Journalistin Stefania Maurizi nutzte 2008 die Plattform Wikileaks für ihre Recherchen zur Rolle des italienischen Geheimdienstes in der Müllkrise von Kampanien ebenso wie zu globalen Auseinandersetzungen – »Guantanamo Files«, Kriegstagebücher über Afghanistan und den Irak. 2022 kam ihr Buch »Secret Power« in englischer Sprache auf den Markt, nun erscheint es in den kommenden Tagen beim Kölner Papyrossa-Verlag in deutscher Übersetzung. Wir veröffentlichen an dieser Stelle mit freundlicher Genehmigung von Autorin und Verlag einen Auszug aus der Einleitung. (jW)

Es war einer der undurchdringlichsten Orte der Welt. Das Internierungslager Guantanamo, von der Regierung George W. Bush am 11. Januar 2002, genau vier Monate nach dem Anschlag auf die New Yorker Zwillingstürme errichtet, war schnell zu einem Symbol für die Unmenschlichkeit von Bushs »Krieg gegen den Terror« geworden. Nach Angaben des damaligen Verteidigungsministers Donald Rumsfeld wurden dort nur die gefährlichsten Terroristen der Welt gefangengehalten: the worst of the worst. In Wirklichkeit wusste niemand genau, wer all die Gefangenen waren und was in dem Lager vor sich ging. Es wurde von einer militärischen Taskforce, der JTF-Gtmo (Joint Taskforce Guantanamo), geleitet, aber niemand verfügte über sachliche Informationen über deren Tätigkeit. Nur dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) wurde der Zugang zum Lager gestattet, und in einem vertraulichen Bericht von November 2004 gab das Rote Kreuz an, dass die Gefangenen physisch und psychisch gefoltert wurden.

»Kein Zugang, kein Kontakt«

Wenige Monate zuvor, im April 2004, hatte der bedeutende Investigativjournalist Seymour Hersh enthüllt, dass im Irak im Gefängnis Abu Ghraib ausufernd gefoltert wurde, und Fotos von Greueltaten der US-Truppen, die ein Jahr zuvor in das Land einmarschiert waren und das Regime von Saddam Hussein gestürzt hatten, waren um die Welt gegangen. Noch heute sind die Bilder in ihrer Grausamkeit atemberaubend: Später wurden sie in dem Bilderzyklus »Abu Ghraib« des kolumbianischen Künstlers Fernando Botero verewigt, der das Treiben der Kampfhunde einfing, losgelassen auf wehrlose Gefangene, die fürchten mussten, jeden Moment in Stücke gerissen zu werden.

Vielfach wurde vermutet, dass das Internationale Komitee vom Roten Kreuz keinen Zugang zu allen Gefangenen von Guantanamo bekäme, und eine der führenden US-Organisationen für Bürger- und Menschenrechte, die American Civil Liberties Union (ACLU), hatte sich vergeblich um das Operations Manual der Taskforce, das Betriebshandbuch, bemüht. Die ACLU hatte versucht, bei den US-Behörden eine Kopie des Manuals anzufordern, und zwar unter Verweis auf den Freedom of Information Act, der es Bürgern ermöglichen soll, Zugang zu amtlichen Unterlagen von öffentlichem Interesse zu erhalten. Doch vergebens: Die Regierung Bush lehnte den Antrag ab. Es blieb an Wikileaks, das Handbuch einige Zeit später, im November 2007, zu veröffentlichen.

Dabei handelt es sich um ein Dokument des US-Verteidigungsministeriums, des Pentagons, datiert auf März 2003, also nur ein Jahr nach Eröffnung des Gefangenenlagers. Es war unterzeichnet von General Geoffrey D. Miller, jenem kommandierenden General der Joint Taskforce in Guantanamo, der laut Presseberichten, die von der US-amerikanischen Zeitschrift Wired 7 zitiert wurden, 2003 Abu Ghraib besucht hatte, und zwar kurz bevor die von Hersh dokumentierten entsetzlichen Folterungen an den Häftlingen ans Licht kamen. Das Handbuch bestätigte, was viele geahnt hatten: Die US-Behörden hatten gelogen. Einige Gefangene wurden außerhalb der Reichweite des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz gehalten, wodurch das Komitee deren Behandlung nicht kontrollieren konnte: »Kein Zugang, kein Kontakt jeglicher Art mit dem IKRK. Das gilt auch für die Zustellung von IKRK-Post«, hieß es im Handbuch.

In dem Manual wurde keine physische Folter beschrieben, wohl aber, und das im Detail, Formen von sogenannter weißer Folter: Isolationshaft und Techniken zur psychologischen Unterwerfung von Gefangenen wurden in ihrer ganzen Härte dargestellt. Das Dokument erläuterte den Einsatz von Hunden im Gefangenenlager, das Verhalten gegenüber Journalisten und den Umgang mit deren Fragen: Gemäß den Leitlinien für Gespräche mit der Presse waren die Fortschritte im internationalen Kampf gegen den Terrorismus zu betonen.

Als ich auf diese Datei aufmerksam wurde, war ich erstaunt: Wikileaks war es nicht nur gelungen, sie zu beschaffen, sondern hatte auch die Forderung des Pentagons ignoriert, sie von ihrer Website zu entfernen; die »Veröffentlichung wurde nicht genehmigt«, hatte das US-Verteidigungsministerium gegenüber Wikileaks geschrieben. Es erfordert Unabhängigkeit und Mut, sich einer Forderung des Pentagons zu widersetzen, dessen Macht- und Einflussbereich von globaler Reichweite sind. Assange und Wikileaks waren nicht nur Vorreiter bei der Nutzung von Technologien zum Schutz von Personen, die im öffentlichen Interesse Geheimnisse preisgaben, sondern auch unerschrocken. Für mich war dieser Mut ein Hoffnungsschimmer in jener Finsternis, die den Journalismus zu dieser Zeit umgab.

Der »War on Terror« hatte die Brutalität der Regierung Bush offengelegt, aber auch die erhebliche Verantwortung der Leitmedien, die allzu oft keine Skepsis gegenüber den Machenschaften der Regierung gezeigt hatten. Wie schon in den Monaten vor dem Einmarsch in den Irak hatte die New York Times gegenstandslose Artikel über Saddam Husseins Bemühen veröffentlicht, Massenvernichtungswaffen zu beschaffen. Die Zeitung trug zu einer Medienkampagne bei, die darauf abzielte, den Einmarsch in den Irak und den darauffolgenden verheerenden Krieg, der mindestens 600.000 Menschen das Leben kostete, hinnehmbar erscheinen zu lassen – selbst bei jenen Teilen der Öffentlichkeit, die mit der Regierung Bush politisch uneins waren.

Werkzeuge der US-Regierung

Und das war nicht das einzige Mal, dass die US-amerikanischen Mainstreammedien zu einem Werkzeug der Regierung wurden, anstatt diese zu kontrollieren. Jahrelang verzichtete die New York Times darauf, das Wort »Folter« für die grausamen Verhörmethoden zu verwenden, die in Gefängnissen im Irak, in Afghanistan, in Guantanamo und an zahlreichen Orten in weiteren Ländern auf der Welt angewandt wurden, wo die CIA unter völliger Geheimhaltung ihre sogenannten Black Sites – ihre »schwarzen« bzw. »geheimen Standorte« – im Namen der Terrorismusbekämpfung betrieb. Es ging um Techniken wie das Waterboarding, bei dem das Gefühl des Ertrinkens hervorgerufen wird: Der Betroffene liegt auf ein schräges Brett geschnallt, während ihm ein Tuch übers Gesicht gelegt und Wasser über den Kopf gegossen wird. Anstatt diese Praktiken als »Folter« zu bezeichnen, sprach die New York Times bis 2014 regelmäßig von »verschärften Verhörmethoden« – ein kryptischer Begriff, der die Öffentlichkeit davon abhielt, die Unmenschlichkeit der Vorgänge zu erkennen, etwa den gezielten Kältetod eines Gefangenen, wie das Gul Rahman in Afghanistan widerfuhr.

Die Washington Post verhielt sich auch nicht besser. 2005 hatte sie sich bereit erklärt, die Namen der osteuropäischen Staaten, in denen sich Geheimgefängnisse der CIA befanden, nicht zu veröffentlichen: Polen, Litauen und Rumänien. Auch hier war die Bitte, keine Länder zu nennen, von der Regierung Bush gekommen, und die Zeitung war dem nachgekommen.

In solch einer politischen Landschaft war ein neuer energischer und mutiger Journalismus so notwendig wie die Luft zum Atmen: ein Journalismus, der sich nicht vom Pentagon einschüchtern ließ und nicht bereit war, staatlich manipulierte Informationen wahlweise zu veröffentlichen oder zu verbergen. Genau das war es, was Wikileaks versprach. Aber das war noch nicht alles. Die Organisation hatte mich auch aus einem anderen Grund beeindruckt.

Gescheiterte Abschaltung

2008 geriet die Schweizer Großbank Julius Bär ins Visier von Julian Assanges Organisation. Es war dieselbe Bank, die zwei Jahre später in einem italienischen Ermittlungsverfahren gegen Angelo Balducci auftauchen sollte. Der ehemalige Vorsitzende des städtischen Bauausschusses war in einen Korruptionsskandal verwickelt, der ihn seine Ernennung zum »Gentiluomo di Sua Santità« (»Edelmann seiner Heiligkeit«) kostete, die höchste Auszeichnung, die ein katholischer Laie damals vom Heiligen Stuhl erhalten konnte.

Dank des Schweizer Whistleblowers Rudolf Elmer, der den Mut hatte, eine Reihe interner Dokumente aus der Julius-Bär-Niederlassung auf den Cayman-Inseln weiterzugeben, deckte Wikileaks die mutmaßliche Verwicklung des Bankhauses in Delikte von Steuerhinterziehung bis Geldwäsche auf und brachte die Bank sofort gegen sich auf. Die verlangte, die Datei zu löschen, und leitete rechtliche Schritte ein. Doch was nach einer Auseinandersetzung aussah, bei der das Ergebnis von vornherein feststand, entwickelte sich zu einem ausgewachsenen Fiasko.

Wikileaks war so konzipiert, dass eine Zensur der veröffentlichten Dateien schwierig war; die Server befanden sich an unbekannten Orten; die Identitäten jener, die für die Organisation arbeiteten, waren nicht öffentlich, außer denen von Julian Assange und dem damaligen deutschen Wikileaks-Sprecher Daniel Schmitt. Eine Adresse von Assange und seinem Stab aufzuspüren war, gelinde gesagt, schwierig. Doch Julius Bär beauftragte eine angriffslustige Kanzlei, spezialisiert auf Prozesse von Prominenten. Lavely & Singer aus Los Angeles nahmen in ihrem Bemühen, die Verantwortlichen für die Veröffentlichungen ausfindig zu machen, Wikileaks als »juristische Person unbekannter Form« ins Visier. Zugleich gingen sie gegen Dynadot LLC vor, den Domain-Registrar von Wikileaks, ein Unternehmen mit Sitz in Kalifornien. Die Anwälte der Bank beantragten und erhielten die richterliche Anordnung, die Dateien zu entfernen.

Es schien beschlossene Sache zu sein. Doch es kam anders. Wikileaks machte sich daran, »Mirrors« zu erstellen, also gespiegelte Seiten mit identischen Inhalten wie die vom Richter verbotenen, die mit einem Mal weltweit kursierten. Zu diesem Zeitpunkt forderten die Anwälte von Julius Bär, Wikileaks vollständig abzuschalten und die Übertragung der verbotenen Inhalte auf andere Websites zu verbieten. Das erwies sich jedoch als Bumerang, da die Forderung nach kompletter Stillegung führende US-amerikanische Organisationen zur Verteidigung digitaler und bürgerlicher Rechte auf den Plan rief. Von der Electronic Frontier Foundation (EFF) mit Sitz in San Francisco bis zur American Civil Liberties Union (ACLU) unterstützten einige der einflussreichsten Bürgerrechtsinstitutionen Wikileaks vor dem Bundesgericht. Dabei beriefen sie sich auf den ersten Zusatzartikel der US-Verfassung, also deren Grundprinzip, das einen umfassenden Schutz der Presse- und Meinungsfreiheit bietet. Im März 2008 hob der Richter die vorläufige Verfügung auf und lehnte die Forderung der Bank ab, die Website zu sperren. Die Veröffentlichung der Dateien sei durch den ersten Verfassungszusatz geschützt.

Der hartnäckige Widerstand von Assanges Organisation und der anschließende Rechtsstreit, gestützt von einflussreichen Organisationen wie der EFF oder der ACLU, brachten den Namen Julius Bär in die Schlagzeilen weltweit führender Zeitungen, von der New York Times bis zum Londoner Guardian – mit genau dem gegenteiligen Effekt, den sich die mächtige Bank erhofft hatte. Jene Dokumente, die Julius Bär diskret entfernt wissen wollte, wurden nun zu einer Angelegenheit von internationalem Interesse. Damit nicht genug, veröffentlichte Wikileaks auch die eigene Korrespondenz mit den Anwälten der Bank, denen man unbeirrt geantwortet hatte: »Keep your tone civil« – »Bleiben Sie höflich«.

Organisation mit Rückgrat

Ich war erstaunt über das Ausmaß an Rückgrat. Ich kannte Julian Assange noch nicht persönlich, aber ich beobachtete ihn und seine Organisation aus der Ferne, verfolgte ihre Aktivitäten. Sie bewiesen den Mut, äußerst sensible Dokumente zu veröffentlichen, sich selber Gefahren auszusetzen und dabei Institutionen herauszufordern, die mit Hilfe üppiger Budgets und wichtiger Verbindungen sogar die Redaktionen von Medien einschüchtern – sei es gerichtlich oder außergerichtlich.

Auch ihr strategisches Vorgehen beeindruckte mich. Hätten sie sich bei dem Julius-Bär-Spiel wie ein traditionelles Nachrichtenmedium verhalten, hätten sie höchstwahrscheinlich ziemliche Prügel einstecken müssen. Italienische, britische oder Schweizer Zeitungen etwa müssen sich innerhalb der Grenzen der Gesetze jenes Landes bewegen, in dem sie registriert sind. Ihre Publikationen hätten kaum eine Chance, den von der US-Verfassung gewährten Presseschutz zu genießen. Doch Wikileaks trug das Spiel auf globaler Ebene aus, nutzte die Mittel des Internets und internationale Bündnisse mit Verfechtern von digitalen und Bürgerrechten, bediente sich des mächtigen Schutzes, den der erste Verfassungszusatz und die Bühne traditioneller Medien bieten – und fügte so einer sehr wohlhabenden Bank eine durchschlagende Niederlage zu.

Für eine investigative Journalistin, die tagtäglich mit den Schikanen der Reichen und Mächtigen, mit deren juristischen Klagen und den daraus folgenden tiefgreifenden Einschränkungen der Pressefreiheit konfrontiert ist, war es spektakulär zu beobachten, wie sich das ganze Debakel entfaltete. Mit der geballten Macht aus Kapital und Anwälten war Julius Bär mit eingezogenem Schwanz davongeschlichen, während es Wikileaks geschafft hatte, zu veröffentlichen, was viele Zeitungen als unveröffentlichbar, weil rechtlich zu riskant, angesehen hätten.

Der Fall Julius Bär war, wie schon der des Handbuchs von Guantanamo, der Beleg, dass der Kampf gegen die Geheimhaltung gewonnen werden kann. Und ich musste Julian Assange unbedingt aufspüren, denn als Journalistin war dieser Kampf auch mein eigener.

Wer aber waren, so schwer fassbar und geheimnisvoll, Julian Assange und Wikileaks? Es dauerte einige Zeit, bis ich eine Verbindung zu ihnen herstellen konnte. Um mehr herauszufinden, trat ich an Aktivisten heran, an Fachleute für Staatsgeheimnisse und Verschlüsselung. Ich ging jedem Kontakt und jeder möglichen Information nach, um zu verstehen, wer sie sind. Anfangs war Wikileaks wie ein Wiki organisiert: Sie nahmen Dokumente entgegen, analysierten und veröffentlichten sie daraufhin, wobei sie alle Interessierten dazu aufforderten, sich an der Prüfung der »Files« zu beteiligen und eine Diskussion um die Enthüllungen voranzutreiben. Sie arbeiteten nicht routinemäßig mit Journalisten zusammen. Sie hatten einige Medienpartner, darunter aber keine großen Teams wie in späteren Jahren. Doch eines Tages baten sie mich um Hilfe.

Italienische Mysterien

Sommer 2009: Als das Telefon klingelte, war es mitten in der Nacht. Es fiel mir schwer aufzuwachen, aber mein Telefon klingelte unerbittlich, und schließlich raffte ich mich auf. »Wikileaks hier«, hörte ich jemanden sagen. Ich konnte kaum verstehen, was vor sich ging, aber schließlich begriff ich: Daniel Schmitt war am Apparat. Er richtete eine Nachricht aus: Ich hatte eine Stunde Zeit, um eine Datei aus dem Internet herunterzuladen, danach würde sie entfernt, damit sie für andere nicht zugänglich war. Sie seien gerade dabei, so Schmitt weiter, die Echtheit der Datei und die darin enthaltenen Informationen zu überprüfen. »Können Sie uns helfen?« fragte er.

Ich lud die Datei sofort herunter und begann sie durchzusehen. Es handelte sich um eine Aufnahme vom Juli 2008. Zu hören war Walter Ganapini, der damalige Umweltbeauftragte der italienischen Region Kampanien, der über jene berüchtigte Müllkrise sprach, deren Bilder um die Welt gingen: ein Neapel, das im Müll erstickt. Der starke Mann in diesem Spiel war jedoch nicht Ganapini, sondern der Sonderbeauftragte für den Abfallnotstand, Gianni De Gennaro, der später zum Dipartimento delle Informazioni per la Sicurezza (DIS) wechseln sollte, der Koordinierungsstelle des italienischen Geheimdienstes.

Als Ganapini während des Notstands mit Bürgerkomitees und Verbänden zusammenkam, hatte jemand eines der Gespräche aufgezeichnet und an Wikileaks weitergeleitet. In der über dreistündigen Audiodatei analysierte Ganapini, warum es zu der Müllkrise gekommen war, obwohl doch – so er selbst – eine vorhandene Deponie wie der Parco Saurino den Müll Kampaniens sechs Monate lang hätte aufnehmen können, wodurch die Katastrophe verhindert worden wäre.

»Was den Parco Saurino betrifft, so habe ich eines Tages mit dem derzeitigen Geheimdienstchef darüber verhandelt – und ein Geheimdienstchef ist nicht irgendwer.« Ganapini fuhr fort: »Dieser Ort ist definitiv ein nationales Mysterium.« Die Aufzeichnung bot einen Einblick in die mögliche Rolle des italienischen Geheimdienstes in der Müllkrise von Kampanien und insbesondere in das, was Ganapini als »nationales Mysterium« bezeichnete: Der Parco Saurino in der Provinz Caserta – genauer: in der Gemeinde Santa Maria La Fossa – liegt mitten im Reich der Casalesi, eines Mafia-Clans, der sein gewaltiges Vermögen mit dem illegalen Müllhandel gemacht hat. Ganapini spielte auf das Eingreifen des Geheimdienstes und auf mögliche Absprachen zwischen Staat und Mafia im Zusammenhang mit der Krise an. »Ich weiß, dass es in diesem Land Verhandlungen von Staat zu Staat gibt«, fügte er hinzu.

Besonders beunruhigend war ein Abschnitt, in dem Ganapini schilderte, wie er auf der Piazza del Gesù im Herzen Neapels Ziel eines versuchten Übergriffs wurde. Von vier behelmten Personen, das Visier geschlossen, habe er »einige Warnungen erhalten: Ich hätte etwas gesehen, was ich nicht hätte sehen sollen«, erklärte er. Wikileaks hatte mir in dieser Nacht also nicht nur die Datei zugespielt, sondern mich auch mit einer Person in Verbindung gesetzt, die mit einigen der in der Aufnahme erwähnten Fakten vertraut war. Sie hatten mich zudem gebeten, alle journalistischen Überprüfungen vorzunehmen, die ich für notwendig hielt. In den darauffolgenden Tagen nahm ich mit mehreren Personen Kontakt auf, vor allem mit Ganapini selbst, und verwies auf einen Ausschnitt von wenigen Minuten, der kurz zuvor auf Youtube gelandet war und von der italienischen Tageszeitung La Repubblica aufgegriffen wurde. Ganapini hatte dies damals als fingierte Bearbeitung abgetan, aber die über dreistündige Aufnahme, die ich mir angehört hatte, enthielt alles, was auf Youtube erschienen war. Auf meine gezielten und detaillierten Fragen hin mauerte Ganapini und bestätigte nur die Drohungen und die beunruhigende Begegnung auf der Piazza del Gesù. Nach einer Reihe von Überprüfungen veröffentlichte ich am 6. August 2009 einen Artikel mit den wichtigsten Auszügen in dem renommierten italienischen Nachrichtenmagazin L’Espresso, für das ich damals arbeitete und das bereits maßgebliche Recherchen zur Müllkrise durchgeführt hatte. Zugleich veröffentlichte Wikileaks die Audiodatei auf der eigenen Website.

Mit diesem Dokument waren Julian Assange und seine Organisation von den Staatsgeheimnissen von Guantanamo zu den Mysterien der Italienischen Republik übergegangen. Doch nach der Veröffentlichung dieses Dokuments scheiterten alle meine Versuche, mit Wikileaks Kontakt aufzunehmen.

Stefania Maurizi schreibt für die italienische Tageszeitung Il Fatto Quotidiano, zuvor für La Repubblica und L'Espresso. Ab 2009 arbeitete sie mit Wikileaks und Julian Assange zusammen.

Stefania Maurizi: Secret Power. Der Angriff auf Wikileaks und Julian Assange. Mit Vorworten von Vincent Bevens und Ken Loach. Aus dem Englischen von Glenn Jäger, Köln: Papyrossa-Verlag 2024, 463 Seiten, 28 Euro

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