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Aus: Ausgabe vom 08.11.2024, Seite 3 / Schwerpunkt
Regierung am Ende

Lindner rutscht aus

Ampel passé: SPD zieht Notbremse und überrumpelt FDP mit Ministerentlassung. Grüne in Trauer
Von Nico Popp
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Christian Lindner nach seiner Entlassung am Mittwoch in Berlin

Das hatte sich Christian Lindner offensichtlich etwas anders gedacht. Als der FDP-Chef und nunmehr ehemalige Bundesfinanzminister am späten Mittwoch abend zu einem kurzen Statement vor die Kameras trat, war zu hören und zu sehen, dass der Bundeskanzler ihn mit der kurzfristigen Entlassung überrumpelt hatte. Lindner beklagte sich über die »genau vorbereitete« Rede von Scholz, mit der sich der Kanzler kurz zuvor an die Öffentlichkeit gewandt hatte, und über die am Nachmittag an ihn gerichtete »ultimative« Forderung, die sogenannte Schuldenbremse für ein weiteres Haushaltsjahr außer Kraft zu setzen. Scholz sei es »längst nicht mehr um eine für alle tragfähige Einigung« gegangen. Am Donnerstag lamentierte Lindner weiter und warf Scholz eine »Entlassungsinszenierung« vor. Da hatte Lindner schon zur Kenntnis nehmen müssen, dass Verkehrsminister Volker Wissing aus der FDP ausgetreten war und weiter im Amt bleiben wird – mehr als ein kleiner Flurschaden.

Eine Inszenierung war das am Mittwoch sicher – nur eben eine in Konkurrenz zu der, die der FDP-Chef vorbereitet hatte. Lindner hatte ersichtlich vor, mit seinem »Wirtschaftswende«-Papier im Rücken die nächste Bundestagswahl mit seiner Partei noch über die Jahreswende hinweg in der Rolle einer regierenden Opposition vorzubereiten. Mit neoliberalem Tugendwächtertum – und vielleicht mit echten Einschnitten im Sozialbereich – und einer Pose als harter Interessenvertreter für die klassische FDP-Klientel wollte er die Partei, unterstützt vom erwartbaren Beifall eines großen Teils der deutschen Medien, über fünf Prozent hieven. Die SPD-Führung hat das Manöver allerdings durchschaut und die FDP präventiv vor die Tür gesetzt: Die Sozialdemokraten haben begriffen, dass ein klassischer SPD-Bundestagswahlkampf, in dem in erster Linie links geblinkt wird, mit einem solchen Koalitionspartner nicht funktionieren wird.

Der Auftritt von Scholz am Abend war eine Wahlkampfrede – und für seine Verhältnisse keine schlechte. Die Botschaft lautete: Die Herausforderungen sind groß, können aber finanziell alle bewältigt werden – es kann aufgerüstet und der Krieg in der Ukraine finanziert sowie die notleidende Wirtschaft mit Staatsgeld unterstützt werden, ohne zu einer Kürzungspolitik in anderen Bereichen überzugehen. Dafür aber müsste die Schuldenbremse per Feststellung einer Notlage, die der russische Angriff auf die Ukraine darstelle, einmal mehr ausgesetzt werden. Lindner wolle das nicht, ihm gehe es um die eigene Klientel und das kurzfristige Überleben der FDP: »Wer sich in einer solchen Lage einer Lösung, einem Kompromissangebot verweigert, der handelt verantwortungslos. Als Bundeskanzler kann ich das nicht dulden.« Lindner habe auch in der Vergangenheit »kleinkariert parteipolitisch taktiert« und »zu oft« »mein Vertrauen gebrochen« – ein denkbar vernichtendes Arbeitszeugnis.

Einigermaßen überfahren präsentierten sich am Mittwoch auch die Grünen. Vizekanzler Robert Habeck und Außenministerin Annalena Baerbock redeten vor dem Kanzleramt minutenlang über die Ukraine und darüber, dass sie die Ampelkoalition gerne fortgeführt hätten. Er wolle »für uns sagen, dass sich das heute abend falsch und nicht richtig anfühlt, geradezu tragisch an einem Tag wie diesem, wo Deutschland in Europa Geschlossenheit und Handlungsfähigkeit zeigen muss«, sagte Habeck mit Blick auf den Wahlsieg von Donald Trump in den USA. Lindners Entlassung sei so folgerichtig wie »unnötig« gewesen. Bis zu Neuwahlen sei die Regierung aber im Amt und »fest entschlossen, die Pflichten des Amtes vollumfänglich zu erfüllen«. Baerbock bekundete die Ansicht, dass dies kein guter Tag für Deutschland und auch »kein guter Tag für Europa« sei. »Europa« trage eine Verantwortung für den Frieden in der Ukraine, »die die Freiheit in Deutschland seit tausend Tagen« mit sichere. Fragen beantworteten beide nicht.

Hintergrund:Kampf um die Plätze

Für Die Linke und das BSW kommt das Aus der Ampel einen Tick zu früh. Die Linkspartei, die in bundesweiten Wählerbefragungen seit Monaten stabil unter fünf Prozent liegt, hat erst seit wenigen Wochen eine neue Parteispitze, die noch nicht recht Tritt gefasst hat. Vielleicht ist das – und nicht handfeste politische Orientierungslosigkeit – der Grund dafür, dass Vertreter der Partei in den vergangenen Tagen mit Stellungnahmen zugunsten eines Fortbestands der Regierungskoalition auffällig wurden. Sören Pellmann, Vorsitzender der Gruppe im Bundestag, hatte am Dienstag erklärte, »wer jetzt die Koalition platzen« lasse, sei »für den weiteren Vertrauensverlust in die Grundfesten unserer Demokratie mit- und hauptsächlich verantwortlich«. Die Kovorsitzende Ines Schwerdtner sprach sich am Mittwoch gegenüber dem Spiegel für das Zusammenbleiben der Koalition aus – eine etwas merkwürdige Positionierung für die Vorsitzende einer Oppositionspartei.

Wenige Stunden nach der Entlassung Christian Lindners erklärten dann die Führungsspitzen von Partei und Bundestagsgruppe, man sei bereit für Neuwahlen: »Der Kampf um die Plätze links der Mitte ist eröffnet – und das ist gut so.« Aber auch in dieser Wortmeldung wurde den Ampelparteien vorgehalten, dass das Land mit dem Ende dieser Regierung in die »nächste Krise« stürze: »Als demokratische Parteien hätten SPD, Grüne und FDP die Verantwortung, für Stabilität zu sorgen.« Am Donnerstag sagte Schwerdtner, die Partei werde zeitnah Spitzenkandidaten bestimmen. Am Wochenende will der Parteivorstand beraten und eine Wahlkampfleitung benennen. Noch im November soll das Konzept für eine »antifaschistische Wirtschaftspolitik« vorgelegt werden. In der Bundesrepublik müssten die »Krisengewinnler« zur Kasse gebeten werden, sagte Koparteichef Jan van Aken.

Die erst im Januar 2024 gegründete Linke-Abspaltung BSW steht in Umfragen deutlich besser da, hat aber das Problem, dass sie wegen der sehr dosierten Aufnahme neuer Mitglieder organisatorisch in der Fläche noch weithin in der Luft hängt und in mehreren Bundesländern noch nicht einmal Landesverbände gegründet hat. Am Donnerstag verlautete aus der Partei, dass man in Bayern, Hamburg, Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern so schnell wie möglich Gliederungen gründen wolle. Das sei ohnehin geplant gewesen und der frühe Wahltermin deshalb kein Problem, sagte eine Sprecherin gegenüber dpa. Mit der Vorbereitung des Bundestagswahlprogramms haben man auch schon begonnen. Parteichefin Sahra Wagenknecht drückt im Gegensatz zur Linke-Spitze demonstrativ aufs Tempo: Es sei »politische Insolvenzverschleppung«, wenn der Kanzler die Vertrauensfrage erst im Januar stelle. (np)

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