Rosa-Luxemburg-Konferenz am 11.01.2025
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Aus: Ausgabe vom 08.11.2024, Seite 3 / Schwerpunkt
Regierung am Ende

Lindner rutscht aus

Ampel passé: SPD zieht Notbremse und überrumpelt FDP mit Ministerentlassung. Grüne in Trauer
Von Nico Popp
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Christian Lindner nach seiner Entlassung am Mittwoch in Berlin

Das hatte sich Christian Lindner offensichtlich etwas anders gedacht. Als der FDP-Chef und nunmehr ehemalige Bundesfinanzminister am späten Mittwoch abend zu einem kurzen Statement vor die Kameras trat, war zu hören und zu sehen, dass der Bundeskanzler ihn mit der kurzfristigen Entlassung überrumpelt hatte. Lindner beklagte sich über die »genau vorbereitete« Rede von Scholz, mit der sich der Kanzler kurz zuvor an die Öffentlichkeit gewandt hatte, und über die am Nachmittag an ihn gerichtete »ultimative« Forderung, die sogenannte Schuldenbremse für ein weiteres Haushaltsjahr außer Kraft zu setzen. Scholz sei es »längst nicht mehr um eine für alle tragfähige Einigung« gegangen. Am Donnerstag lamentierte Lindner weiter und warf Scholz eine »Entlassungsinszenierung« vor. Da hatte Lindner schon zur Kenntnis nehmen müssen, dass Verkehrsminister Volker Wissing aus der FDP ausgetreten war und weiter im Amt bleiben wird – mehr als ein kleiner Flurschaden.

Eine Inszenierung war das am Mittwoch sicher – nur eben eine in Konkurrenz zu der, die der FDP-Chef vorbereitet hatte. Lindner hatte ersichtlich vor, mit seinem »Wirtschaftswende«-Papier im Rücken die nächste Bundestagswahl mit seiner Partei noch über die Jahreswende hinweg in der Rolle einer regierenden Opposition vorzubereiten. Mit neoliberalem Tugendwächtertum – und vielleicht mit echten Einschnitten im Sozialbereich – und einer Pose als harter Interessenvertreter für die klassische FDP-Klientel wollte er die Partei, unterstützt vom erwartbaren Beifall eines großen Teils der deutschen Medien, über fünf Prozent hieven. Die SPD-Führung hat das Manöver allerdings durchschaut und die FDP präventiv vor die Tür gesetzt: Die Sozialdemokraten haben begriffen, dass ein klassischer SPD-Bundestagswahlkampf, in dem in erster Linie links geblinkt wird, mit einem solchen Koalitionspartner nicht funktionieren wird.

Der Auftritt von Scholz am Abend war eine Wahlkampfrede – und für seine Verhältnisse keine schlechte. Die Botschaft lautete: Die Herausforderungen sind groß, können aber finanziell alle bewältigt werden – es kann aufgerüstet und der Krieg in der Ukraine finanziert sowie die notleidende Wirtschaft mit Staatsgeld unterstützt werden, ohne zu einer Kürzungspolitik in anderen Bereichen überzugehen. Dafür aber müsste die Schuldenbremse per Feststellung einer Notlage, die der russische Angriff auf die Ukraine darstelle, einmal mehr ausgesetzt werden. Lindner wolle das nicht, ihm gehe es um die eigene Klientel und das kurzfristige Überleben der FDP: »Wer sich in einer solchen Lage einer Lösung, einem Kompromissangebot verweigert, der handelt verantwortungslos. Als Bundeskanzler kann ich das nicht dulden.« Lindner habe auch in der Vergangenheit »kleinkariert parteipolitisch taktiert« und »zu oft« »mein Vertrauen gebrochen« – ein denkbar vernichtendes Arbeitszeugnis.

Einigermaßen überfahren präsentierten sich am Mittwoch auch die Grünen. Vizekanzler Robert Habeck und Außenministerin Annalena Baerbock redeten vor dem Kanzleramt minutenlang über die Ukraine und darüber, dass sie die Ampelkoalition gerne fortgeführt hätten. Er wolle »für uns sagen, dass sich das heute abend falsch und nicht richtig anfühlt, geradezu tragisch an einem Tag wie diesem, wo Deutschland in Europa Geschlossenheit und Handlungsfähigkeit zeigen muss«, sagte Habeck mit Blick auf den Wahlsieg von Donald Trump in den USA. Lindners Entlassung sei so folgerichtig wie »unnötig« gewesen. Bis zu Neuwahlen sei die Regierung aber im Amt und »fest entschlossen, die Pflichten des Amtes vollumfänglich zu erfüllen«. Baerbock bekundete die Ansicht, dass dies kein guter Tag für Deutschland und auch »kein guter Tag für Europa« sei. »Europa« trage eine Verantwortung für den Frieden in der Ukraine, »die die Freiheit in Deutschland seit tausend Tagen« mit sichere. Fragen beantworteten beide nicht.

Hintergrund: Kampf um die Plätze

Für Die Linke und das BSW kommt das Aus der Ampel einen Tick zu früh. Die Linkspartei, die in bundesweiten Wählerbefragungen seit Monaten stabil unter fünf Prozent liegt, hat erst seit wenigen Wochen eine neue Parteispitze, die noch nicht recht Tritt gefasst hat. Vielleicht ist das – und nicht handfeste politische Orientierungslosigkeit – der Grund dafür, dass Vertreter der Partei in den vergangenen Tagen mit Stellungnahmen zugunsten eines Fortbestands der Regierungskoalition auffällig wurden. Sören Pellmann, Vorsitzender der Gruppe im Bundestag, hatte am Dienstag erklärte, »wer jetzt die Koalition platzen« lasse, sei »für den weiteren Vertrauensverlust in die Grundfesten unserer Demokratie mit- und hauptsächlich verantwortlich«. Die Kovorsitzende Ines Schwerdtner sprach sich am Mittwoch gegenüber dem Spiegel für das Zusammenbleiben der Koalition aus – eine etwas merkwürdige Positionierung für die Vorsitzende einer Oppositionspartei.

Wenige Stunden nach der Entlassung Christian Lindners erklärten dann die Führungsspitzen von Partei und Bundestagsgruppe, man sei bereit für Neuwahlen: »Der Kampf um die Plätze links der Mitte ist eröffnet – und das ist gut so.« Aber auch in dieser Wortmeldung wurde den Ampelparteien vorgehalten, dass das Land mit dem Ende dieser Regierung in die »nächste Krise« stürze: »Als demokratische Parteien hätten SPD, Grüne und FDP die Verantwortung, für Stabilität zu sorgen.« Am Donnerstag sagte Schwerdtner, die Partei werde zeitnah Spitzenkandidaten bestimmen. Am Wochenende will der Parteivorstand beraten und eine Wahlkampfleitung benennen. Noch im November soll das Konzept für eine »antifaschistische Wirtschaftspolitik« vorgelegt werden. In der Bundesrepublik müssten die »Krisengewinnler« zur Kasse gebeten werden, sagte Koparteichef Jan van Aken.

Die erst im Januar 2024 gegründete Linke-Abspaltung BSW steht in Umfragen deutlich besser da, hat aber das Problem, dass sie wegen der sehr dosierten Aufnahme neuer Mitglieder organisatorisch in der Fläche noch weithin in der Luft hängt und in mehreren Bundesländern noch nicht einmal Landesverbände gegründet hat. Am Donnerstag verlautete aus der Partei, dass man in Bayern, Hamburg, Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern so schnell wie möglich Gliederungen gründen wolle. Das sei ohnehin geplant gewesen und der frühe Wahltermin deshalb kein Problem, sagte eine Sprecherin gegenüber dpa. Mit der Vorbereitung des Bundestagswahlprogramms habe man auch schon begonnen. Parteichefin Sahra Wagenknecht drückt im Gegensatz zur Linke-Spitze demonstrativ aufs Tempo: Es sei »politische Insolvenzverschleppung«, wenn der Kanzler die Vertrauensfrage erst im Januar stelle. (np)

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  • Leserbrief von Klaus Jürgen Lewin aus Bremen (11. November 2024 um 15:59 Uhr)
    Ein Skandal allererster Güte ist die Verlogenheit von Noch-FDP-Bundesvorsitzender Christian Lindner, der seit seinem ersten Arbeitstag als nun ehemaliger Bundesfinanzminister das Urteil des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe bewusst ignorierte: Kaptalerträge mit dem persönlichen Einkommensteuersatz, statt mit verfassungswidrigen 25 Prozent mit bis zu 42 Prozent zu versteuern. Schon allein damit, dem Bundeshaushalt zustehende Steuereinnahmen nicht zuzuführen und einzutreiben, hat er seinen Amtseid verraten. Recht hat die ehemalige Cum-Ex-Chefanklägerin Anne Brorhilker, dass Lindner auf bis zu 40 Milliarden Euro geraubter Steuern verzichten will, diese von großen und kleinen Banken zurückzuholen. Es darf an den Prozess gegen die Hamburger Warburg-Bank erinnert werden. Mit dem Geld könnten Behörden so ausgestattet werden, dass sie Wirtschaftskriminelle gerichtlich endlich zur Verantwortung gezogen werden. Auch Investitionsrückstände könnten in unsere Infrastruktur getätigt werden, die dringend erforderlich sind. Damit könnte unser aller Zusammenleben erleichtert werden und Deutschland hätte in EU-Europa wieder eine Zukunft. Lindner hat mit seinen persönlichen Eitelkeiten unserem Land und mehrheitlich allen Bürgerinnen und Bürgern großen Schaden zugefügt. Lindner hat bewiesen, dass er nicht koalitionsfähig ist und sich an keine Koalitionsabsprachen hält und somit für kein öffentliches Amt geeignet ist. Wir haben in unserem Gemeinwesen kein Ausgaben-, sondern eindeutig ein Einnahmeproblem sowie das große Problem mit der Steuergerechtigkeit! Ein Blick ins Grundgesetz würde jedem Bundestagsabgeordneten neue Einsichten vermitteln.
  • Leserbrief von Doris Prato (11. November 2024 um 15:11 Uhr)
    Das Ende dieser SPD-geführten Regierung ist Ausdruck der sich vertiefenden Krise des kapitalistischen Herrschaftssystems, in dem die Vertreter der bürgerlichen Parteien miteinander konkurrieren, um sich als seine besseren Sachwalter anzubieten. Dabei haben die wendefähigen Liberalen ein historisches Vorbild, denn sie stürzten schon einmal einen SPD-Kanzler, um danach zur Union zu wechseln und Helmut Kohl den Weg ins Bundeskanzleramt zu ebnen. Das war 1982, als sie in der sozialliberalen Koalition Helmut Schmidt stürzten. Die Koalition war 1980 zur Verhinderung einer Wahl von Franz Josef Strauß zustande gekommen, zerstritt sich aber schon bald über den NATO-Doppelbeschluss, atomar bestückte Raketen vom Typ Pershing 2 und Cruise Missile in der BRD zu stationieren, was Schmidt ohne Wenn und Aber vertrat. Im Kern ging es aber auch damals um Wirtschaftsfragen. Der Sturz des Schah 1979 in Iran hatte die Ölkrise ausgelöst, der Ölpreis vervielfachte sich weltweit, was besonders die schon damals exportabhängige deutsche Wirtschaft hart traf. Die Bundesrepublik musste 1981 rund 75 Milliarden D-Mark mehr für Energieeinfuhren (Erdöl und Erdgas) ausgeben, das Defizit in der Energiehandelsbilanz machte allein 1981 knapp fünf Prozent des Bruttosozialprodukts aus. Die FDP unter Führung von Otto Graf Lambsdorff stritt mit der SPD über Einschnitte ins soziale Netz, darunter Kürzungen beim Kinder- und Arbeitslosengeld, was die SPD, um nicht Wähler zu verlieren, in dem geforderten Umfang ablehnte und der FDP vorwarf, nur noch die Interessen der Wirtschaft zu vertreten. Am 9. September 1982 präsentierte Lambsdorf in einem so genannten Wende-Papier entsprechende Vorschläge zur »Reform« der Wirtschafts- und Sozialpolitik. Nach Ablehnung durch den Kanzler brachten CDU/CSU und FDP in einem gemeinsamen konstruktiven Misstrauensvotum Schmidt eine Niederlage bei. Danach traten die Liberalen in die Regierung der CDU/CSU unter Kohl ein. Lindners Ankündigung, er wolle in einer neuen Regierung, gleich welcher, wieder Finanzminister werden, zeigt, dass er denselben Weg gehen wird. Denn da ihn ein SPD-Kanzler kaum wieder nehmen würde, kann es sich nur um einen Wechsel zur CDU handeln.
  • Leserbrief von Dr. Kai Merkel aus Wuppertal (9. November 2024 um 12:40 Uhr)
    Die Ukraine sichert/verteidigt laut Baerbock also Deutschlands »Freiheit«? Ach ja? Ich kann mich noch gut an bessere Zeiten erinnern, als Minister zurücktreten mussten, weil sie es gewagt hatten, öffentlich zu sagen, dass »Deutschlands Freiheit« am Hindukusch »verteidigt« wird. Heute bleiben solche verlogenen Aussagen nicht nur ohne Konsequenz, sind »normal« geworden und werden auch noch vom Medienmainstream unterstützt. Dass die Grünen zusammen mit der SPD die Schuldenbremse aussetzen wollten, um diesen sinnlosen Krieg weiter mit noch mehr Waffen zu unterstützen, statt z. B. unsere marode Infrastruktur endlich zu sanieren, ist eine Schande. Immerhin ist diese elende Ampel daran zerbrochen. Endlich. Es war die schlechteste Bundesregierung, die Deutschland jemals hatte. Die Lebenserwartung ist gesunken, die Inflation gestiegen, die Preise gerenzen an Wucher, Deindustrialisierung, Armut, Verzweiflung … das hinterlassen uns Baerbock, Habeck, Lindner und Scholz. Jetzt wird bestimmt bis zur Wahl wieder fleißig links geblinkt und von Frieden gelogen.
  • Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (8. November 2024 um 11:22 Uhr)
    Eine politische Scheidung und ihre Folgen. Am Tag danach reibt man sich die Augen. Die politische Erschütterung, die das Aus der Ampelkoalition auslöste, ist noch untertrieben beschrieben. Selbst in Berlin, einem Ort, der für politische Krisen bekannt ist, gab es bislang keinen Vergleich in dieser Form. Das Scheitern der Ampelkoalition und der Umgang damit markieren eine Zäsur in der deutschen Politik. 2021 trat erstmals ein Dreierbündnis als Regierungskoalition an, doch nur drei Jahre später gehen SPD, Grüne und FDP vorzeitig auseinander – ein zerbrochener Zusammenschluss, der politisch und menschlich jede Gemeinsamkeit verbraucht hat. Von Anfang an waren die Selbstinszenierung und der Umgang der Partner miteinander ein dominantes Thema in der Regierung. Es fehlte ein klares Machtzentrum, auf das man sich hätte verlassen können. Scholz verstand sich lange Zeit als Moderator – doch am Ende reichte das nicht aus, um seine Partei hinter sich zu versammeln. Wirtschaftsminister Habeck hatte nicht immer den Rückhalt seiner eigenen Partei, und FDP-Chef Lindner fühlte sich irgendwann mehr als Oppositionsführer innerhalb der Regierung denn als Koalitionspartner. Dieser Widerstand rührte auch aus einem wachsenden Misstrauen gegenüber dem Kanzleramt – und irgendwann passte gar nichts mehr zusammen. Dass es drei Parteien der politischen Mitte, angesichts des Erstarkens von Rechtsextremen und Populisten, nicht gelang, das Land sicher durch unruhige Zeiten zu steuern, ist, trotz allem, erschreckend. War dies das tragische Scheitern der politischen Mitte in Deutschland?
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Heinrich H. aus Stadum (7. November 2024 um 20:33 Uhr)
    Der mit dem kurzen Gedächtnis kann gute Schachzüge. Mit links blinken und rechts abbiegen trickst man Tiefflieger in der Wüste aus, möglicherweise auch das Wahlvolk (oder größere Teile desselben). Tritt der Wissing in eine Partei ein? In welche? Kommen die Kriegskredite mit der Feststellung der Notlage? Wann kommt die Regierung per Gesetzgebungsnotstand (Artikel 81 GG)?

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