Rosa-Luxemburg-Konferenz am 11.01.2025
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Aus: Ausgabe vom 08.11.2024, Seite 12 / Thema
DDR

Verpasste Alternativen

Fragen an die Geschichte sind Fragen an das Heute. Wege und Irrwege deutscher Spaltung und deutscher Einheit
Von Stefan Bollinger
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Traktor, Felder, junge Menschen: Kartoffelernte der LPG Dahme (10.9.1982)

Die DDR begann unterzugehen, als Massen sich gegen sie wandten. Als Menschen flohen, Kirchen bevölkerten und vor allem, als die SED sprachlos blieb, die Sicherheitsorgane ihren Job taten und zurückgepfiffen wurden, als die Führung die Flucht nach vorne antrat und die Mauer ohne Gegenleistung öffnete. Die Chance einer friedlichen, antistalinistischen Revolution verflog am 9. November, weil das eintrat, was manche ahnten, andere fürchteten und nur wenige herbeigesehnt hatten: Die DDR-Akteure wurden ersetzt durch die reale Macht eines expansiven westdeutschen Imperialismus, der etwas bot: Harte D-Mark, Reisen rund um die Welt, schicke Konsumgüter in berstenden Schaufenstern. Ja, wenn die Geschichte der DDR von ihrem Ende her betrachtet wird, gibt es fatale Urteile, aber kaum Antworten.

1989 waren einfache Antworten zum Greifen nahe: Die DDR hatte eine antistalinistische Reformierung versäumt, sie scheiterte an mangelnder Demokratie in Partei wie Staat, außenpolitische Optionen waren verspielt, ökonomisch lag man am Boden. Hier kann nur auf einige Momente verwiesen werden, die damals, wie auch später, antikapitalistischen Alternativen, erst recht, wenn sie radikal daherkamen, das Leben schwer machen.

Der Blick auf einen alternativen Sozialismus ist bis heute getrübt. Die Hoffnung, die nicht nur DDR-Intellektuelle mit dem Projekt »moderner Sozialismus« verbanden, stützte sich darauf, dass der Kapitalismus sich gewandelt habe, moderner, d. h. demokratischer, sozialer geworden sei, ja, dass man von einem »friedensfähigen Kapitalismus« ausgehen könne. Dafür gab es in den 1980er Jahren manch gute Argumente, doch letztlich wurde damals und erst recht heute zweierlei vergessen: Dieser Wandel des Kapitalismus hatte mit realen Gegenmächten zu tun, die ihn bedingt bändigen konnten. Der Realsozialismus jedoch, der ohnehin schon als Beispiel schwächelte, war genauso untergegangen wie eine starke Arbeiterbewegung, eine ambivalente Sozialdemokratie oder der beliebte Zukunftstraum einer Gesellschaft frei von Autorität und Staat. Vor allem wird übersehen, welche Rolle der moderne Imperialismus in seiner Vielgestaltigkeit von alter und neuer Bundesrepublik oder Israel oder Frankreich spielt und welche Stellung auch in Zeiten des Ringens um eine multipolare Welt immer noch die USA einnehmen.

Im Kern ging es darum, was dieser Staat DDR – und seine Analoga in Osteuropa, Asien, Lateinamerika und seine Klone in Afrika, Nahost und Lateinamerika – sein wollte: Staaten und Gesellschaften, in denen bislang unterdrückte und ausgebeutete Klassen oder Schichten selbst das Sagen haben – nur vermittelt durch eine Avantgardepartei, die selbst nicht frei von eigenen Ambitionen war, die mit der Macht umgesetzt werden können. Auf deutsche Verhältnisse bezogen: Es gab 1945 mit der Niederlage des Faschismus und der importieren Befreiung eben keine Stunde Null, es gab einen Moment der Besinnung, des Neuorientierens und des Wiederausbrechens jenes Klassenkonflikts, der seit der Mitte des 19. Jahrhunderts Deutschland gespalten, vorangetrieben, in Revolutionen und Konterrevolutionen, aber auch in den Faschismus gedrückt hatte – des Kampfs von Arbeiterklasse gegen Bourgeoise, wobei sich die Fronten immer wieder neu formierten, aufbrachen und zerflossen. Kein sozialpartnerschaftliches Faseln aus dem Westen konnte ihn verdrängen.

Ungeliebt versus kleingehalten

1945 befanden sich die beiden Klassenformationen, die einander seit dem Kaiserreich feindlich gegenüberstanden, in der ebenso komfortablen wie risikobehafteten Situation, auf den Trümmern des Nazireichs etwas Neues aufbauen zu müssen. Was im Zuge der Novemberrevolution noch für bourgeoise Ängste gesorgt hatte, trat jetzt ein, ein Teil des alten Reiches war an die Kommunisten gefallen und »der Russe« stand an Elbe und Werra. Beide Staatsgebilde, das östliche und das westliche, waren Kinder ihrer Besatzungsmächte, genauer der Sowjetunion und der USA. Sie beförderten die Einsicht der Deutschen, auch des größten Teils der alten Eliten, dass Faschismus, Rassenhass, Kriegsgelüste, Selbstüberhöhung ebenso wie vordergründige Militarisierung und offenes Anmelden von Vorherrschafts- und Weltherrschaftsambitionen unpassend seien.

Die Siegermächte wollten ein Deutschland, das demokratisch und antifaschistisch verfasst war, mit Toleranz für unterschiedliche Weltanschauungen und politische Ausrichtungen den Wiederaufbau organisierte und sukzessive die Wiederherstellung eines wohlstandsgetragenen Lebens für die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung sicherte. Die Deutschen wollten – durchaus mit Bereitschaft, für die Verbrechen gegen die Menschheit Abbitte zu leisten – als anerkannte, wenn auch zunächst ein wenig reuige Sünder in die internationale Gemeinschaft zurückkehren. Zweierlei aber schuf neue Bedingungen.

Zunächst war da das Bekenntnis zum Gesellschafts- und Wirtschaftssystem ihrer Siegermächte, und das hieß: Sozialismus versus flexibel gewordener Kapitalismus, der demokratische Spielregeln mit der Losung »Wohlstand für alle« (Ludwig Erhard) verband. Über Nacht fanden beide Staaten sich im Kalten Krieg wieder, ständig am Rande des heißen. Dem westlichen Part fiel das nicht allzu schwer, denn das Bekenntnis zu den USA und der westlichen Welt rührte nicht an den kapitalistischen Macht- und Eigentumsverhältnissen, zumal nach der Erfahrung des Faschismus Demokratie und Wohlstand nicht schaden konnten. Die baldige Absolution der westlichen Siegermächte, weil man deutsche Soldaten und Rüstung brauchte und daher bereit war, die Kriegsverbrecher der zweiten und dritten Reihe davonkommen zu lassen und der wirtschaftlichen Entflechtung (eine Forderung der Potsdamer Konferenz) großzügige Interpretation zu geben, lag nahe.

Der Osten hatte es schwieriger. Die hier dominierende Siegermacht brachte einen Gesellschaftsanspruch mit, der den Zielen der Kommunisten und der ihnen verbundenen Sozialdemokraten durchaus entsprach. Nur, sie war die ärmere, gebeutelte, regelrecht ausgeknockte Siegermacht, die allein durch das Leuchten ihrer sozialistischen Ideen, die Stärke der Roten Armee und die Machtfülle der Staatssicherheitsorgane eine neue Ordnung gewährleisten konnte. Und die mangels westlichem Entgegenkommen ihre Besatzungszone mit horrenden Reparationen beutelte.

Zum anderen griff etwas in diese Konstellation ein, das nur bedingt mit der Auseinandersetzung Kommunismus gegen Kapitalismus zu tun hatte und heute erneut aufbricht: geostrategische Entscheidungen zwischen Ost und West, der vermeintlichen freien Welt und dem von Moskau dominierten osteuropäisch-asiatischen Machtblock. War es nach 1917/18 noch gelungen, die Sowjetunion im Osten einzudämmen, hatten deren Kriegserfolg und die sich in Osteuropa etablierenden kommunistischen Parteien mit ihrem zunächst keineswegs erfolglosen sozialistischen Kurs, aber auch die im Westen erstarkten Kommunisten die Verhältnisse umgekehrt.

Konnte es in dieser Situation gelingen, Deutschland als Ganzes oder wenigstens den von der jeweiligen Führungsmacht kontrollierten Bereich in den eigenen Block zu integrieren? Moskau wie Washington wollten es, idealerweise Deutschland im ganzen, zur Not, wie die westliche Formel dann lautete, »lieber das halbe Deutschland ganz als das ganze Deutschland halb«. Sowjetische Vorstellungen dürften in eine ähnliche Richtung gegangen sein. Die Diskussion, ob die DDR »Stalins ungeliebtes Kind« war, spricht dafür, auch wenn Stalins Elogen zur DDR-Gründung anderes klangen. In seinem Telegramm zur Staatsgründung betonte er, dass sie »ein Wendepunkt in der Geschichte Europas« wie auch ein »Grundstein für ein einheitliches, demokratisches und friedliebendes Deutschland« sei.¹ Denn eigentlich wollte Stalin, wie die deutschen Kommunisten, mehr, und er war dafür bereit, den sich langsam entwickelnden sozialistischen Keimling, gehegt von der SED, auch wieder zu opfern. Die bis heute diskutierten Stalin-Noten von 1952 sind dafür ein Beleg. Erst nach Stalins Tod und dem Scheitern des Versuchs einer Preisgabe durch Berija 1953 zementierten der Staatsvertrag von 1955 und die Mitgliedschaft im Warschauer Pakt die Existenz des anderen deutschen Staates.

Doch auch im Westen war nicht nur eitel Sonnenschein. Deutsche Soldaten, militärisches Know-how, Wirtschaftskraft und Tüchtigkeit nahm man gern, idealerweise den verwurzelten Antikommunismus und Antisowjetismus gleich mit. Ein Restrisiko indessen blieb, und die dem ersten NATO-Generalsekretär Baron Ismay zugeschriebene Formel »Keep the Soviet Union out, the Americans in, and the Germans down« war ernst gemeint.² Ihm sollte man glauben, er war einer jener britischen Militärs, die schon 1945 eine »Operation Unthinkable« ausarbeiteten, um nicht zuletzt mit frisch gefangenen Nazitruppen nahtlos gegen den sowjetischen Nochverbündeten in den Krieg zu ziehen. Dennoch erhielten die bundesdeutschen Eliten ihren Ritterschlag mit dem Eintritt in die NATO, nachdem der Versuch, eine Sonderlösung in Gestalt der EVG zu schaffen, am französischen Widerstand gescheitert war. Stalins Noten konnten das nicht verhindern.

Die DDR hatte es nicht ganz so leicht, im Osten waren die Folgen faschistischer Okkupation und Vernichtungspolitik weitreichender, blutiger, traumatischer. Das Abkommen von Zgorzelec 1950 markierte einen ersten Schritt: Diplomatische, wirtschaftliche und schließlich freundschaftliche Beziehungen mit den Staaten des Ostblocks wurden aufgebaut.

Preis der Technologierevolution

Die Geschichte beider deutscher Staaten enthält einige Krisen, allerdings keine gewaltsame Konfrontation. Die Probleme ergaben sich aus dem jeweiligen Platz in der Systemauseinandersetzung und aus Bündnisverpflichtungen. Der Westteil musste mit seiner Sozialpolitik 1948 den einzigen deutschen Generalstreik nach 1920 aushalten, sich gegen die »Ohne-uns-Bewegung« behaupten, nach 114 Tagen erbittertem Streik 1957 bei der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall Zugeständnisse machen und die politischen wie geistigen Unruhen im Umfeld des Jahres 1968 verkraften. Bonn wollte auf einmal »mehr Demokratie wagen« und fand neue Formen der politischen Partizipation durch Bürgerinitiativen. Ende der 1970er Jahre erschütterten linksradikale Terroristen nicht wie geplant den Staat, sie forcierten den Polizeistaat.

In zwei Fragen spaltete die alte Bundesrepublik sich beinahe: Will man als Verbündeter der USA die »NATO-Nachrüstung« mittragen? Und was muss eine Hinwendung zum Umweltschutz leisten? Im vierten Jahrzehnt ihres Bestehens kam es zu einer Neuformierung des Parteiensystems, die Grünen zogen in die Parlamente ein. Die Zulassung der DKP zwölf Jahre nach dem KPD-Verbot hatte eine solche Wirkung ebenso wenig wie das Erstarken extrem rechter bis faschistoider Parteien wie NPD und Republikaner, die die CDU verunsicherten, eine breite Entwicklung nach rechts aber nicht auslösen konnten. Es blieb beim »normalen« Rechtsschwenk in der Wirtschafts- und Sozialpolitik nach dem Sturz der sozialliberalen Koalition. Dem Neoliberalismus aber wurde noch nicht Tür und Tor geöffnet wie bei den Angelsachsen. Über die aus heutiger Sicht vergleichsweise kleinen Wirtschaftskrisen von 1967 und 1982 mag man gar nicht reden, auch wenn sie anzeigten, dass das »Wirtschaftswunder« sich erledigt hatte, da Massenarbeitslosigkeit wieder in Erscheinung trat. Beide Krisen bescherten der Bundesrepublik indes politische Neuausrichtungen, den Regierungs­eintritt der Sozialdemokratie 1966 bzw. 1969 und ihren Sturz 1982.

All das scheint aus heutiger Sicht und auch im damaligen Kontext das normale Auf-und-Ab einer kapitalistischen Wirtschaft, eingebunden in die Beziehungen des Westens und in die Systemkonfrontation, zu sein. Mit dem Beginn der sozialliberalen Koalition streckte die BRD ihre Fühler gen Osten aus. Dort gluckerte das Erdöl, mit Pipelineröhren ließ sich Geld machen, und die Absatzmärkte in den RGW-Staaten – ob mittels politischer Erpressung geködert oder mit Krediten und Waren erschlossen – waren von Interesse.

Die Entwicklung der DDR war einfacher, gradliniger. Im nachhinein versucht man sie als krisenbehaftet und stets am Abgrund stehend darzustellen, auch wenn die Periode von den späten 1950er bis zu den Anfängen der 1970er Jahre zeigt: Sozialismus mit starkem Staat, zuverlässigen Verbündeten und in einer sich öffnenden westlichen Welt, nicht zuletzt aber mit den großen Ressourcen der Trikontländer, kann funktionieren – und zwar gut. Politisch scheint die DDR in den meisten Phasen stabil gewesen zu sein. Jenseits von Wahlergebnissen belegten Meinungsumfragen – so etwas gab es damals, ehe blinder Funktionärsgeist ihre Unterlassung erwirkte –, dass viele Bürger sich mit dem Staat dann identifizierten, wenn es ihnen gut und besser ging, zudem, wenn sie dessen Friedens- und Solidaritätspolitik guthießen. Natürlich galt auch für die DDR, dass niemand und nichts sie schlagen kann als ihre eigenen Fehler. Gelegentlich griff die SED-Führung mit traumwandlerischer Sicherheit in die Fehlerkiste. Man provozierte mit bürokratischer Normerhöhung und z. B. einer Verteuerung von Marmelade den Volksaufstand am 17. Juni, begeisterte sich so sehr am »Sozialistischen Frühling« auf dem Lande, dass Bauern in den Westen flohen, ließ Versorgungslücken zu und sicherte nicht immer eine kontinuierliche Produktion. Zuwenig wurde das Gespräch gesucht, der »Dialog mit den Werktätigen«.

Gleichwohl bleiben die Brüche von 1953, 1960/61, 1988/89 bloß Episoden, auch wenn die letzte Krise – und nur für die DDR – in den Untergang führte. Sie verstellen den Blick auf wichtige Entwicklungen in beiden Staaten: die sich in den 1960er Jahren abzeichnenden Umbrüche der Produktivkräfte, das Aufkommen von Kybernetik und hochkomplexen technologischen Prozessen, die zunehmende Wichtigkeit von Ingenieuren und Akademikern als Vorreiter der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung. Bald fand man im marxistischen Sprachraum einen Begriff dafür: wissenschaftlich-technische Revolution. Während im Westen die Wirtschaft sich langsam, doch kontinuierlich – in Konkurrenz mit den USA und Japan – diesen Prozessen stellte, handelte die DDR durchaus entschlossen und zielgerichtet.

Zumindest in den 1960ern. Die SED-Führung um Walter Ulbricht hatte verstanden, dass die Dynamik des Wiederaufbaus erlahmt war und einen technologisch-wissenschaftlichen Schub im vergleichsweise starren zentralistischen Wirtschaftssystem herausforderte. Was im Westen der Zwang zum Profit regulierte, musste unter den Bedingungen einer staatlich organisierten Volkswirtschaft anders gelöst werden. Man hatte zu begreifen und praktikabel werden zu lassen, dass die Interessen der Gesellschaft einhergehen müssen mit denen der Betriebe wie der Produzenten. Ohne dass das so ausgesprochen wurde, ging es um eine sozialistische Marktwirtschaft, mit dem Primat des Staates, doch einer hochflexiblen, konfliktreichen, vielgestaltigen Volkswirtschaft: Das Neue Ökonomische System sollte es richten, und es erzielte Erfolge.

Der zu erwartende Preis – übrigens ähnlich wie im Kapitalismus – war eine zunehmende Individualisierung der Entscheidungen, die im Westen bewusst als Chance genutzt wurde, um ein zu revolutionäres Aufbegehren einer kritischen Jugend in die eigene Selbstverwirklichung, Selbstoptimierung umzulenken. So weit war die DDR noch lange nicht, die Bremser um Erich Honecker sahen die Risiken einer vielfältigen, widersprüchlichen, sich der Allmacht und Allwissenheit der Parteiführung entziehenden Bewegung.

Letztlich stieg die DDR zu Beginn der 1970er Jahre aus dieser Entwicklung aus, bekam mit dem »Prager Frühling« zudem vorgeführt, wohin der Prozess hätte führen können, wenn man nicht wachsam war. Erst mit der Rückbesinnung einer neuen KPdSU-Führung unter dem ebenso weitsichtigen wie unheilvollen Gorbatschow bot sich ein neuer Anlauf an. Der Westen hatte längst seine Chance genutzt, der Osten – selbst in seinen Hochburgen DDR und ČSSR – hinkte hinterher. Die in Moskau übers Knie gebrochenen Reformen brachten dort außer Desorientierung, Desorganisation, nationaler Spaltung und Chaos wenig. Bremser wie Nachahmer im restlichen Ostblock konnten diese Trümmer bloß neu sortieren. Die DDR-Führung sah die Risiken durchaus, doch Reformverweigerung und Harthörigkeit zeigen, wie man an einer vergessenen Revolution scheitern kann. Die Reaktionen an der Basis sind bekannt, es blieb beim vergeblichen Versuch, doch noch einen demokratischen Sozialismus auf die Beine zu stellen. Manches ging ein in die Diskussionen und Experimente des letzten, aufregendsten und doch verlorenen Jahres der DDR, geronnen im Verfassungsentwurf des runden Tisches wie in der Arbeit desselben.

Die Krisenmanager des Westens um Helmut Kohl hatten längst erkannt, dass ihre kleine Krise, die nicht nur eine Krise des Kanzlers, sondern auch eine des bundesdeutschen Konservatismus im Angesicht der Konkurrenz rechter Parteien war, nur im Vorwärtsgehen gelöst werden könnte. Um eine Metapher aus dem SED-Jargon zu bemühen: Sie mussten sich an die Spitze der Krisenlöser des Ostens stellen, dann würde keiner mehr über die Schwäche der BRD nachdenken, die nächste Krise würde die der Einheit sein, deren Verursacher schnell eben dort auszumachen wären.

Ein Blick auf diese komplizierte Geschichte lässt ahnen: Das Schicksal der DDR – sowohl in ihrem Entstehen auf den Trümmern eines 1933 verloren gegangenen Klassenkampfes wie auf den Trümmern einer Perversion des Kapitalismus in Gestalt des Faschismus – konnte nicht einfach sein. Allein die gut vier Jahrzehnte Existenz an der Frontlinie des Kalten Krieges sind schon aller Ehren wert. Ein Staat, der zeigte, dass die kleinen Leute, die Krauses, den Krupps etwas wegnehmen konnten und damit zurechtkamen. Ein Staat, in dem sie Wirtschaftsmanager, Richter, Lehrer, Generale, Ingenieure werden konnten. Ein Staat, der sich rühmen durfte, dass der Arbeiter und die Arbeiterin ihren Mund aufmachten und oft Gehör fanden. Ein Staat, der nicht immer wusste, mit welchen Mitteln und Methoden er sich sichern sollte, und oft fehlgriff, doch – zunehmend zähneknirschend – von seinen Bürgern und Intellektuellen akzeptiert wurde, wenn er sich nur in den Dialog begab, sich reformierte.

Versperrte Auswege

Es gab immer wieder Chancen für Alternativen, auch wenn sie nur unzureichend genutzt wurden – mit dem neuen Kurs nach dem 17. Juni, mit den Reformdiskussionen nach den Enthüllungen der Stalinschen Verbrechen, mit dem neuen Aufbruchsgeist nach dem Mauerbau in Gestalt von Frauen- und Jugendkommuniqués, aber vor allem mit dem Neuen Ökonomischen System. Genau diese Chancen wurden zu Beginn der 1970er Jahre verworfen. Prag schien zu zeigen, wohin zu viel Reformeifer führen kann, die neuen ökonomischen Chancen der wissenschaftlich-technischen Revolution kollidierten mit Problemen der Umstellung einer extensiven auf eine intensive Volkswirtschaft und ihren außenwirtschaftlichen Rahmenbedingungen, in denen selbst die Sowjetunion, wenig reformbegeistert, an die Grenzen des Machbaren stieß.

Die DDR existierte in einem Bündnis, das letztlich ihre Existenz garantierte. Dank Moskau, doch auch dank der anderen engen und nicht ganz so engen Verbündeten. Dieses Bündnis war mit denselben Problemen konfrontiert: Es brauchte einen Neuanfang in der Ökonomie, der ohne demokratische Reformen – von der einer realen Öffentlichkeit bis zu den Artikulationsmöglichkeiten unterschiedlicher Interessen – funktionieren musste. Allein mit der wenig lernbereiten und inflexiblen Partei, die lieber von oben nach unten delegierte, ging es nicht. Und die Härte wie in Beijing, Krisensituationen durchzustehen, die Macht zu sichern und trotzdem unbeirrt wirtschaftlich zu reformieren, verstanden weder Moskau noch Berlin noch Prag.

Was bleibt, ist klar: Die Biographien mehrerer Generationen von Bürgerinnen und Bürgern, die einen Sozialismus versuchten, dafür arbeiteten, sich aufopferten, Hoffnungen und Träume hineinlegten und doch merkten, dass den Geburtswehen und einer Phase des Aufschwungs schließlich eine Zeit der Stagnation und der Selbstauflösung folgte. Die DDR – sicher noch mehr als ihre osteuropäischen Verbündeten – demonstrierte, was Sozialpolitik für die Menschen leisten konnte, die sichere Arbeitsplätze hatten, die weniger an der Kluft zwischen Stadt und Land litten, die Bildungschancen für alle bot, die in den sozialen Leistungen vom Kindergarten bis zur Gesundheitsfürsorge nicht dem Gewinnstreben untergeordnet war und die vor allem praktizierte, dass Frau und Mann gleichberechtigt arbeiten, leben, sich bilden konnten. All dies nicht als Musterwerke ohne Fehl und Tadel, ohne Fehler und Unverhältnismäßigkeiten, aber als eine Erfolgsgeschichte, in deren Verlauf aber den Akteuren der Atem ausging.

1 Telegramm Stalin an Pieck anlässlich der DDR-Gründung. In: J. W. Stalin: Werke. Bd. 15. Mai 1945 – Oktober 1952. Dortmund 1976, S. 102–103.

2 NATO Declassified: Lord Ismay, 1952–1957: https://www.nato.int/cps/en/natohq/declassified_137930.htm (Stand: 23.10.2024 20.19 Uhr).

Stefan Bollinger schrieb an dieser Stelle zuletzt am 20. April 2023 über den Einfluss von Kriegen auf Weltordnungen.

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Franz S. (11. November 2024 um 15:25 Uhr)
    So viel ideologisches Durcheinander und Widersprüchliches findet man selten. Beispiel: Einerseits verkörpert Stalin für Bollinger das Böse schlechthin, weshalb eine »antistalinistische Revolution« und »antistalinistische Reformierung« nötig gewesen wäre. Auf der anderen Seite wird die Stalin-Note positiv erwähnt. Stalin wäre bereit gewesen, die DDR zugunsten eines geeinten Deutschland zu »opfern«. Dass das nicht stimmt und die DDR keineswegs »Stalins ungeliebtes Kind« war, hat Kurt Gossweiler in seinem Aufsatz zur Stalin-Note ausführlich belegt. Beispiel 2: »Erst nach Stalins Tod und dem Scheitern des Versuchs einer Preisgabe durch Berija 1953 zementierten der Staatsvertrag von 1955 und die Mitgliedschaft im Warschauer Pakt die Existenz des anderen deutschen Staates«. Wenn man das liest, könnte man meinen, die Genossen in der SED hätten die Spaltung Deutschlands verursacht. Dass vom Westen mit der Währungsreform im Juni 1948 die Spaltung eingeleitet und mit der Gründung der BRD am 23. Mai 1949 vollzogen wurde, wäre die Wahrheit gewesen. Beispiel 3: Stalins Standhaftigkeit bei der Verteidigung des Sozialismus wird als »Verbrechen« verdammt, aber das harte Durchgreifen der chinesischen Regierung 1989 ganz anders kommentiert: »Und die Härte wie in Beijing, Krisensituationen durchzustehen, die Macht zu sichern und trotzdem unbeirrt wirtschaftlich zu reformieren, verstanden weder Moskau noch Berlin noch Prag«. Fazit: Stefan Bollinger liefert hier einen politischen Gemischtwarenladen ab. Das zeigen auch die Reaktionen der Leser. Fast für jeden etwas dabei. Wer behauptet, »dass es in der DDR gar keinen Sozialismus gab«, kann sich ebenso wiederfinden wie derjenige, der zwar die DDR verteidigt, sich aber dann doch vom Autor beeindrucken lässt: »Die Enkel fechten’s besser aus!«. Zur Bildauswahl: Die Landwirtschaft der DDR könnte man auch vorteilhafter darstellen. Die Ernte scheint recht mager ausgefallen zu sein. Fast mehr Menschen als Kartoffeln.
  • Leserbrief von Henning Wesarg aus Halberstadt (11. November 2024 um 14:59 Uhr)
    Vielen Dank an Stefan Bollinger für diesen wichtigen, ja notwendigen Artikel, in dem er die für den Start der DDR so belastenden Reparationen an die Sowjetunion erwähnt. Ich möchte das noch ein wenig mit Fakten untermauern. Der staatliche Beginn der DDR war mit einem industriellen Widerspruch belastet, der Adenauer zur Bemerkung veranlasste, »dieses Gebilde von Leichenfledderern« würde nicht das erste Jahr überstehen. Auf dem Territorium der DDR befand sich 1945 fast die Hälfte der Eisen- und stahlverbrauchenden Schwerindustrie, Maschinen-, Anlagen- und Fahrzeugbau, und keine Rohstoffbasis. Hier standen vier veraltete Hochöfen in Unterwellenborn gegen 120 im Ruhrgebiet. Die Zwickauer Steinkohle war nur für Schmiedekoks geeignet. Es gab nur ein einziges Portlandzementwerk hier im benachbarten Schwanebeck. Alle diese Werke, auch die der Chemie, waren SAG, Sowjetische Aktiengesellschaften, welche Reparationen lieferten. Das zweite Gleis wurde demontiert und manches andere. Die DDR trug die gesamte Wiedergutmachungslast an die Sowjetunion, nachdem Truman angesichts des erfolgreichen Atombombentests von Alamogordo das Gespräch darüber mit Stalin abgebrochen hatte. 90 Prozent der Wirtschaftsleistung entstammten 1989 Betrieben, die während der Existenz der DDR erschaffen, umgebaut oder modernisiert wurden. Die Wirtschaftsleistung wurde also in 40 Jahren verzehnfacht. Wer will die Leistungen der Werktätigen unseres Landes kleinmachen?
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Joachim S. aus Berlin (8. November 2024 um 09:22 Uhr)
    1989 hatte die DDR einen ökonomischen Leistungsstand erreicht, der oberhalb desjenigen von beispielsweise Portugal, Spanien oder Griechenland lag, um nur einige Länder dieser Welt herauszugreifen. Und obwohl auch in diesen Ländern massenhaft Widersprüche und ungeklärte Probleme bestanden und bestehen, existieren diese immer noch als selbständige Staaten. Es greift also zu kurz, immer wieder nur auf das damals noch nicht Erreichte oder auf real aufgetretene Widersprüche hinzuweisen. Gewiss ist die DDR auch über ihre eigenen Füße gestolpert. Sieht man sich in der internationalen Politik um, gibt es dafür aber auch unter den »Überlebenden« mehr als genug Beispiele. Man kann nicht oft genug hervorheben, dass die Ausgangsbedingungen für die Verwirklichung der Vision von einer neueren, gerechteren Gesellschaft katastrophal waren: ein in Trümmern liegendes Land, ein enormer ökonomischer Entwicklungsrückstand, ökonomisch schwache Freude und ein Haufen zu allem entschlossener Feinde. Manch einer hat in dieser Zeit davon gesprochen, dass es angesichts dieser Bedingungen ein Wunder war, was dennoch geschaffen werden konnte. In all dem steckte viel Arbeit. Die darf man auch im Nachhinein ehren und bewundern. Und nicht denen das Wort reden, denen all das immer ein Dorn im Auge war. Denen es selbstverständlich geblieben ist, auf die Splitter im Auge jenes kleinen Ländchens zwischen Ostsee und Erzgebirge zu verweisen, um nicht auf die Balken im eigenen zu sprechen kommen zu müssen. Wenn man in einem ungleichen Kampf unterlegen ist, darf man trotzdem selbstbewusst bleiben. Und wie die Unterlegenen des Deutschen Bauerkrieges laut und trotzig sagen: »Die Enkel fechten’s besser aus!«
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Norbert S. aus München (8. November 2024 um 01:27 Uhr)
    Sehr aufschlussreiche Darlegungen. Mir, der ich die DDR nur in ihren letzten 11 Jahren persönlich erlebt hat, wurde dadurch erstmals konkret bewusst, wie es zu dieser Mischung aus überaus menschenfreundlicher, progressiver Ideologie und autoritärer, miefig-»boomer«artiger Verspießtheit kam, die die positive Ideologie als »Lüge in der Praxis« darstellte. An letzterer musste dann der Westen nur mit seinen üblichen, vergleichsweise ausgefeilten Propagandamethoden andocken, d. h. den Leuten in dem Fall statt einer Möhre ein paar Bananen und Videorekorder vorhalten und sie mittels zweimal pro Stunde gesendetem »Gropius-Lerchen«-Song in die emotionale Manie treiben, die jeglichen Verstand vernebelte, und schon war das Thema DDR quasi erledigt. (»Schon gelaufen«-Empfehlung zur Methodik: »Wag the Dog - Wenn der Schwanz mit dem Hund wackelt«) Auch bestätigt mich die Darstellung, dass es in der DDR gar keinen Sozialismus gab, sondern dieser höchstens angestrebt, aber durch die Verhältnisse in der Welt und eigener Fehler in der Praxis effektiv verhindert wurde. Ich denke, viele verwechseln aufgrund des gleichen Wortstammes Sozialismus mit Sozialstaat. Letzteres war die DDR extrem, sicher weit ausgeprägter, als sie es sich eigentlich leisten konnte. Auf der psychologischen Ebene ging es den Menschen dadurch aber viel besser als heute, trotz Versorgungslücken bei Luxusgütern oder auch Grundbedarfen wie Kleidung, Baumaterialien oder Handwerksdienstleistungen. Aber da die Werktätigen im Betrieb de facto nur wenig zu melden hatten, quasi alles von der Partei bestimmt und geplant wurde, die auch das gesamte Staatswesen bestimmte, war es kein Sozialismus, sondern im Gegensatz zu heute weitgehend privat organisiertem Wirtschaftssystem eine Art von sozialstaatlichem Staatskapitalismus. Evtl. vergleichbar mit einem Mischkonzern, der zu einem Gesamtmonopol konzentriert auch alle Staatsaufgaben direkt statt über den ideellen Gesamtkapitalisten übernimmt und abwickelt.

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