Leise Rechtsverschiebung
Von Reinhard Lauterbach, PoznańDie Aufregung über die »zeitlich und räumlich beschränkte« Suspendierung des Asylrechts durch die polnische Regierung hat sich schnell wieder gelegt. Sie soll entlang der Grenzen zu Belarus und Russland gelten. Nicht nur, dass die EU die entsprechende Ankündigung von Ministerpräsident Donald Tusk abgenickt hat, auch in der polnischen Gesellschaft stößt der restriktive Asylkurs im großen und ganzen auf Zustimmung. Kritische Stimmen von Juristen und Menschenrechtsaktivisten sind inzwischen verstummt, und die Stimmung in der Bevölkerung wendet sich immer mehr gegen Zuwanderung ganz allgemein.
Bei einer kürzlich durchgeführten Umfrage zu den Hauptbefürchtungen der Polen lag die Sorge über die Ankunft Asylsuchender aus Asien und Afrika zwar mit 26 Prozent der Nennungen nur im Mittelfeld nach Krieg und Inflation. Aber zusammen mit der gesondert abgefragten Haltung zur Aufnahme von Geflüchteten aus der Ukraine (23 Prozent sahen dies negativ) sind es weiterhin 49 Prozent der Befragten, die dafür sind, die Zuwanderung zu beschränken – zum Beispiel auf solche Ukrainer, die aus kriegszerstörten oder russisch kontrollierten Gebieten kommen. Jeweils absolute Mehrheiten bringen die Anwesenheit von rund einer Million Ukrainern mit einem Anstieg der Kriminalität und der Preise und der Verknappung von Wohnraum in Verbindung, fast die Hälfte macht die Ukrainer für Probleme mit dem Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen verantwortlich – obwohl der Zustand des öffentlichen Gesundheitswesens in Polen auch schon beklagt worden war, bevor die Schutzsuchenden gekommen sind. Jeweils etwa 40 Prozent sehen in ihnen den Grund für die Überfüllung der Schulen und die auch in Polen zunehmende Arbeitslosigkeit.
Es kann dabei nicht ausbleiben, dass dieser Stimmungswandel von Politikern ausgenutzt wird. Die rechte »Konföderation« agitiert seit Monaten gegen die »Ukrainisierung Polens« und befindet sich in den Umfragen im Aufwind – inzwischen als drittstärkste politische Kraft des Landes. Vorn liegen mit jeweils etwa 30 Prozent die regierende »Bürgerkoalition« von Donald Tusk und die im Herbst 2023 abgewählte PiS von Jarosław Kaczyński.
Im Kabinett gaben die vom polnischen Linksbündnis gestellten Minister ein Sondervotum zur Asylgesetzgebung ab und ließen es dabei bewenden. Wie die von ihnen verlangte »verfassungskonforme« Reform bestehender Regelungen aussehen solle, sagten sie nicht. Die bisher mit dem Linksbündnis in einer Fraktionsgemeinschaft verbundene Partei »Razem« hat sich hinsichtlich des Themas gespalten. Fünf ihrer neun Parlamentarier haben der Partei den Rücken gekehrt, um ihre Posten zu behalten – oder, wie es die von »Razem« kommende Vizepräsidentin des Senats, Magdalena Biejat, so schön ausdrückte: Es sei besser, Realität zu gestalten, als sie nur zu kommentieren. Die vier verbliebenen »Razem«-Abgeordneten um den Kovorsitzenden Adrian Zandberg haben die Fraktion der Linken verlassen und bilden jetzt eine gesonderte Gruppe – wobei eine Parlamentarierin derzeit suspendiert ist, weil sie sich im Namen der »Entwicklung« Polens mit dem PiS-Abgeordneten Marcin Horała für den Bau eines Zentralflughafens (CPK) zwischen Warschau und Łódź einsetzt, mit dem die PiS zu ihrer Regierungszeit Frankfurt am Main und München Konkurrenz machen wollte, ohne mit dem Projekt sehr weit gekommen zu sein. Es ist also nicht einmal so, dass man genannte Spaltung auf der Skala von links bis rechts verorten könnte.
Das Schicksal des Flughafenprojekts ist im übrigen symptomatisch dafür, wie vorsichtig die regierende Koalition mit dem politischen Erbe der PiS-Zeit umgeht: Obwohl Gutachten vorliegen, die die Notwendigkeit und Wirtschaftlichkeit des CPK bezweifeln, soll das Vorhaben weitergeführt werden, angeblich in abgespeckter Form, zum Beispiel bei der Anbindung ans Schienennetz. In vielen Punkten ist sich das Bündnis aus »Bürgerkoalition«, »Bauernpartei« (PSL), dem Individualprojekt »Polen 2050« von Sejmmarschall Szymon Hołownia und der Linken ohnehin nicht einig. So hat die PSL im Sommer den Versuch der Linken, Schwangerschaftsabbrüche wenn schon nicht zu legalisieren, so doch ihre Strafbarkeit zu streichen, gestoppt, noch bevor Staatspräsident Andrzej Duda das Projekt hätte blockieren können. Und aktuell sabotiert die PSL den Versuch von Bildungsministerin Barbara Nowacka von der »Bürgerkoalition«, die Zahl der wöchentlichen Religionsstunden von zwei auf eine zu reduzieren.
Die PSL betätigt sich dabei als politischer Arm des polnischen Episkopats, der die Lehrplanreform als Verstoß gegen das Konkordat zwischen Polen und dem Vatikan aus dem Jahre 1993 kritisiert. Faktisch geht es den Bischöfen aber wohl vor allem darum, dass dann auch die aus dem Staatshaushalt finanzierten Gehälter, mit denen sich Priester und Ordensleute ein Zubrot verdienen, um die Hälfte schrumpfen würden. Es geht dabei immerhin um eine halbe Milliarde Złoty (gut 110 Millionen Euro), die von der Kirche eingebüßt werden könnten. Dabei hat das Interesse am Religionsunterricht drastisch nachgelassen: Vor allem in den Großstädten melden sich ganze Jahrgänge von Schülern der oberen Klassen davon ab, sobald sie das mit dem 16. Lebensjahr können. Es bewahrheitet sich so nach Jahrzehnten ein Zitat, das dem 1. Sekretär der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei zwischen 1956 und 1970, Władysław Gomułka, zugeschrieben wird: Der verpflichtende Religionsunterricht sei die beste Methode, die polnische Jugend von der Religiosität abzubringen.
Hintergrund: Haltet den Russen
Vor etwa zehn Tagen wurde in Polen die Festnahme eines Ukrainers gemeldet. Der aus Odessa stammende Mann steht laut dem Inlandsgeheimdienst ABW im Verdacht, in russischem Auftrag einen Brandanschlag auf einen Farbengroßhandel in Wrocław vorbereitet zu haben. Angeblich soll der Mann im Internet rekrutiert worden sein; 2.000 US-Dollar habe er als Anzahlung bekommen, weitere 2.000 seien ihm nach erfolgter Tat versprochen worden. Der Mann ist den Angaben der ABW gemäß geständig und habe erklärt, er habe die Tat nicht wirklich verüben wollen, sondern nur seine Auftraggeber um die zweite Tranche des Honorars erleichtern wollen. Als Sachbeweis stellten die Behörden beim Zugriff zwei Flaschen Grillanzünder sicher und auf dem Handy ein angeblich in Russland verfasstes Handbuch für Saboteure, vor dessen Speicherung Nutzer ausdrücklich gewarnt werden. Der Festgenommene muss also ein ziemlicher Dilettant gewesen sein – oder es handelt sich um einen Fake.
Dafür spricht insbesondere, dass die Festnahme angeblich schon im Februar erfolgt ist und das polnische Außenministerium erst jetzt als angebliche Konsequenz das russische Konsulat in Poznań schließen ließ. Außerdem beschränkte es die Bewegungsfreiheit der im Lande verbliebenen russischen Diplomaten auf Warschau und die umliegende Wojewodschaft Masowien. In den Medien wird genüsslich diskutiert, ob man den russischen Botschafter gleich ausweisen oder ihn vielleicht durch diese Schikanen noch ein bisschen »quälen« solle.
Die neueste Tatarenmeldung kam am Freitag. Da meldete die Gazeta Wyborcza, dass angeblich eine belarussische Hackergruppe am Tag vor der Parlamentswahl im Oktober 2023 polnische Rechner infiziert habe, um das Wahlergebnis zu beeinflussen. Wie und welche Erfolgschancen ein solcher Versuch – so es ihn denn gegeben hat – so kurz vor der Abstimmung noch gehabt hätte, war der Redaktion keine Abwägung wert. Hauptsache, man treibt eine Sau durchs Dorf. (rl)
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