Rosa-Luxemburg-Konferenz am 11.01.2025
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Aus: Ausgabe vom 09.11.2024, Seite 4 (Beilage) / Wochenendbeilage
Völkermord

In Schutt und Asche

Völkermord an den Jesiden – zehn Jahre danach: Die Heimat zerstört, Überlebende traumatisiert
Von Rojhat Ravo
Flucht Richtung Syrien: Zehntausende fliehen zu Fuß vor der Gewalt des »Islamischen Staats« (11.8.2024)
Zumindest in Sicherheit: Das Geflüchtetencamp Bajed Kadal südwestlich der Stadt Dohuk im Irak (15.9.2014)
Zehn Jahre danach ist die Zerstörung im Stadtzentrum von Şengal noch deutlich sichtbar (19.10.2024)

Am 3. August 2014 begann eines der dunkelsten Kapitel der jüngeren Menschheitsgeschichte, als der sogenannte Islamische Staat (IS) einen brutalen Angriff auf das Siedlungsgebiet der Jesiden in der Region Şengal (arabisch Sindschar) im Nordirak durchführte. Es war der 74. Genozid, dem diese Gemeinschaft zum Opfer fiel. Tausende Jesiden wurden in den folgenden Tagen und Wochen getötet, zahlreiche Frauen und Kinder wurden entführt und versklavt. Diese Verbrechen zielten nicht nur auf die physische Vernichtung der Gemeinschaft, sondern ebenso auf die Auslöschung ihrer kulturellen und religiösen Identität, wie es auch der Bundestag anerkannt hat. Laut aktuellen Zahlen der Organisation Yazda, die sich für religiöse und ethnische Minderheiten einsetzen, sind 1.268 Jesidinnen und Jesiden getötet worden. Darüber hinaus wurden 2.763 Kinder aufgrund des Genozids zu Waisen, 6.417 Frauen und Mädchen endeten in der Sexsklaverei; 400.000 Menschen wurden vertrieben, und viele von ihnen leben nun in Geflüchtetencamps in Irak und Syrien.

Die Anerkennung des Genozids durch den Bundestag im Januar 2023, neun Jahre nach diesen Greueltaten, markierte einen wichtigen politischen und moralischen Schritt. Deutschland, in dem mit etwa 200.000 Jesidinnen und Jesiden die größte jesidische Diaspora außerhalb des Irak lebt, ist somit in einer besonderen Verantwortung gegenüber den Überlebenden und deren Nachkommen. Diese Anerkennung stellt für die Betroffenen nicht nur eine symbolische Genugtuung dar, sondern hat weitreichende politische, rechtliche und moralische Implikationen. Ohne offizielle Anerkennung kann es keine Aufarbeitung oder Forschung zum Genozid geben. »Denn solange die Verbrechen nicht institutionell anerkannt wurden, hat es sie offiziell nicht gegeben«, schreibt Mihran Dabag in der aktuellen Zeitschrift für Genozidforschung. »Erst wenn die Verbrechen offiziell anerkannt sind, können auch die Betroffenen selbst ihre Geschichte aufarbeiten«, so der Professor für Genozidforschung. Es »bedeutet, das Existenzrecht der Opfergruppe anzuerkennen – und dadurch ihre Geschichte erzählbar zu machen«.

Gefahr dauert an

Obwohl der IS in der Region inzwischen an Einfluss verloren hat, bleibt die Lage für Jesidinnen und Jesiden in Şingal und Umgebung weiterhin bedrohlich. Die Region ist nach wie vor von Konflikten und politischen Machtspielen geprägt, die das Leben der Überlebenden gefährden. Deutschland hat sich verpflichtet, das Gedenken an den Genozid wachzuhalten und den Überlebenden Gerechtigkeit und Schutz zu gewähren. Dennoch werden Jesiden weiterhin in den Irak abgeschoben. Diese Praxis steht im Widerspruch zu den Verpflichtungen Deutschlands und lässt Zweifel daran aufkommen, dass die Anerkennung des Genozids nicht lediglich ein performativer Akt war. Auch die Vereine Pro Asyl und Wadi e. V. verweisen in einem aktuellen Bericht darauf, dass Jesiden im Irak weiterhin erheblichen Risiken ausgesetzt sind, erneut Opfer von Gewalt und Verfolgung zu werden, insbesondere durch immer noch aktive IS-Strukturen.

Einige Bundesländer wie Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen haben zwar temporäre Abschiebestopps von drei Monaten für Jesiden verhängt, die jedoch lediglich für Frauen, Kinder und deren Kernfamilien gelten. Diese Abschiebestopps sind zeitlich begrenzt und gelten nicht für alle Betroffenen, was die Unsicherheit und psychische Belastung innerhalb der jesidischen Gemeinschaft in Deutschland zusätzlich verstärkt. Es ist unabdingbar, dass die Täter des Genozids zur Rechenschaft gezogen werden, und die Überlebenden verdienen umfassende Unterstützung. Mihran Dabag bringt es auf den Punkt, wenn er betont, dass ein Genozid »nicht mit dem Tag der Vernichtung« endet, sondern sich in Form von Traumata und gesellschaftlichen Konsequenzen über Generationen hinweg fortsetzt. Der Schutz von Minderheiten weltweit und die Verhinderung solcher Greueltaten müssen globale Prioritäten sein.

Die Organisation Yazda schreibt zum zehnten Jahrestag, dass zwar einige Anstrengungen unternommen worden seien, um Mitglieder des IS strafrechtlich zu verfolgen, »doch werden ISIS-Mitglieder im allgemeinen unter dem Aspekt des Terrorismus betrachtet, und die internationalen Verbrechen und schweren Menschenrechtsverletzungen, die sie möglicherweise begangen haben, werden vor Gericht oft ignoriert«.

Der Genozid an den Jesiden hat tiefe Wunden hinterlassen, die auch nach einem Jahrzehnt noch nicht verheilt sind. Viele Überlebende kämpfen mit den physischen und psychischen Folgen, und unzählige verschleppte Frauen und Kinder gelten weiterhin als vermisst. Die Anerkennung des Genozids durch den Bundestag war ein wichtiger Schritt, doch es müssen konsequent weitere Maßnahmen folgen, um den Überlebenden echten Schutz und Unterstützung zu bieten und Abschiebungen in gefährliche Regionen zu verhindern.

Rückkehr nach Şengal

Der Gedanke, Jesiden nach Şengal zurückzuschicken – eine Region, die durch Völkermord gezeichnet und kaum wiederzuerkennen ist, einen Ort voller Narben, die nicht mehr heilen können –, ist undenkbar. Nach Şengal zurückzukehren, zehn Jahre nach den Ereignissen, war wie ein Schritt in die Schatten eines früheren Lebens, das einst von Wärme, Lachen und Gemeinschaft erfüllt war. Die vertrauten Felder, die Häuser, die Straßen, auf denen Kinder spielten und Familien zusammenkamen – sie sind kaum mehr als Ruinen, eine Landschaft der Verwüstung, wo einst lebendige Gemeinschaft herrschte.

Die Orte, an denen ich aufgewachsen bin und mich sicher und geliebt fühlte, sind auf bloße Erdhaufen reduziert. Die Nachbarn, die wie Familie waren, die Freundschaften, die die Kindheit endlos erscheinen ließen – all das ist verschwunden oder zerstört; offene Massengräber sind von einem dürftigen Zaun umgeben. Viele meiner Freunde verloren ihr Leben bei einem einzigen brutalen Angriff, ohne Gelegenheit für einen Abschied. Ihre Überreste liegen verstreut in Massengräbern, und nur wenige konnten anhand von Knochensplittern und DNA identifiziert werden. Andere sind einfach verschwunden, verschluckt von einer Landschaft des Schweigens.

Die Ankündigungen alle paar Monate, Abschiebungen von Jesiden für drei Monate auszusetzen, sind keine Lösung und auch nicht das, worum wir bitten. Die Betroffenen verdienen Schutz und ein dauerhaftes Bleiberecht, und Deutschland muss zu seinem Wort stehen und die Anerkennung des Völkermords nicht als leeres Versprechen behandeln. Delegationen, die in die besten Gegenden Kurdistans und des Iraks geführt werden, können die Lebensrealität der Jesidinnen und Jesiden dort nicht erfassen.

Jede Familie in Şengal hat Mitglieder, Nachbarn oder Verwandte verloren; Tausende sind noch immer in der Gefangenschaft des IS, und die gesamte Gesellschaft ist traumatisiert – eine Wunde, die nicht heilen wird. Menschen abzuschieben, die hier alles verkauft und sich neu angesiedelt haben, ist unverantwortlich und unmenschlich. Ein weiteres zentrales Anliegen der Genozidüberlebenden und der in Şengal verbliebenen Menschen ist die Förderung von Bildungs- und Integrationsprogrammen. Solche Projekte sind essentiell, um den kulturellen Erhalt der jesidischen Gemeinschaft zu fördern. Hierzu zählen insbesondere auch Programme, die zur psychosozialen Unterstützung beitragen, um die langfristigen Folgen des Genozids zu bewältigen und die Stabilität der Gemeinschaft zu fördern.

Zusammenfassend fordern die Überlebenden des Genozids nicht nur materielle Wiedergutmachung durch die internationale Staatengemeinschaft und die deutsche Regierung, sondern dass sie sich dafür einsetzen, langfristig Frieden und Stabilität in der Region zu sichern. Abschiebungen in den Irak müssen gestoppt und Bleiberechtsperspektiven ermöglicht werden.

Rojhat Ravo ist Überlebender des Genozids vor zehn Jahren und lebt seit 2018 in Deutschland. Neben dem Masterstudium auf Lehramt engagiert er sich für die Aufarbeitung und Erinnerung an die Verbrechen gegen Jesidinnen und Jesiden.

Ermöglicht wurde die Veröffentlichung dieses Textes durch Pena-Ger, das bundesweit eine Onlineberatung für Geflüchtete anbietet. Die Initiative stellt Orientierungshilfen auf Kurdisch, Deutsch, Englisch, Türkisch, Soranisch und Farsi bereit und fordert einen bundeseinheitlichen Abschiebestopp und eine Bleibeperspektive für geflüchtete Jesidinnen und Jesiden in Deutschland.

Dazu erklärt die Initiative: »Wir erhalten immer wieder Nachrichten von geflüchteten Êzidinnen mit Duldungsstatus, die in großer Angst vor einer drohenden Abschiebung leben. Eine Rückkehr würde sie einem hohen Risiko der Verfolgung aussetzen. Aus diesem Grund halten sich weiterhin Hunderttausende Êzidinnen in überfüllten Flüchtlingslagern im Nordirak auf. Der sogenannte Islamische Staat (IS) verübt nach wie vor Terroranschläge sowohl im Nordirak als auch in Syrien. Es gibt weiterhin Berichte über gezielte Angriffe und Tötungen von Êzid*innen durch extremistische Gruppen im Nordirak. Die bloße Aussicht auf eine Rückkehr in diese unsichere Region versetzt die Überlebenden des Genozids in enorme psychische Not und erhöht das Risiko für Suizide unter den traumatisierten Opfern.«

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