Bundessepp und Bundesteddy
Von Peter KöhlerDieser Tage erscheinen unter dem Titel »Als Marx im Lotto gewann« Peter Köhlers »kleine Geschichten über große Geister« im Eulenspiegel-Verlag. Auch diese zählt dazu. Wir danken Autor und Verlag für die freundliche Genehmigung zum Abdruck. (jW)
Pardon!«
Der Herr im gepflegten Anzug hatte, während er auf den Zebrastreifen zusteuerte, gebannt eine Blondine auf der anderen Straßenseite beobachtet und den Mann im Regenmantel vor sich übersehen, dem ein Notizblock aus der Hand fiel.
»Keine Ursache«, erwiderte der Mann und bückte sich, doch der andere kam ihm zuvor und hatte den Block schon in der Hand, um ihn zurückzugeben, und stutzte.
Turek
Posipal Kohlmeyer
Eckel Liebrich Mai
Rahn Morlock O. Walter F. Walter Schäfer
las der gut gekleidete Herr und dachte: »Ein Gedicht. Aber auch reimlose Lyrik mit unregelmäßigem Rhythmus zu schreiben ist nach Auschwitz obsolet!« Dennoch reichte er dem Mann den Block und schaute an ihm vorbei nach der blonden Frau, die aber aus seinem Blickfeld geraten war. Der Mann schenkte dem Herrn mit der Hornbrille einen flüchtigen Blick, steckte den Block und den Stift, den er in der anderen Hand hielt, ein und überquerte die Straße.
Damit hätte eine der schönsten Freundschaften enden können, bevor sie begann. Doch wie der Zufall spielt: Drei Jahre später kam es zu einer Wiederholung an nämlicher Stelle, nur dass es diesmal der Mann im Trenchcoat war, der, in Gedanken über die Mannschaftsaufstellung für das Fußballländerspiel im Mai gegen Schottland versunken, den distinguierten Herrn anrempelte. Dem fiel ein Taschenkalender aus der Hand, der andere hob ihn auf und linste: »16.30 Studio HR Autorität u. Charakter« stand darauf. Beider Blicke begegneten sich.
»Haben wir uns nicht schon einmal gesehen?« fragten beide gleichzeitig und mussten unwillkürlich schmunzeln.
»Sind Sie nicht der Dichter?«, fragte der eine, und der andere: »Sind Sie vom Radio?«
»Nein, Herberger mein Name«, antwortete der Mann im Mantel. »Adorno«, darauf der andere, »von der hiesigen Alma mater.«
»Oh, Sie sind Italiener?« Italien war schon zweimal Fußballweltmeister geworden, wenn auch beide Male vor dem letzten Krieg, 1934 und 1938! Und Internazionale Mailand hatte sogar seinen Lieblingsfußballer Fritz Walter mit sehr viel Geld von Kaiserslautern weglocken wollen!
»Mitnichten. Ich bin ein Hiesiger, gebürtiger Frankfurter, auch wenn das meiner hochdeutschen Rede nicht sich anhören lässt«, erwiderte Adorno, von seiner Leutseligkeit selbst überrascht. Aber dieses eigenartige Männlein aus dem Volke mit dem klugen oder bloß schlauen Bauerngesicht machte ihn neugierig. Er fragte: »Wenn Sie über etwas freie Zeit verfügen, wäre es mir eine Freude, Sie auf einen Kaffee ins Café Laumer einzuladen. Dort bin Stammgast ich seit den 1920er Jahren, habe dazumal mit meinem frühen Mentor Siegfried Kracauer diskutiert, der Ihnen vielleicht durch seine erstmals 1930 publizierte Studie über die damals neue soziale Schicht der Angestellten vertraut ist, und traf seinerzeit des weiteren zu einer ironisch als Kränzchen benannten Diskussionsrunde mit meinen Kollegen Max Horkheimer, Friedrich Pollock und Paul Tillich mich, die eventualiter ein Begriff Ihnen sind.«
Fußballer sind das nicht, dachte Herberger, aber auch ihn interessierte jetzt dieser Herr mit der seltsamen Ausdrucksweise. Er war gerade in der Zentrale des Deutschen Fußballbundes in der Kennedyallee gewesen und hatte noch Zeit, bis der Zug nach Weinheim fuhr, wo er dann ein Taxi nach Hause nach Hohensachsen nehmen würde.
Schon auf dem Fußweg zum Café machten sie sich näher bekannt. Herberger erzählte von seiner Vergangenheit als Fußballspieler in der Weimarer Zeit, in der er sogar mehrmals in die Nationalmannschaft berufen worden war, und berichtete von seiner jetzigen Tätigkeit als Übungsleiter der bundesdeutschen Auswahl. Adorno nickte und skizzierte seine Arbeit am Frankfurter Institut für Sozialforschung und umriss grob die Themen seiner Vorlesungen über Philosophie, Soziologie und Psychologie. Herberger nickte. »Genau! Psychologie ist auch im Fußball unentbehrlich«, stimmte er zu. »Deshalb habe ich während der Fußballweltmeisterschaft in der Schweiz vor drei Jahren in unserem Quartier in Spiez den sensiblen, grüblerischen Fritz Walter mit dem fidelen Helmut Rahn auf ein Zimmer gelegt. Das klappte wunderbar, und im Finale in Bern schlugen wir die hochfavorisierten Ungarn 3:2.«
»Ungarn haben in der Wissenschaft Großes geleistet«, gab ihm Adorno recht. »Georg Lukács mit seiner grundlegenden Schrift ›Geschichte und Klassenbewusstsein‹ von 1923 hat in vielem die Augen mir geöffnet und meine, damals wiewohl noch ferne, wissenschaftliche Bahn durchaus vorbestimmt.«
»Genauso hat Rahn im Wankdorfstadion von Bern seine Bahn bestimmt, zog in der 84. Minute mit dem Ball an der Strafraumgrenze an den ungarischen Abwehrspielern vorbei und netzte aus 16 Metern zum Siegtreffer ein. Nach dem Titelgewinn fragte niemand mehr, warum ich in der Vorrunde gegen dieselben Ungarn eine B-Mannschaft aufgeboten hatte, die 3:8 verlor. Ich wollte, dass die Ungarn sich in Sicherheit wiegen.«
»… wiegen, wie Sie sagen, Wiegeschritt, damit assoziiere ich Musik, der in meinen jungen Jahren ich mehr mich gewidmet hatte als der analytischen Durchdringung der kapitalistischen Industriegesellschaft und der Kritik ihrer psychologischen und sozialen Folgen in der Gesellschaft wie für das Individuum. Ich war Mitte der 1920er Jahre nach Wien gegangen, studierte die Zwölftonmusik von Arnold Schönberg und betätigte bald danach als Musikkritiker für große Zeitungen mich.«
»Wenn bei Capri die rote Sonne im Meer versinkt!« sinnierte Herberger, der mehr auf deutsche Schlager stand und einen zünftigen Marsch, eine ordentliche Blasmusik jedem klassischen Konzert vorzog. Adorno griff das Stichwort »Capri« auf: »Mein italienischer Großvater mütterlicherseits war in den 1860er Jahren nach Frankfurt am Main ausgewandert. Als Fechtmeister hatte er keine Anstellung in seiner Heimat mehr gefunden, doch die schlagenden deutschen Burschenschaften suchten für die Mensuren Fachleute, wie ihn es einer zu sein beliebte.«
»Die jungen Burschen brauchen Disziplin, auch im Fußball!« nahm Herberger das Zuspiel an. »Ich arbeite seit über zwanzig Jahren als Trainer und predige besonders den Nachwuchsspielern, dass feste Regeln und eine klare Ordnung, eine von jedem akzeptierte Hackordnung auf dem Platz sein müssen. Einer muss der Chef sein!«
Dem stimmte Adorno, obwohl er in der Institutshierarchie noch unter dem Direktor Horkheimer stand, im Prinzip zu, weil die Regeln und Grundlagen einer hierarchisch organisierten Gesellschaft im bürgerlich verfassten Staat von einer neuen heranzubildenden Generation Kritischer Theoretiker zu begreifen und zu hinterfragen er als seine Aufgabe im akademischen Lehrbetrieb ebenso verstand, wie in populären Vorträgen in Radio und Fernsehen der breiten Masse verständlich sich zu machen er bestrebt und eines Tages Chef des Instituts zu werden gewiss sich war, nur dass Adorno das jetzt in einfacheren Worten explizierte, also sagte.
Unterdessen hatten sie das Café erreicht und setzten ihren Ideen- und Erfahrungsaustausch munter fort, bis Adorno unter Verweis auf die vorgerückte Zeit und seinen Termin beim Hessischen Rundfunk zum Aufbruch drängte. Das gegenseitige Interesse war geweckt, und beide sprachen einander Einladungen aus.
Die Freundschaft, die an diesem Tag begann, sollte bis zu Adornos Tod Bestand haben, wenngleich es noch dauerte, bis sie sich duzten und einander »Teddy« und »Sepp« riefen. Schon bald nach ihrem Kennenlernen hatte Adorno im Fernsehen ein Fußballländerspiel sich angesehen, ebendas gegen Schottland. Ohne recht zu begreifen, warum erwachsene Männer in kurzen Hosen um einen Lederball kämpfen, geschweige denn den tieferen Sinn eines erzielten Tores zu ermessen – die Schotten erzielten drei, die Deutschen nur eins –, glaubte er doch verborgen im Kollektiv der je elf Spieler die Bedeutung des einzelnen Menschen, des Individuums eruiert und erkannt zu haben, ähnlich wie das Publikum, das den einzelnen für seine Leistung mit Beifall belohnte oder für ein Foul mit Pfiffen bestrafte.
Mit Begriffen wie »Stopper« oder »Beinschuss« konnte Adorno allerdings wenig anfangen; umgekehrt erging es Herberger nicht anders, der Termini wie »Warenfetisch« oder »Verdinglichung« richtig einzuordnen sich vergeblich abmühte. Wenn er dann bei einem ihrer Treffen über »Kurzpassspiel«, »Manndeckung« und »Dribbling« philosophierte, konnte Adorno nur »Aha« und »Ach so« sagen, obschon er eine innere Verwandtschaft des Dribblings mit dem dialektischen Denkvorgang erspürte und Begriffe wie »Linksaußen« oder »Rechtsaußen« hartnäckig falsch verstand; und wenn Adorno über »Entfremdung« oder »das Expansionsprinzip der Tauschgesellschaft« dozierte, konnte Herberger nur »Ach so« und »Aha« sagen, wenngleich er das Expansionsprinzip in Bezug auf seinen geliebten Fußball, der sich gerade zum weltweit populärsten Sport entwickelte, schon begrüßen konnte; seinem Aphorismus »Der Ball ist rund« konnte wiederum Adorno etwas abgewinnen und strich sich über den Kugelkopf. So verstanden sie sich auf ihre besondere Weise.
Einmal besuchte Adorno ein Training der deutschen Auswahlmannschaft im nahen Frankfurter Waldstadion – man schrieb 1961, das mit 1:0 gewonnene Länderspiel gegen Belgien sollte folgen – und mischte sich unter die Fans; aber das war dann doch entschieden seine Welt nicht. Er schätzte Distanz im Umgang mit Fremden, besonders in Deutschland, wo nie man wusste, was einer unter Hitler getan hatte.
Nach dem Training lud Herberger den Philosophen auf eine Bockwurst mit Kartoffelsalat ins Vereinsheim der Frankfurter Eintracht ein. Es kam, wie es kommen musste: Man kam auf die Nazizeit zu sprechen. Herberger gestand, dass er gleich am 1. Mai 1933 der NSDAP beigetreten war. »Aber ich habe mich nie in der Partei engagiert«, fügte er hinzu. »Ich wollte nichts anderes als weiterhin Fußballtrainer sein. So wie viele andere auch!«
Adorno war nicht verdutzt oder verärgert, aber misstrauisch, zu oft hatte er derlei zu hören bekommen. Herberger warf ein, dass er für seine politische Naivität auch bezahlt habe. »500 Reichsmark musste ich nach meiner Entnazifizierung durch eine alliierte Kommission entrichten, nachdem man mich als Mittelläufer eingestuft hatte, also als Mitläufer. Das war damals viel Geld!«
Aber gerade er habe doch nicht übersehen können, dass die Juden aus den Fußballvereinen gedrängt worden seien? »Da konnte ich als einfacher Trainer der deutschen Nationalmannschaft nichts machen«, rechtfertigte sich Herberger. »Aber ich kämpfe seit langem dafür, dass Gottfried Fuchs vom DFB geehrt wird. Fuchs war ein genialer Stürmer und schoss bei sechs Einsätzen in der Nationalmannschaft zwischen 1911 und 1913 dreizehn Tore, eine bis heute unerreichte Quote von 2,17 pro Spiel! Warum ich dir das alles sage? Weil Fuchs Jude ist! Er floh 1937 aus Deutschland, lebt heute in Kanada und heißt jetzt Godfrey Fochs. Er war das Idol meiner Jugend!«
Adorno nickte und erzählte, dass er selber erst im August 1937 aus Deutschland – »… dann müsstest du von der Breslauer Wunderelf noch was mitbekommen haben!« unterbrach ihn Herberger mit leuchtenden Augen, »dem großartigen 8:0 gegen Dänemark, Mai 1937! Und es folgte Sieg auf Sieg! Leider kam dann der Anschluss. Da musste ich eine neue Mannschaft aus Reichsdeutschen und Österreichern zusammenbasteln, was natürlich furchtbar schiefging. Ich habe auch unter den Nazis gelitten!«
Adorno stieß es sauer auf, dass Herberger ihm das Wort abgeschnitten hatte, er holte erst einmal Atem und setzte neu an: »Nein, davon weiß ich nichts. Aber ich war so lange geblieben, weil ein Leben außerhalb der deutschen Sprache ich nicht mir vorstellen konnte.« Dass er 1934 als Musikrezensent einen Männerchor gelobt hatte, der Gedichte des Reichsjugendführers Baldur von Schirach vertont hatte, und, wiewohl vergeblich, die Aufnahme in die Reichsschrifttumskammer beantragt hatte, verschwieg er noch, weil es für eine »Versöhnung des Divergierenden«, für eine Aussöhnung mit seinem Freund noch ein paar Minuten zu früh war. »1937 also ging gerade noch rechtzeitig ins Exil nach England ich und von dort nach Amerika«, fuhr Adorno fort. »Du verstehst?«
Herberger verstand nicht.
Adorno hob die Stimme: »Weil Hitler mich zu einem Juden gemacht hat!« rief er plötzlich bissig und mit Nachdruck. »Meine Mutter hatte italienische Vorfahren« – Mussolini, schoss es Herberger ungewollt durch den Kopf –, »aber mein Vater war Jude. Das heißt, er war zur katholischen Kirche übergetreten, weshalb im christlichen Glauben ich aufwuchs. Ich war sogar Messdiener! Aber mein bürgerlicher Name ist – Wiesengrund, nicht Adorno. Deshalb das W! Theodor W.!«
»Katholisch bin ich auch«, sagte Herberger und war froh, wieder eine Gemeinsamkeit gefunden zu haben und den Einklang wiederherstellen zu können. Herberger holte erst mal Kaffee, denn für Bier nach der Bockwurst war es noch zu früh. Adorno goss etwas Milch in die Tasse, nahm einen Schluck von dem nun braunen Getränk und wischte sich den Mund ab.
»Schon bald nach dem Krieg besuchte ich erstmals wieder Deutschland, und Anfang der 1950er Jahre kehrte ich endgültig zurück. Ich setzte und setze auch heute meine Hoffnung auf die Jugend«, beichtete Adorno.
»Genau wie ich!«, stimmte ihm Herberger zu. »Auch im Fußball ist die Jugend die Zukunft! Wir müssen die Jugend für den Fußball gewinnen!«
»Und für eine kritische Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte, auf dass Auschwitz nie wieder möglich werde«, ergänzte, etwas leiser, Adorno.
Nicht lange nach diesem Gespräch war es, dass, im Anschluss an ein Arbeitstreffen in der DFB-Zentrale, bei dem es um die geplante Einführung einer bundesweiten Fußballiga und die Aufhebung des Amateurstatuts beziehungsweise die Einführung eines Vertragsspielerstatuts ging, Herberger eine Vorlesung Adornos besuchte, nicht zuletzt, um seinen guten Willen zu demonstrieren, sein intellektuelles Niveau zu heben und auch als guter Deutscher sich zu beweisen, wenngleich er kein Wort von dem verstand, was der Professor in freier Rede vortrug. Herberger hatte wie die Studenten Papier und Kugelschreiber vor sich liegen, doch während sie eifrig mitschrieben, ging er mögliche Varianten für die Zusammenstellung des Kaders für die Weltmeisterschaft in Chile 1962 durch. Die Zeit wurde ihm gleichwohl lang. »Eine Vorlesung dauert 90 Minuten, wenn auf zwei akademische Stunden sie angelegt ist«, erklärte ihm hinterher Adorno, und Herberger konnte dann doch einen Nutzen aus der akademischen Veranstaltung ziehen.
Viel wurde bei den wechselseitigen Besuchen über Fußball und die Kritische Theorie gesprochen. Vorbehalte gegenüber dem deutschen Kickerwesen mit seiner Betonung von Kraft und unreflektiertem Mannschaftsgeist wurden immer einmal von Adorno geäußert, der inzwischen die Sportseite seiner überregionalen Frankfurter Tageszeitung hinlänglich rezipierte und die Uniformierung des individuellen Handelns, Denkens und Fühlens in der modernen Gesellschaft auch im Fußball als einem Sport nicht nur, sondern auch als einem Geschäft sah und kritisierte; doch Herberger vermochte durch den Hinweis auf die Bedeutung herausragender Individuen wie des begnadeten Fritz Walter und die Unvorhersehbarkeit seines Spiels, das doch einfach genial sei, solche Kritik wenn nicht zu entkräften, so doch abzuschwächen, zumal einem kreativen Spielgestalter wie dem Lauterer Kapitän auf dem Fußballfeld eine ähnlich solitäre Stellung zukomme »wie dir, Teddy, in der Philosophie, in der Soziologie, in der Frankfurter Schule, der Kritischen Theorie, deren Kapitän du bist!«
»Deshalb brauche wie du auf dem Fußballfeld schöpferisch denkende Talente ich auf dem Feld der akademischen Wissenschaft, ganz recht«, erwiderte Adorno. »Jürgen zum Beispiel«, sagte er und meinte Habermas.
»Zum Beispiel Uwe«, nickte Herberger und meinte Seeler.
So fanden Fußballer und Denker stets Gemeinsamkeiten. Der gute Kicker braucht Köpfchen, der gute Denker Kondition, um nicht einzuschlafen. Herberger empfand keinen Neid, weil er auch ohne Abitur und Studium erfolgreich seinen Weg hatte gehen können, berühmter sogar als der Wissenschaftler war, der bei seiner akademischen Blase einen Namen gemacht sich hatte, im Volke aber unverstanden und unbekannt war. »Bundessepp« nannte die Presse Herberger, vom »Bundesteddy« war in den Zeitungen selten die Rede.
Herberger war Anfang siebzig, Adorno Ende sechzig, als sie sich zum letzten Mal trafen. Von ungefähr kam die Rede darauf, wer eigentlich in seinem hinlänglich gelungenen Leben mehr Ehrungen und Erfolge aufweise. Da konnte Adorno ein deutliches Plus an Buchveröffentlichungen, Radiovorträgen und Vorlesungen verbuchen und sogar einige wenig bekannte Kompositionen auflisten, beispielsweise – Herberger merkte auf – »Zwei Lieder mit Orchester aus einem geplanten Singspiel ›Der Schatz des Indianer-Joe‹ nach Mark Twains Roman ›Tom Sawyers Abenteuer‹«; indes, was die schlichte Präsenz in der Tagespresse, der Radioberichterstattung und in der »Sportschau« der ARD betraf, lag Herberger uneinholbar in Führung. Gar einen Triumphzug wie 1954, als er und seine Spieler nach dem Gewinn der Weltmeisterschaft auf der Heimreise aus der Schweiz von Hunderttausenden in den deutschen Städten bejubelt und gefeiert wurden, hatte der Philosoph nie erlebt.
Als Herberger am 6. August 1969 in der »Tagesschau« vom Tod des Freundes hörte, kramte er die »Minima Moralia« aus der kleinen Bücherecke in der Wohnzimmerschrankwand hervor. Teddy hatte ihm das Buch einst geschenkt, und jetzt blätterte er zum ersten Mal darin. »Es gibt kein richtiges Leben im falschen«, las Herberger und wiegte den Kopf, weil er fühlte, dass Adorno diesmal vielleicht nicht recht hatte.
Peter Köhler, geboren 1957 in Eschwege, ist Journalist und Schriftsteller und hat zahlreiche Anthologien und Sachbücher veröffentlicht. Er ist Mitglied der satirischen »Neuen Göttinger Gruppe« und gehört der Jury des Satirepreises »Göttinger Elch« an. Zuletzt schrieb er an dieser Stelle in der Ausgabe vom 6./7. April 2024 »Ganz unten – Gerhard Schröder in der Hölle«
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