Helden ohne Anerkennung
Von Emre ŞahinJan de Wit wächst in einer kommunistischen Arbeiterfamilie im nördlich von Amsterdam gelegenen Krommenie auf. Mitte der 1940er Jahre hat er als 19jähriger soeben sechs Monate Militärdienst hinter sich, als er nach Indonesien geschickt werden soll, das gerade seine Unabhängigkeit erklärt hat. Doch er weigert sich, denn er will in Niederländisch-Indien, wie es die Niederländer damals nannten, nicht die gleiche Rolle spielen wie die Deutschen während der Besetzung seines Landes von 1940 bis 1945. Die Niederlande waren erst drei Monate lang vom Faschismus befreit, da begannen sie im August 1945 mit 120.000 Soldaten einen brutalen Krieg gegen ihre mehr als 11.000 Kilometer entfernte frühere Kolonie. Also taucht de Wit unter, vergeblich, er wird gefasst und bekommt drei Jahre Haft.
Zuerst geht es ins Strafgefängnis Bankenbosch, das extra für Kriegsdienstverweigerer in Indonesien gebaut worden war, anschließend schickt man ihn nach ’s-Hertogenbosch ins Kamp Vught. Einst ein Konzentrationslager, wurde es nach dem Zweiten Weltkrieg zum Lager für Kollaborateure und Kriegsdienstverweigerer. Dort begegnet de Wit unter anderem Anton Gerrit Jongsma, Mitglied der faschistischen Nationaal-Socialistische-Beweging (NSB) und ehemals Bürgermeister von Krommenie, was dem Kommunisten de Wit besonders zusetzt. Es soll noch schlimmer kommen: Die NSB-Funktionäre werden vor den Kriegsdienstverweigerern begnadigt.
Es gibt Tausende Geschichten von Menschen wie de Wit, die sich weigerten, in den Krieg nach Indonesien zu ziehen oder im Dienst Befehle auszuführen. Etwa 4.000 sollen es gewesen sein. Mehr als 2.500 von ihnen wurden gefasst und mit zwei bis fünf Jahren Haft bestraft. Ihre Motive waren unterschiedlich – politisch, pazifistisch, religiös. Jahrzehntelang wurden sie als »Landesverräter « und »Feiglinge« gebrandmarkt. 2022 entschuldigte sich die niederländische Regierung des aktuellen NATO-Chefs Mark Rutte für die »strukturell extreme Gewalt« in Indonesien, nachdem 77 Jahre später eine Studie zu diesem Ergebnis gekommen war. Seitdem können Verweigererangehörige beim Verteidigungsministerium Entschädigungen beantragen – die Kriegsgegner selbst sind zumeist schon verstorben. Sie hofften ein Leben lang vergeblich auf Wiedergutmachung.
Wie die niederländische Tageszeitung Trouw vergangenen Monat berichtete, prüft das Verteidigungsministerium in Den Haag derzeit in 20 Fällen, ob Entschädigung geleistet und die »Ehre« wiederhergestellt werden soll. Rehabilitiert wurden im vergangenen Frühjahr bereits drei Marinesoldaten, die sich geweigert hatten, ein indonesisches Dorf niederzubrennen. Zwei weitere Kriegsdienstverweigerer haben zwar eine Entschuldigung erhalten, jedoch keine Rehabilitierung.
Um rehabilitiert oder gar im nachhinein geehrt zu werden, muss nachgewiesen werden, dass die Verurteilten von der »strukturellen extremen Gewalt« wussten. Sprich: von dem wussten, was die niederländische Regierung selbst erst nach mehr als 70 Jahren zugegeben hat. Beweisen lässt sich dies beispielsweise mit Hilfe eines Tagebuchs. Da die meisten Betroffenen verstorben sind, können oft nur noch Kinder und Enkelkinder Anträge stellen. Sie können aber offensichtlich nicht alle Details jener Zeit kennen, was die Verfahren für sie kompliziert macht.
Bereits 2013, also noch vor genannter Studie, waren die damals weit über 80jährigen Kriegsgegner Jan Maassen und Jan van Luyn vor den Obersten Gerichtshof gezogen, um sich rehabilitieren zu lassen – vergeblich. Van Luyn war zweieinhalb Jahre inhaftiert, Maassen dreieinhalb. Doch auch nach der Studie und der offiziellen Entschuldigung durch Rutte passierte nicht viel. Rutte verwies ausschließlich auf den juristischen Weg und schob die Verantwortung weitestgehend von sich.
Nel Bak, Tochter von Jan de Wit, will es trotz der Rückschläge versuchen und hat ebenfalls einen Antrag gestellt. Gegenüber Trouw erklärte sie, die Ungerechtigkeit korrigieren zu wollen. »Nicht nur für meinen Vater, sondern auch für all die anderen Väter, die den Dienst verweigert haben.« Sie sollten wenn auch posthum einen angemessenen Platz in der Geschichte erhalten.
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