Zeiten im Schlamm
Von Marc HieronimusSchlecht gemacht kann jedes Thema langweilen, und Ginsenganbau im sogenannten Bibelgürtel der USA ist für einen Geschichtenerzähler gewiss noch einmal eine ganz besondere Herausforderung. Man mag sich bei diesem Comic also fragen: Was interessiert mich das? Nun, erstens lässt sich das auch von den Wanderarbeiterromanen John Steinbecks sagen, auf die der Comic mehrfach anspielt, zweitens ist »Ginsengwurzeln« viel mehr als eine gezeichnete Geschichte und graphisch schlichtweg überwältigend. Die Figuren rufen Will Eisner ins Gedächtnis, bei dem sich so viele Zeichner etwas abgeguckt haben, unter anderem Walt Disney seinen berühmten Schriftzug.
Souverän beherrscht Craig Thompson Mimik, Proportionen und Körpersprache seiner Figuren, geht aber erzählerisch weit über den Altmeister hinaus, indem er nicht bloß die Geschichte seiner Jugend (weiter)erzählt, sondern seine Seiten als fein ziselierte graphische Kunstwerke gestaltet, in denen Erzählung, Sachtext, Sage, Erinnerung und Illustration immerfort ineinander übergehen.
Thompsons bekanntestes Werk ist »Blankets« und wurde 2004 mit drei der wichtigsten US-amerikanischen Comicpreise (Harvey-, Ignatz- und, passenderweise, Eisner-Award) ausgezeichnet. Auf den nicht weniger als 600 Seiten erzählt er von der Kindheit und Jugend in einem – seinem – religiösen Elternhaus im provinziellen Mittleren Westen der USA in den frühen 1990er Jahren. Die Mitschüler mobben ihn, der Vater ist streng und übermächtig, so wartet er gleich seiner Mutter im Grunde nur darauf, dass nach dem leid- und mühevollen Leben auf Erden im Himmel alles besser wird. Dann lernt er die Liebe kennen, verliert den Glauben und kommt schließlich zur Kunst.
In »Ginsengwurzeln« lesen wir nun, dass es nach dem großen Erfolg nur holprig weiterging. Der nächste Comic war ein Flop, gesundheitliche Probleme stellten sich ein, die ihn zusammen mit einer gewissen Orientierungslosigkeit jahrelang am Zeichnen hinderten. Verleger rieten ihm davon ab, an einem Comic über die aus der chinesischen Medizin bekannte Pflanze zu arbeiten: zu speziell, zu wenig bekannt. Ältere Deutsche werden bei Ginseng an Fernsehreklame für alzheimerbedrohte Rentner denken.
Aber es geht um viel mehr. Thompson trifft seinen der Leserin schon aus »Blankets« bekannten Bruder wieder, sie besuchen Ginsengplantagen in China und Korea, aber auch die Eltern und die alten Wirkstätten, die brach liegen, weil die Heilwurzel auf einem Feld nur ein einziges Mal wächst. Thompson schildert, wie die beiden während der Schulferien ihre Zeit im Schlamm, in Pestiziddämpfen, in Hitze und Kälte mit Steineschleppen, Unkrautjäten und natürlich Gingsengpflege verbrachten und das Geld in den Ausbau der Comicsammlung steckten, während heute längst kein Weißer mehr bereit ist, für so wenig Geld derart zu schuften.
Thompson beschäftigt sich mit chinesischer Schrift und der tiefen Verwurzelung der, nun: Wurzel in der fernöstlichen Medizin und Philosophie und ihrer ganz materialistischen Vermarktung. Dabei streift er mehrfach die amerikanische Geschichte von Landraub und Krieg. Ein Altersgenosse, der ebenfalls im »Chang«, wie sie den Ginseng nennen, gearbeitet hat, war Sohn eines laotischen Hmong. Mitglieder dieser Volksgruppe kämpften im Vietnamkrieg auf seiten der Amerikaner, wurden bei deren Abzug im Stich gelassen und anschließend zu Zehntausenden Opfer vietnamesischer Vergeltung. Die wenigen, die es in die USA schafften, wurden dort als vermeintliche Jobkonkurrenten angefeindet.
Einmal mehr lernt die Leserin die aufrichtigen, fleißigen, aber auch fundamental-christlichen und waffenvernarrten Menschen im »Bible Belt« der Weltmacht kennen, aber auch, wie sehr die Kulturen heute vernetzt und aufeinander angewiesen sind: Hauptabnehmer des Ginseng ist China, wo die etwas »kühleren« amerikanischen Wurzeln geschätzt werden, Thompsons amerikanischer Arzt und Akupunkteur schwört auf die »heißere« Ware von dort. So fliegen die Wurzeln um die Welt. Und die harte Landarbeit wird heute von Mexikanern erledigt.
Craig Thompson: Ginsengwurzeln. Aus dem amerikanischen Englisch von Matthias Wieland. Reprodukt-Verlag, Berlin 2024, 456 Seiten, 39 Euro
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