Die Hoffnung nicht aufgegeben
Von Tom BeierPeter Neumaier, ehemaliger Politiklehrer aus Frankfurt am Main, legt mit seinem neuen Buch die minutiös recherchierte Leidensgeschichte seines Münchener Onkels vor, nachdem er im selben Verlag schon den Weg seines Großvaters vom anerkannten Münchener Rechtsanwalt in die Deportation eindrücklich beschrieben hat. Beide haben einen jüdischen Hintergrund, beide haben überlebt. Besonders an der Vita von Kurt Neumaier ist, dass der katholisch getaufte Sohn einer jüdischen Mutter und eines nichtjüdischen Vaters der Gruppe der sogenannten Halbjuden angehörte, die erst relativ spät ins Visier der Nazis gerieten und unter den Juden zu den »Privilegierten« gehörten. Ein allerdings irreführender Begriff, denn auch diese Gruppe sollte in der Schlussphase des Krieges unter das Vernichtungsprogramm der Nazis fallen, dem sie nur entkamen, weil der Sieg der Alliierten dies verhinderte.
Für die weitere Erforschung des faschistischen Terrors ist es insofern ein Glücksfall, dass die Briefe, die Kurt Neumaier 1937 bis 1945 an »seine Gretl« schrieb, erhalten geblieben sind. In den ersten Jahren reist er unbehelligt als Wirtschaftsprüfer durch Deutschland, rühmt die guten Hotels in Coburg oder Berlin, beklagt sich auch einmal über die harte Arbeit. Ein scheinbar ganz normales, ja gutsituiertes Leben. Was ihm noch bevorsteht, ahnt er höchstens. Am 13. Oktober 1944 bekommt er von der Gestapo per Einschreiben die »Gestellungsanordnung«, die ihn aufforderte, »sich zur Verwendung im vordringlichen Arbeitseinsatz« bei der Staatspolizeistelle München einzufinden. Die Deportation in das Zwangsarbeitslager Tiefenort betraf etwa 150 Münchner »Mischlinge«. Insgesamt wurden im ganzen Land ab Herbst 1944 etwa 20.000 »Halbjuden« von der Organisation Todt (OT) meist zum Bau kriegswichtiger Anlagen, wie etwa am sogenannten Westwall, eingesetzt. Während die »Halbjüdinnen« – wie Kurts Ehefrau Gretl, die bei den Münchener Stadtwerken Straßenbahnen reinigen musste – an ihren Heimatorten bleiben konnten, mussten die Männer als »Sonderdienstverpflichtete« in Lager der OT.
Der Autor Peter Neumaier stellte sich die Frage, wo Tiefenort eigentlich liegt. Bei zwei Recherchereisen lernte er das Örtchen in der Nähe von Bad Salzungen in Thüringen näher kennen. Von Geschichtsaufarbeitung war wenig zu sehen, das Lager war weitgehend vergessen. Ein weiteres gab es in Abteroda, wo BMW in alten Salzstollen Flugzeugmotoren montierte. Abteroda war ein Außenlager des Konzentrationslagers Buchenwald, das von Tiefenort mehr als 100 Kilometer entfernt liegt. Konnte Kurt Neumaier anfangs noch von seiner Ausbildung als Wirtschaftsprüfer profitieren und wurde für Büroarbeiten eingesetzt, so musste er später schwerere körperliche Arbeit verrichten. Aufgrund eines Ohrenleidens wurde er zweitweise allerdings für Behandlungen freigestellt. Aber erst die Befreiung durch die amerikanischen Truppen machte der Angst vor der eigenen Deportation und der seiner Frau ein Ende. Rückkehr nach München und beruflicher Wiedereinstieg als Wirtschaftsprüfer folgten. Entschädigungsansprüche mussten hart erkämpft werden. »Allein und ungestört zu hausen«, diesen Traum haben sich Gretl und Kurt Neumaier in der Nachkriegszeit erfüllen können. In einem Haus nahe der Isar. Ein wichtiges Buch gegen das Vergessen in oft gedankenlosen Zeiten.
Peter Neumaier: »Ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass wir weiterleben werden!« Von München in das Arbeitslager Tiefenort. Briefe meines Onkels 1937–1945. Hentrich & Henrich, Berlin 2024, 244 Seiten, 19,90 Euro
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