Humor als Heldentat
Von Ken MertenEs ging um Essays: Sommer 2015, im Blauen Salon des Kulturcampus der Universität Hildesheim führte der damalige Leiter des hiesigen Literaturinstituts, Professor Christian Schärf, sein Seminar durch. »Helden«, sagte er. »Das waren noch Helden!« Anlass war eine durchaus hitzige Diskussion um den Autor und darum, welche an Bedeutung verlierende Rolle er in der Gesellschaft einnehme.
Mal zu Mal müht sich die Kulturpolitik, das mehr oder minder gelungene Werk vom desavouierten Erschaffer zu trennen – die Moral klebt beide stets wieder aneinander. Handgreiflicher und im Kapitalismus glückender ist die materielle Trennung des Werks vom Autor bzw. der Autorin, indem schöne Zeilen nicht honoriert werden. Lucia Berlin wurde derart zeitlebens missachtet – bis in eben jenem Jahr 2015 der enge Freund Stephen Emerson mit »A Manual for Cleaning Woman« posthum eine Sammlung ihrer Kurzgeschichten publizierte, die in den USA und darüber hinaus breite Rezeption erfuhr.
Wanderin durch die Klassen
Professor Schärfs Beispiel des heldischen Autors war damals Ernest Hemingway, der die Selbstbefreiung von Paris 1944 miterlebte und als Frontberichterstatter im Spanischen Krieg und an der italienischen Front unmittelbar zugegen war, um Stoff für seine Literatur zu sammeln. Als 2016 der Züricher Arche-Verlag mit »Was ich sonst noch verpasst habe« eine Auswahl aus der Auswahl »A Manual for Cleaning Woman« dem deutschsprachigen Publikum vorlegte, kommentierte Maxim Biller im »Literarischen Quartett« das Werk Lucia Berlins: »Wenn Hemingway weiblich gewesen wäre, hätte er so wie sie geschrieben.«
Meint: Ohne Larmoyanz, ohne auf Verdruss hin und als Vorspiel eines Selbstmords zu schreiben. Eine Polemik gegen Hemingway und eine noch zu analysierende Adelung Berlins gleichsam, die auf einer naheliegenden Parallelisierung beruht, sind beide doch Schreibende mit starker Biographie gewesen. Nur war Berlin keine Kriegsheldin, sondern Wanderin durch die US-amerikanische Klassengesellschaft und auch geographisch durch zahlreiche Wohnortwechsel zeitlebens unterwegs.
Am 12. November 1936 wurde Lucia Brown im US-Bundesstaat Alaska geboren. »Sie sagten, es war ein süßes kleines Haus mit vielen Fenstern, robusten Holzöfen und Fliegengittern gegen die Mücken. Es zeigte zur Bucht, zum Sonnenuntergang, zu den Sternen und den hell leuchtenden Nordlichtern«, wie Berlin später über ihren ersten Wohnort schrieb. Der Beruf des Vaters Ted als Bergbauingenieur veranlasste zahlreiche Umzüge der jungen Familie, die 1941 mit Lucias Schwester Molly um ein viertes Mitglied wuchs. Bis dahin war man bereits nach Montana und später Kentucky gezogen, ehe man in Idaho wohnhaft wurde.
Im Zweiten Weltkrieg diente der Vater als Leutnant der U. S. Navy. Lucia und Molly zogen derweil zur Familie von Mutter Mary ins texanische El Paso: »Als wir aus dem Zug stiegen, schien es, als wäre mit El Paso etwas passiert. Bestimmt gab es Bäume, nur sah ich keine, bloß sonnenbleichen Himmel, der sich in jeder Richtung über uns und um uns herum erstreckte. Die Luft war schwer, verschwommen vor Hitze und Schmelzhüttenrauch, Kalkstaub.« Die Erinnerung als Spiegel katastrophaler Zustände: Der Großvater, ein Zahnarzt, verging sich an Tochter und Enkelin, war wie Lucias Mutter und später Lucia selbst stark alkoholabhängig. Dem 13 Jahre jüngeren Dichterkollegen August Kleinzahler schrieb sie später über jene Zeit Zynisches: »Okay, da bin ich also in diesen entsetzlichen Schulen, und mein Papa ist im Krieg, meine Mutter, mein Großvater und Onkel sind betrunken, meine Mutter und mein Großvater missbrauchen mich, sexuell und physisch (aber nicht gleichzeitig, schließlich waren sie ja nicht krank im Kopf oder so was).«
Nach dem Krieg gelang der Familie Brown der soziale Aufstieg, da der Vater als Facharbeiter in der Montanindustrie arbeitete. Die Ausbeutung von Rohstoffen für die US-Industrie warf auch für ihn etwas ab. Zu Wohlstand gekommen, lebten die Browns in Chiles Hauptstadt Santiago luxuriös bis verschwenderisch: »Auf dem Boden unter dem gewaltigen Esstisch gab es eine Klingel. Ich aß allein dort; ich liebte es, für jeden Gang zu klingeln. Mein Vater aß auswärts oder reiste zu Minen in Bolivien oder Peru oder Nordchile. Molly aß zeitig mit Maria und Rosa in der Küche zu Abend, und Mama aß immer im Bett.« Hier kippt die Reminiszenz mit Fokus auf die Mutter in einen Nebenwiderspruch, der sich einstellt, wenn man ständig neu ankommt, sei es in einer Stadt, einem Land oder einer Klasse: »Sie blieb jetzt meistens im Bett. Sie fühlte sich von der Santiagoer Gesellschaft eingeschüchtert.« Fremdheit und ihr Umgang damit – als sozial Auf- oder Abgestiegene, als alleinreisende Touristin oder aus den USA stammende Kommunistin in der Peripherie, als suchtkranke Frau inmitten suchtkranker Männer – ist prägend für Lucia Berlins Werk.
Lucia studierte an der University of New Mexico Journalismus – »versehentlich«, wollte sie doch Schriftstellerin werden, »keine Journalistin«. Als die Eltern von ihrem Techtelmechtel mit einem Sportreporter erfuhren, nahmen sie Lucia von der Hochschule. Kurz darauf heiratete sie in Albuquerque den Bildhauer Paul Suttman, der seine junge Gattin zu arrangieren und modellieren versuchte wie eine Statue: »Wenn wir in Restaurants oder in Bars saßen oder auch auf harten Teakholzstühlen an unserem modernen Teakholztisch, ordnete er meine Körperteile. Hob mein Kinn an oder drehte es leicht nach links (…). Er sagte, ich würde zu viel lächeln und beim Sex zu viel Lärm machen.« Die normschöne Lucia – alle vier in deutscher Sprache erschienenen Berlin-Bände bedienen mit Porträtfotos aus ihrer ersten Lebenshälfte eine davon zehrende Ikonographie – war ihm nicht schön genug: Sie solle mit dem Gesicht nach unten schlafen, um so ihre »Stupsnase« zu korrigieren. Ihr von Skoliose geprägter Rücken missfiel ihm ebenso: »O Gott – du bist asymmetrisch«, soll er, so Lucia, beim ersten Anblick gesagt haben. Als sie unbeabsichtigt zum zweiten Mal schwanger wurde, nahm Suttman dies zum Anlass, die Familie zu verlassen, für »eine neue Freundin mit einer geraden Nase«. Der größte Gag an seinem Abgang: Der erste Versuch währte nur wenige Minuten, da der Wagen liegenblieb und Suttman erbost zurückkehren musste. Die Trennung aber war besiegelt.
Lucia ging noch zwei weitere Ehen ein: zuerst mit dem Jazzpianisten Race Newton, mit dem sie nach New York City zog, auch um das Ende ihrer Affäre mit dem Saxophonisten Buddy Berlin durch räumliche Distanz zu unterstreichen. Die New Yorker Wohnung wurde zu einem Treffpunkt der Jazzszene und der Beat-Generation: »Gute Musiker wie Wayne Shorter, Jimmy Knepper, Freddie Greenwell kamen vorbei, um mit Race in unserem Loft zu jammen. (…) Wir waren hier alle glücklicher. Race konnte spielen, ich konnte lesen oder mit ein bisschen Raum zwischen mir und den Jungs schreiben.« Das Bohèmeleben aber wurde jäh auf die Straße bzw. gen Mexiko verlegt – ohne Race Newton. Eines Nachts stand Buddy Berlin vor der Tür: »Er brachte eine Flasche Brandy und vier Flugtickets nach Acapulco mit.«
Lucia (nunmehr: Berlin) bekam zwei weitere Söhne, lebte mit dem Hedonisten und Hobbypiloten Buddy eine Zeitlang in New Mexico, später dann im mexikanischen Küstenstädtchen Yelapa, in einem Haus mit Sandboden, ehe sie in einem Van Mexiko bereisten, um ihre Jungs »jenseits aller Gewalt und Gier, von Rassismus und Konsumdenken großziehen« zu können. »Wir würden ein einfaches, cleanes und liebevolles Leben führen.« Es war eine fortwährende Flucht vor Heroindealern und davor, dass Buddy Berlin rückfällig würde, was regelmäßig geschah.
Noch vor der Trennung von Buddy 1968 endet »Welcome Home«, eine Sammlung von Fotografien, Briefen und Skizzen »aus den ersten neunundzwanzig Lebensjahren einer einzigartigen amerikanischen Stimme«, wie Berlins Zweitgeborener Jeff im Vorwort des 2018 im Original erschienenen Bandes schreibt. Bereits ein Jahr später brachte der damals neu gegründete Schweizer Kampa-Verlag den Band nebst einer weiteren Kurzgeschichtensammlung (»Abend im Paradies«) heraus. Wie bislang alle Berlin-Übersetzungen wurde auch diese von der Potsdamer Schriftstellerin Antje Rávik Strubel übernommen, die Autorinnen wie Joan Didion und Virginia Woolf ins Deutsche übertragen hat.
»Welcome Home« ist ein nicht hinreichender Ersatz für eine Autobiographie oder ein konsequent durchgeschriebenes Journal. Berlin schrieb eher sporadisch an den Notaten zu ihren Wohnorten. In den 1980er Jahren fertigte sie noch knappe Stichpunkte zu 18 weiteren an, die sie nie weiter ausführte. Vor allem in ihren Jahren in Kalifornien, wo sie am 12. November 2004 in Marina del Rey an der Pazifikküste starb, reihte sich eine Zwangsräumung an die nächste. Auch die letzte Notiz ist ein zwar neutrales, aber explizit vorläufiges Fazit: »Alcatraz Avenue, Oakland, Kalifornien – Keine Katastrophe. Bisher.«
Den Atem genommen
Es betrübt und ist gleichsam symptomatisch, dass von den Jahren, in denen sich Lucia Berlin als Alleinerziehende von vier Kindern durchschlug, Selbstzeugnisse nur in Form ihrer Belletristik übriggeblieben sind. Ihre Erwerbsbiographie schmälerte das Werk, so wie es die letztlich wenigen, nebenher entstandenen Erzählungen mit inhaltlicher Grundlage versorgte: Berlin jobbte in Krankenhäusern und Praxen als Arzthelferin und Telefonistin, putzte Wohnungen jener Klasse, der sie zumindest in ihrer Jugend in Chile angehört hatte, unterrichtete Spanisch und lehrte zwischen 1996 und 2000 an der staatlichen University of Colorado in Boulder Kreatives Schreiben, bis die angeschlagene Lunge ihr das Atmen erschwerte und so das Leben in der dünnen Luft der Ausläufer der Rocky Mountains verunmöglichte.
Von 1991 bis 1994 pflegte sie ihre krebskranke Schwester bis zu deren Tod in Mexiko-Stadt. Alles unter ständiger Begleitung ihrer Alkoholabhängigkeit, ob vor, während, oder nach dem Entzug, der Berlin nach mehreren Anläufen gelang.
»Von den realen Orten aus katapultierte sich Lucia Berlin in die Sprache hinein, um einen Satz zu finden, in dem sie bleiben kann«, schreibt Strubel in ihrem Nachwort zu »Was wirst du tun, wenn du gehst«, einem 2017 von Arche nachgereichten Band mit Berlin-Stories aus »A Manual for Cleaning Women«, die in »Was ich sonst noch verpasst habe« nicht zu finden waren. Die Übersetzerin geht damit auf ein zentrales Problem – nicht nur der Berlin-Lektüre – ein: Der biographische Abgleich, der sich mehr oder minder bewusst immer dann einstellt, wenn man vom Leben der Autorin weiß, insbesondere dann, wenn die Lektüre eine sozialrealistische ist und autofiktionale Elemente augenfällig sind. Für Strubel fungiere Berlins Vita »immer wieder lapidar als Begründung für die Eindrücklichkeit ihres Schreibens (…). In etwa so, als könne schon ein turbulentes, taffes Leben einstehen für die Meisterschaft eines Werks.« Wenn dem so wäre, hätte Marcel Proust, Helen Keller und dem über zwei Jahrzehnte im niedersächsischen Bargfeld von der Menschheit weitgehend abgekapselten Arno Schmidt nicht viel gelingen können.
Unfreiwillige Beihilfe hat Berlin selbst geliefert, indem sich ihr Gesamtwerk als in sich geschlossen lesen lässt: ein Kosmos, in dem hier und da etwas verschoben wiederkehrt, Figuren neu auftauchen, als Heteronyme, unter anderem Namen, in einer anderen Lebensetappe und unter gewandelten Umständen. Strubel: »Sie schrieb an einem einzigen urwüchsigen Text«.
Eine ausgearbeitete Biographie wäre sicherlich hilfreich bei der Trennung zwischen Berlin und ihren Erzählinstanzen, oftmals in erster Person Singular, durchweg mit starken autofiktionalen Markern in bezug auf Charakteristika, Handlungsorte und Personenkonstellationen. Die Ausgangslage eines Buchs über Lucia Berlin ist eigentlich prächtig: Seit 2015 besteht ein internationales Publikum, Berlins Lebenslauf ist so überreich, dass Zeilenschinderei nicht vonnöten wäre, um auf Monographielänge zu kommen – und es gibt noch Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, die befragt werden können. Damit ließe sich auch besser einordnen, was Berlin in »Welcome Home« als Erinnerungswerk verfasst hat, bei dem oft unklar ist, wo und wie viele dem Gedächtnis geschuldete Ungenauigkeiten oder bewusste Fiktionalisierungen enthalten sind. So falsch es ist, Berlins Kurzprosa zu lesen, als plaudere da eine ungefiltert aus ihrem voltenreichen Leben, so verbietet sich auch eine Lektüre von »Welcome Home« als Sachliteratur.
Lügen können wahr sein
»Ich scheiß auf ihre Gefühle«, entgegnet Mrs. Bevins einem Gefängnisinsassen, der in ihrer Creative-Writing-Klasse sitzt und versucht, seine eigene Story abzutun als »den Scheiß, den sie von uns wollen«, der da wäre: dass der Knacki, dem die Gesellschaft übel mitgespielt und der es ihr übler noch heimgezahlt hat, seine so traurige wie sozial-generische Geschichte preisgibt und sich durch das Therapeutische am Schreiben selbst heilt und letztlich sühnt. Die Schreiblehrerin aber pfeift darauf, ihre Prämisse ist die der Literatur: »Ich bin hier, um Schreiben zu unterrichten. Tatsache ist, dass man lügen kann und trotzdem die Wahrheit sagt. Diese Geschichte ist gut, und sie klingt wahr, egal, wie sie entstanden ist.«
Die Stelle in der Erzählung »Hier ist es Samstag« ist als autopoetologische überdeutlich: Die Schreiblehrerin Berlin schreibt eine Schreiblehrerin, die im Kontext heftigen Zwangs (Gefängnis) eine Situation großer Freiheit einrichtet (Schreibkurs) und dabei impulsiv, vehement und paradigmatisch erklärt, dass Literatur nichts mit Wahrheit im Sinne von Authentizität zu tun habe. Es kann noch so wenig Neues unter der Sonne sein und für eine Geschichte kann noch so viel aus der Realität entlehnt werden – poetische Wahrheit entsteht durch Poesie und nicht durch einen Faktencheck. Und insbesondere: nicht durch das Bedienen einer allgemeinen Erwartungshaltung. Die schert sich meist wenig um Literatur, sondern darum, dass der Schuster bei seinem Leisten bleibt.
Eine Literatur, die sich dem anbiedert, die schreibt, was sie weiß – sei es auch als dem alten, weißen Mann absagende, identitätspolitische Aneignungsablehnung von Narrativen, die nicht die eigenen seien –, knüpft, ob sie will oder nicht, an den oben angeführten Ernest Hemingway an. Maxim Biller stellt Berlin mit ihm zu Recht in eine Linie: Von Edgar Allen Poes Geschichten für Zeitungen aus entwickelte sich über Hemingway und Raymond Carver die Short Story als Prosagattung in Nordamerika und Europa durchaus kapitalismuskompatibel (und darüber hinaus) in Hinblick auf abnehmende Aufmerksamkeitsspannen und steigendes Wirtschaftstempo der Industriegesellschaft.
Erzählökonomisch möglichst spät ein-, möglichst früh aussteigen und den Text auf das poetisch Nötigste eindampfen; also je kürzer desto besser: Der schmale Regelkatalog, an den sich niemand halten muss, um eine Kurzgeschichte zu erzählen, ist dabei nichtsdestotrotz Maßstab, heißt: Man kann sich unbegründet für seine Einhaltung entscheiden, braucht jedoch bei Verstößen eine Legitimation.
Berlin beherrschte die Form zweifellos. Mag sie auch betont haben, sich gar nicht so sehr darum zu scheren, wie ihre Texte entstehen – hier möchte man das Understatement eines sich selbst bewussten, aber wenig beachteten Genies erahnen. Die zwei Romane, die sie schrieb, sind nicht erhalten geblieben. Einer wurde ihr gestohlen, einen anderen hat sie selbst vernichtet und es nachher bereut. Das Vertragsangebot für einen unvollendeten, den sie noch wenige Monate zuvor als »ihren kostbaren Roman« vielleicht nicht ohne gekünstelte Überhöhung bezeichnete, schlug sie aus, wie sie 1960 an den befreundeten Schriftsteller Edward Dorn schrieb. Dem Brief zu entnehmen ist auch der Kampf der 23jährigen mit dem Hochstaplersyndrom (Impostorsyndrom) und dem damit verbundenen Wunsch, »nicht zu betrügen«. Dorn mochte daran seinen Anteil haben, hatte er sie doch im Sommer 1959 mit seinem vernichtenden Urteil zu einigen ihrer Geschichten »vollkommen erschüttert«, wie Berlin ihm schrieb.
Ungeachtet dessen, was sie Dorn damals vorgelegt hatte, ist das Können der Autodidaktin unbestritten. Und der Sprint war Berlins Paradedisziplin, auf die sie sich als Berufstätige und Mutter konzentrierte. Wenn sie die Zeit zum Schreiben hatte, dann für die Kurzstrecke.
Ihre kürzesten sind oft ihre besten Storys: Auf sechs Seiten vermittelt Berlin, was andere mit einer ganzen Romanstrecke nur unter Mitlieferung toterzählter Langeweile zu liefern wissen: In »Zeit der Kirschblüte« wird einer jungen Mutter das Zehrende der Pflicht und wie sich Routine in den Menschen schleift durch einen Briefträger vorgeführt. Bei ihren täglichen, stets gleichen Runden mit dem zweijährigen Sohn fällt ihr der zustellende Zwangscharakter auf, der seine Arbeit präzise getaktet und stets auf die Minute genau verrichtet. Beim Versuch, ihn bei einer Verspätung zu ertappen, versucht sie selbst etwas an ihren Abläufen zu ändern, von denen jedoch das Wohlbefinden des Kindes abhängt. Auch ihr Mann steckt in der Mühle fest: Statt seinen Roman zu beenden, arbeitet er in der Schulbuchabteilung eines Verlags. Während ihm aber feierabends frei steht, wie er seine Freizeit verbringt, ist und bleibt sie die Sorgebeauftragte des Kindes. Objektiver Zwang trifft auf subjektive Uneinsichtigkeit: Er verweigert das Gespräch über die Situation des Paars, statt dessen geht er ins oberlehrerhafte Lektorat über und korrigiert sie, wenn sie vom »Briefträger« spricht, denn es heiße korrekt »Postbote«. So kommt bei Berlin, was dramaturgisch kommen muss, nach dem Ende des Textes. Mit ihrer Aufforderung (»David. Bitte, rede mit mir.«) schließt »Zeit der Kirschblüten« weit offen. Die Deutung, hier bräche etwas mit großem Krach auf, liegt nahe, aber nur Millimeter näher als die Vermutung, hier ändere sich gar nichts.
Beschwingte Tristesse
Es ist eine beschwingte Tristesse: Um Haaresbreite schrammen Berlins Erzählungen mit dem, was sie vermitteln, an der Resignation vorbei. Das mag stark mit der Perspektive verbunden sein: Biller, nicht unbedingt als Feminist bekannt, brachte ins »Literarische Quartett« die Geschlechterfrage. Hemingways meist männliche Hauptfiguren sterben nicht selten den Heldentod, vom Suizid des Autors ganz zu schweigen. Berlins Heldinnen halten durch, für andere und sich, sind sozial veranlagt und trotzdem: Eine Alleinerziehende geht über Nacht durch die private Hölle des Entzugs, bis die Läden wieder öffnen und sie sich Alkohol kaufen kann, um ihrer Verantwortung gerecht zu werden und morgens für ihre schulpflichtigen Söhne da zu sein (»Unbeherrschbar«); eine einsame Pensionärin besucht jenen Autor, den sie ins Spanische übersetzt hat, der sich als eitles Arschloch entpuppt und von ihr dafür gestraft wird, indem sie lieber in ihre heimelige Monotonie zurückkehrt, als sich von ihm erniedrigen zu lassen (»Blaue Lupinen«).
Besonders eindrücklich ist die Geschichte »Dr. H. A. Moynihan«. Der titelgebende Zahnarzt ist Großvater der Ich-Erzählerin, ein in seinem Fach angesehener Südstaatenrassist und fleißiger Bourbonschlucker. Beim obskuren Versuch, sich selbst die Zähne zu ziehen und diese durch ein künstliches Gebiss zu ersetzen, soll ihm die Enkelin assistieren. Die ist so angewidert wie fasziniert davon, wie täuschend echt er ein Imitat angefertigt hat. Eine Kunst, die die Erzählerin vergessen macht, was der übergriffige Patriarch ihr und ihrer Mutter antut. Die aber bekommt das letzte Wort: »Du hasst ihn doch nicht immer noch, oder, Mama?« fragt das Mädchen die Mutter, die sich in Sachen Rassismus und Selbstzerstörung durch Saufen moralisch nicht über ihren Vater erheben kann, in anderer Hinsicht jedoch durchaus. »›O doch‹, sagte sie. ›Doch, ich hasse ihn.‹«
Berlins Sozialrealismus steht nicht etwa auf wackligen Füßen einer dimensionsarm-agitatorischen Erbauungsliteratur noch wird Elend auratisiert und so zur Legitimation des Bestehenden beigetragen, in dem Ausbeutung und Sexismus walten, die Frauen als Reproduzentinnen ein Durchhaltevermögen abverlangen, das sich auch gegen die Verhältnisse wenden ließe. So weit geht es bei Berlin nun aber doch nicht. Ihre Geschichten schließen hingegen mit der Verweigerung, sich umhauen zu lassen. Berlins Frauenfiguren scheitern als Sorgeträgerinnen halb oder ganz und retten sich darauf jedoch nicht aus der Misere in den Tod, manchmal aber in die Verstandesleistung Witz.
Humor als Heldentat. So zynisch sie dann auch sein mag, hebt Berlin auch aus dem schlimmsten Schicksal eine Komik, die das Fatale als gemacht enttarnt und die Verhältnisse bloßstellt. Die unvorsätzliche Kindsmörderin in »Mijito«, eine von ihrem Schleuser vergewaltigte und in der Obdachlosenunterkunft bestohlene und verprügelte junge Mexikanerin, die dem Namen ihres Babys nach buchstäblich Jesus erdrückt, damit er aufhört zu weinen, entgegnet, als man ihr den Tod ihres Sohnes mitteilt, mit einer der wenigen englischen Phrasen, die sie verinnerlich hat: »Fuck a duck.« Lucia Berlin hat recht: Es ist in der Tat zum Fluchen.
Ken Merten schrieb an dieser Stelle zuletzt am 15. Juli 2023 über den Schriftsteller Roberto Bolaño: Dramatiker des Rattenstadiums.
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