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Aus: Ausgabe vom 13.11.2024, Seite 10 / Feuilleton
Philosophie

Funktion der Utopie

Wenn die Saat aufgeht: Die Ernst-Bloch-Assoziation widmet sich dem Dreigestirn Brecht, Bloch, Benjamin
Von Jens Grandt
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Wider den »undiskutierbaren Krieg«: Ernst Bloch (r.) bei Protesten gegen die Notstandsgesetze (Frankfurt am Main, 1965)

Zumeist sind Konferenzbände langweilig. Doch das jüngste Jahrbuch der Ernst-Bloch-Assoziation, Vorschein, das mit Nummer 40 ein kleines Jubiläum hat, birst geradezu vor intellektueller Substanz. Das ist bei dem Titel »Brecht, Bloch, Benjamin, Berlin 1923–2023« nicht verwunderlich. Die Galionsfiguren auf dem Schiff der geistig-kulturellen Kritik hatten in ihrem Schöpferdrang zu einer »wahren Symbiose« gefunden, wie Bloch vor allem in Hinsicht auf Benjamin vermerkte.

Allein die Überschriften der Beiträge machen neugierig: »Ernst Blochs Leben und Werk in Bezug auf Berlin«, »Der gespannte Bogen: Bloch und Benjamin«, »Lebendiger Vorschein: Durch die Wüste. Benjamins Rhetorik von der erlebten Stadt«, »Brechts frühe Legenden vom todgeweihten und vernutzten Proletariat«, »Marxismus – Zeitgeist 1923 – weitergedacht?« …

1923 war ein Jahr der Krise, politisch, ökonomisch, mental. Die Revolution war gescheitert, die linken Regierungen in Thüringen und Sachsen und der Hamburger Aufstand von der Reichswehr niedergeschlagen. Die Inflation hatte ihren Höhepunkt erreicht. Wie sollte es weitergehen, fragten sich nicht nur die Lohnabhängigen, sondern auch die Koryphäen des Geistes. Sämtliche Gewissheiten waren obsolet geworden. Die misslichen Umstände zwangen geradezu, die Welt neu zu denken, ja, das Denken neu zu denken. Der von Reinhart Koselleck geprägte Begriff »Sattelzeit« ist diesen Jahren durchaus angemessen: eine Zeit, in der durch die beschleunigten Ereignisse keine Sicherheit über den Standpunkt der Gegenwart gewonnen werden kann. Das führte in den zu Unrecht glorifizierten goldenen Zwanzigern zu einer Suchbewegung nach neuen Methoden zur Aneignung der Wirklichkeit.

Im Jahr 1923 erschienen von Ernst Bloch zwei Bücher: die überarbeitete Ausgabe von »Geist der Utopie« und der Essayband »Durch die Wüste«. Die erste Fassung seines Utopie-Entwurfs hatte er inmitten des Weltkrieges zu schreiben begonnen, als nicht nur die Toten zu beklagen waren, sondern auch »ein stickiger Zwang, von Mittelmäßigkeit verhängt« den Alltag bestimmte, »der Triumph der Dummheit, beschützt vom Gendarm, bejubelt von den Intellektuellen, die nicht Gehirn genug auftreiben konnten, um Phrasen zu liefern«.

In dem mit »Absicht« überschriebenen einleitenden Text deutet Bloch, faszinierend poetisch, sein Anliegen. Er möchte aktivieren und entwickelt eine bis dahin ungewohnte Betrachtungsweise der Subjekt-Objekt-Beziehungen. Er ruft die »Sehnsucht« auf, das »unverlorene Erbe«, das »stets Gesuchte, die eine Ahnung« als das »apriorisch latente Thema«. Jedes Urteil, jedes Verhalten des Individuums werde bestimmt von einem »seiner selbst gewissen Soheit«. Deshalb müsse Philosophie damit beginnen, die Erkenntnistheorie in diesem »Ich« zu fundieren, das fühlend, »Erkenntnis präformierend« und wollend lebt. »(…) der interne Weg, auch Selbstbegegnung genannt«, worunter Bloch die Reflexion der Wirklichkeit »am begriffenen Dunkel des gelebten Augenblicks« versteht, führe zum »Wirproblem«. »In unsere Hände ist das Leben gegeben« – ein Satz, an dem Bloch bis zu seinem Tod festhält. Es gilt zu »rufen, was noch nicht ist«.

Durch diese Selbstbefragung breite sich »die externe, kosmische Funktion der Utopie« aus. Mithin sei kritische Selbstbefragung (eine Fähigkeit, die der heutigen Linken abhanden gekommen scheint) das »Grundproblem der Wertphilosophie«. Als Bloch sich noch mit philosophischen Systemen befasste, zunehmend auch mit Marx, stellte er fest: etwas fehlt. Eine neue Form des seelischen Denkens, der Subjektivität. »Geist der Utopie« ist, nach einem Zeugnis Blochs, ein »Erstwerk des begonnenen utopischen Philosophierens«, das mit dem in der Emigration geschriebenen Opus magnum »Das Prinzip Hoffnung« seinen Höhepunkt erreicht.

Das Resultat seiner Überlegungen hat Bloch seiner ersten Ehefrau Else Bloch-von Stritzky gewidmet, die nach schwerer Krankheit im Alter von 37 Jahren starb. Doris Zeilinger, Sprecherin der Bloch-Assoziation, hebt in ihrem Beitrag den Einfluss dieser ungewöhnlichen Frau und ihrer Liebe auf das Denken Blochs hervor. Eine Analyse der Blochschen Begriffe Eingedenken, Gemütsbewegung, Latenz vervollständigen das Bild.

Walter Benjamins Freundschaft, für den Bloch »der einzige Mensch von Bedeutung« war, schwankte zwischen Zuneigung und Distanz. Beat Dietschy, der letzte Mitarbeiter Blochs, macht Benjamins Kritik am »Geist der Utopie«, dessen »Metaphysik der Innerlichkeit«, einsichtig, und widerlegt einen Verdacht Benjamins, nämlich dass der kognitive Utopist Eingebungen des »Passagen«-Autors plagiiert habe. Aber es kann vom Abkupfern nicht die Rede sein, schreibt Dietschy. Zum einen waren ihre Gespräche sehr vertraut und intensiv, zum anderen schöpften sie aus gleichen Quellen, so dass es zu Überschneidungen kam und »mitunter die Saat des einen beim anderen (…) aufgegangen ist«. Der Terminus des viel diskutierten Benjamin-Fragments »Kapitalismus als Religion« beispielsweise stammt von Bloch.

Vorschein 40, Jahrbuch 2023 der Ernst-Bloch-Assoziation: Brecht, Bloch, Benjamin, Berlin 1923–2023, Hg. v. Doris Zeilinger, Westfälisches Dampfboot, Münster 2024, 1.175 Seiten, 22 Euro.

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