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Aus: Ausgabe vom 14.11.2024, Seite 10 / Feuilleton
Literatur und Politik

Leben und erleben

Vor 100 Jahren wurde der austro-argentinische Schriftsteller und Kommunist Alfredo Bauer geboren
Von Erich Hackl
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Gelebtes empfinden und etwas damit anfangen: Alfredo Bauer (14.11.1924–21.5.2016)

Alfredo Bauer, der heute 100 Jahre alt geworden wäre, ist der gar nicht so seltene Fall eines als Jude vertriebenen und trotzdem unbeirrbaren Österreich-Patrioten, der im argentinischen Exil zum Kommunisten wird und über den Zusammenbruch des Staatssozialismus in Osteuropa hinaus einer bleibt. Untypisch jedoch ist die Tatsache, dass der Schriftsteller Bauer – er war im Brotberuf Gynäkologe und Geburtshelfer – nach Jahrzehnten, in denen man ihn nur in der DDR wahrgenommen hatte, ab den späten achtziger Jahren auch in Österreich zur Kenntnis genommen und geehrt wurde. Dort erschienen unter anderem seine historischen Romane über Stefan Zweig (»Der Mann von gestern und die Welt«) und Marie Louise von Habsburg (»Geliebteste Tochter«), ein autobiographischer Roman über Österreichs »Verjagte Jugend«, die in Argentinien Wurzeln schlägt, eine Auswahl seiner Chroniken und Aufsätze zu lateinamerikanischen Themen sowie der fünfteilige Romanzyklus »Die Vorgänger«, dessen deutscher Titel das entscheidende Substantiv des Originals, Compañeros, unterschlägt.

Für Alfredo Bauer – 14. November 1924 bis 21. Mai 2016 – stellte die Veröffentlichung der Pentalogie, deren ersten beiden Bände in der Übersetzung von Christiane Barckhausen noch in der DDR erschienen waren, »so etwas wie die Krönung meines Lebens« dar. Das liegt nicht nur an der gewaltigen Energie, die er für dieses literarische Projekt aufgewendet hatte, sondern auch an der familiengeschichtlichen Bedeutung des Stoffs, beruhte er doch auf den Aufzeichnungen seines Urgroßvaters Adolf Baiersdorf, der an der Revolution von 1848 teilgenommen hatte, und endete ein knappes Jahrhundert später mit dem Bemühen Alfredos und seiner Eltern, in der Neuen Welt Fuß zu fassen. Zu Recht hat die Theodor-Kramer-Gesellschaft diese Familiensaga als ein Hauptwerk der österreichischen Exilliteratur gepriesen, in dem Bauer »mit der souveränen Naivität des geborenen Erzählers Zeitgeschichte und Fiktion, Familien- und Weltgeschichte, trügerischen Glanz und werktätiges Streben im Leben seiner Figuren verwebt«.

Das war 2012. Inzwischen ist der Autor in Österreich in Vergessenheit geraten; lebte er noch, dann wäre er wegen seiner Einstellung zur israelischen Besatzungspolitik und zum Zionismus, der ihm »im ideologischen Sinne und ohne Hass gegen diejenigen, die dieser Idee anhängen« als eine feindliche Strömung erschien, unter seinen einstigen Bewunderern und Förderern nicht mehr gelitten. Das war er, in konservativen jüdischen Kreisen Argentiniens, schon 1971 nicht, als seine »Kritische Geschichte der Juden« erschien (auf deutsch Jahrzehnte später im Neue-Impulse-Verlag). Seine Freundin Heidi Urbahn de Jauregui hat vor zehn Jahren in dieser Zeitung eine ihrerseits kritische Würdigung des zweibändigen Werks veröffentlicht, in dem er auf Grundlage der materialistischen Geschichtsauffassung versucht hatte, den sozialen Charakter des Judenhasses einerseits und des Glaubens an die »Erwähltheit« des jüdischen Volkes andererseits von der Antike bis zum Sechstagekrieg 1967 aufzudecken.

Der »Kritischen Geschichte« thematisch verwandt, aber viel lesefreundlicher, dazu noch humorvoll sind die biblischen Szenenfolgen, die Alfredo Bauer gegen Ende seines Lebens verfasst hat: über die jüdischen Propheten, den »sanften Rebellen« Jesus von Nazareth, David und Salomo, Adam und Eva. Auch sie sind, 2014, in Österreich erschienen. Mit Kleinkunststücken in der Tradition Jura Soyfers hatte der Autor schon sechzig Jahre früher experimentiert, nachdem er 1944, als zwanzigjähriger Medizinstudent, für die Jugendgruppe von Austria Libre ein Chorspiel in Brecht’scher Manier über den österreichischen Freiheitskampf geschaffen hatte. Soyfer, Brecht, später Hacks und Felix Mitterer. Das waren seine dramatischen, im Fall Hacks auch geistigen Vorbilder, und es hat mich von Anfang an für ihn eingenommen, dass er seinen Dank an die Kollegen durch das Übersetzen ihrer Stücke abgestattet hat, eine Tätigkeit, die Alfredo »als Instrument allgemein-menschlicher Verbrüderung« ansah, wie es in seinen unveröffentlichten Lebenserinnerungen heißt. Einer doppelten oder verschlungenen Verbrüderung sozusagen, denn er übersetzte sowohl in seine Muttersprache als auch in die seines Gastlandes. Ins Deutsche das argentinische Nationalepos »Martín Fierro« (1872) von José Hernández, die ebenfalls unter Gauchos angesiedelte, noch ältere »Faust«-Parodie von Estanislao del Campo und das »Buch der guten Liebe«, das der spanische Priester Juan Ruiz um das Jahr 1340 im Gefängnis von Toledo beendet haben soll.

Es ist erstaunlich, wie schnell und scheinbar mühelos Alfredo Bauer geschrieben hat. Wie leicht es ihm bei den eben genannten Werken fiel, nicht nur den Inhalt wiederzugeben, sondern auch die Versformen und Reime zu bewahren. Sein Arzt- und Schriftstellerkollege Paul Engel alias Diego Viga, der wie er aus Wien vertrieben wurde und dem, wie ihm, das Glück widerfuhr, dass sich alle engeren Familienangehörigen ins lateinamerikanische Exil retten konnten, hat ihm angekreidet, dass »die Lebendigkeit des Erzählens manchmal unter der Last des Gedankens« leide. Alfredo akzeptierte diesen Einwand, wie er überhaupt Kritik nicht persönlich nahm und Auseinandersetzungen nie aus dem Weg ging. Einmal, so erzählte er, wäre er im Jüdischen Museum der argentinischen Hauptstadt sicher verprügelt worden, hätten ihn nicht zwei junge Österreicher, die in Buenos Aires ihren Gedenkdienst absolvierten, vor aufgebrachten Zuhörern geschützt. Der Zorn des Publikums habe sich an seinen Worten entzündet, »dass die Kenntnis des Unrechts, das uns zugefügt worden war, die späteren Generationen davon überzeugen kann, dass so was und Ähnliches nie wieder gemacht werden darf, ›niemals und nirgends, von keinem Volk und gegen kein Volk‹. Ich fügte noch an, dass die Formel ›niemals und nirgends …‹ von Ernesto Guevara stamme. Da war der Teufel los. Die Verfolgung der Juden dürfe mit keiner anderen Verfolgung in einem Atemzug genannt werden, denn sie sei einmalig und jeder Vergleich eine Beleidigung.«

Alfredo Bauer beschloss seine Erinnerungen, die er 2011, fünf Jahre vor seinem Tod, »so hinschrieb, wie sie mir einfielen«, in der Überzeugung, dass sein Leben »schon ganz interessant« gewesen sei. »Warum ich das glaube? Wohl deshalb, weil ich erlebnisfähig war. Denn freilich: alle leben, aber nicht alle können ›erleben‹, das heißt, das Gelebte empfinden und etwas damit anfangen. Ich konnte es.«

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