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Aus: Ausgabe vom 14.11.2024, Seite 11 / Feuilleton
Kino

Aber keiner schaut hin

Nach dem Berlinale-Skandal: Der Dokfilm »No Other Land« über Vertreibung und Widerstand im Westjordanland
Von Holger Römers
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Nachdem die Bulldozer da waren: Zerstörungen in Masafer Yatta

Vordergründig handelt »No Other Land« einfach vom palästinensischen Alltag im besetzten Westjordanland. Im Fokus des Dokumentarfilms stehen knapp 20 Dörfer, die die Besatzungsbehörden schon vor vier Jahrzehnten zur Räumung bestimmt haben. Gegen die drohende Vertreibung wehrten sich die Bewohner der Region Masafer Yatta unter anderem mit Klagen vor israelischen Gerichten – bis im Mai 2022 die höchste Instanz gegen sie entschied. So bekommen wir hier die Zerstörung von Häusern durch die israelische Armee zu sehen, aber auch das Bemühen der Eigentümer, sie heimlich wieder aufzubauen. Der Film zeigt die Brutalität, mit der die Besatzungsmacht die schnelle Maurerarbeit zunichte macht, worauf wiederum Demonstrationen gegen die militärische Repression folgen.

Während sie uns die Ereignisse eindrücklich vor Augen führen, lassen die Filmbilder jedoch eine zweite Bedeutungsebene durchscheinen. Inwieweit die Debütregisseure Basel Adra, Hamdan Ballal, Yuval Abraham und Rachel Szor diese Selbstreflexion bewusst betreiben, sei dahingestellt. Jedenfalls ist klar, dass das Quartett, das auch die Montage übernommen hat, sich von der dokumentarischen Arbeit eine Wirkung abseits des Kinosaals erhofft. Umso tragischer ist, dass die gewählte Form deutliche Zweifel spiegelt, ob im Kontext des Nahostkonflikts skandalösen Bildern überhaupt noch Nachrichtenwert beigemessen wird.

Im Gespräch mit dem 1995 geborenen Abraham formuliert der ein Jahr jüngere Adra die Strategie, durch die Dokumentation die USA zu veranlassen, Druck auf Israel aufzubauen. Ginge seine Rechnung auf, gäbe es freilich diesen Film nicht, denn der macht klar, dass beide Männer ohnehin als aktivistische Journalisten über den Konflikt berichten. Gefragt, ob jemand das lesen wolle, muss der eine zugeben: »Ehrlich gesagt, nicht viele.« Der andere zeigt sich später mit 2.366 Lesern zufrieden. Dass man die beiden Regisseure überhaupt vor der Kamera sieht, ist wohl dem Bemühen geschuldet, mit einem abendfüllenden Film mehr Menschen zu erreichen. Da der westliche Markt von Dokumentarfilmen Protagonisten und Plots erwartet, suggeriert eine frühe Szene die erste Begegnung des Israelis, der die Besatzung nicht akzeptieren mag, mit dem Palästinenser, dessen Familie seit eh und je vor Ort lebt. Weitere Dialogszenen deuten das Keimen einer spröden Freundschaft an.

In einem seiner gelegentlichen Off-Kommentare berichtet Adra, dass während seiner Kindheit Menschen um ihn herum zu filmen begannen. Deshalb kann er unter anderem seine früheste Erinnerung mit Videoaufnahmen illustrieren: Sein Vater wird verhaftet. Welchem Zweck das aktivistische Bildermachen diente, lassen indes zeithistorische Aufnahmen erahnen, die mutmaßlich von einem TV-Sender stammen: Sie zeigen Tony Blair vor der örtlichen Schule, die ohne Zulassung der Besatzungsmacht errichtet worden war – und deren geplanten Abriss die israelischen Behörden angesichts der demonstrierten Aufmerksamkeit eines hohen westlichen Politikers für inopportun hielten.

Er selbst habe mit dem Filmen angefangen, als der Untergang seiner Lebenswelt nahte, sagt Adra. Zwar vermelden anfänglich eingespielte Sequenzen aus Nachrichtensendungen von BBC, MSNBC und CNN, dass als Folge des höchstrichterlichen Beschlusses die umfangreichsten Vertreibungen seit 1967 drohten. Doch eine spätere Montagesequenz lässt schließen, dass kein prominenteres westliches Medium als Democracy Now! die Berichterstattung Adras und Abrahams über tatsächliche Vertreibungen aufgreift. Da sich Medien (und Politik) im Westen kaum noch drum scheren, hat die Besatzungsmacht freilich keinen Grund mehr, vor der Zerstörung der örtlichen Schule zurückzuschrecken – die nun hier dokumentiert ist.

Folgerichtig ist auch, dass die israelischen Soldaten die Kamera zumeist ebenso ignorieren wie Adras Rufe – »Ich filme euch!« – oder sie zum Anlass nehmen, erst recht zuzuschlagen. Einzelne marodierende Siedler werfen sich sogar kokett in Pose. In einem Epilog, der offenbar Ende Oktober 2023 entstand, ist zu sehen, wie ein Mann in Zivil einen Cousin Adras aus kürzester Distanz mit einem Maschinengewehr erschießt. Ein Skandalon. Doch bei der Berlinale wurde bezeichnenderweise skandalisiert, dass Abraham nach dem Gewinn des Dokumentarfilmpreises von »Apartheid« sprach. Deutsche Gojim klärten den israelischen Juden prompt auf, dass er ein Antisemit sei. Und das offizielle Hauptstadtportal berlin.de warnte erst dieser Tage in einer Ankündigung aktueller Vorführungen vor den »antisemitischen Tendenzen« des Films. Immerhin wurde diese Bewertung mittlerweile als »falsch und unzulässig« zurückgezogen.

»No Other Land«, Regie: Basel Adra, Hamdan Ballal, Yuval Abraham und Rachel Szor, Palästina/Norwegen 2024, 95 Min., Kinostart: heute

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