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Aus: Ausgabe vom 14.11.2024, Seite 16 / Sport
Sportpolitik

Gefährliche Leidenschaft

Sportwetten: Oberlandesgericht Stuttgart setzt juristische Maßstäbe, Brasilien strebt Verbote an
Von Andreas Müller
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Wetten, dass … Sie die meisten Wetten haushoch verlieren?

Eine gültige Sportwettenkonzession schützt vor Strafe nicht. Wurden bisher ausschließlich Anbieter ohne gültige Lizenz juristisch an die Kandare genommen und zu Rückzahlungen an die Glücksspielkundschaft verpflichtet, brummte das Oberlandesgericht (OLG) Stuttgart nun Ende Oktober einem Anbieter eine entsprechende Strafe auf, obwohl er »gültige Papiere« vorweisen konnte. Grund für dieses Novum, das mit dem Namen bet 365 verbunden ist: Der Anbieter verletzte amtliche Regeln zum Spielerschutz, missachtete insbesondere das 1.000-Euro-Limit. Der klagende Spieler aus dem Landkreis Heilbronn hatte monatlich erheblich mehr als 1.000 Euro verzocken dürfen. In einem Zeitraum von sechs Jahren verzockte er monatlich 2.700 Euro. Das Gericht verurteilte das Unternehmen zu einer Rückzahlung von insgesamt 280.000 Euro. Juristisch interessant: Der Vorgang betrifft auch die drei Monate, in denen die Firma eine Konzession für Geschäfte in Deutschland hatte.

Das Urteil aus Stuttgart ist wegweisend, 68 Seiten lang, akribisch begründet. Danach kann jeder Anbieter haftbar gemacht werden, jeder Glücksspieler kann zumindest einen Teil seiner Verluste erfolgreich einklagen, sofern der Anbieter nachweislich wichtige Regeln zum Spielerschutz nicht einhält oder eingehalten hat. Eine Auffassung, die als deutliche Warnung für sämtliche Anbieter von Sportwetten verstanden werden darf. Sie könnte, sofern andere OLGs es auch so sehen, eine bundesweite Prozesslawine auslösen. Hierzulande durften etwa zwei Dutzend lizenzierte Unternehmen ihr Geschäft im Schatten von schätzungsweise mehr als 5.000 illegalen Onlineglücksspielportalen eher unbehelligt betreiben. Bislang.

Während sich die »Glücksspielseuche« hierzulande immer höheren, auch wirksameren juristischen Hürden zum Schutz der Zocker gegenübersieht, will Brasilien noch weiter gehen. Die südamerikanische »Zockernation« ist ein Paradebeispiel dafür, wo eine Gesellschaft enden kann, die mit immer ausgefeilteren, aggressiveren Sportwettenangeboten konfrontiert wird. Seit dort 2018 Sportwetten legalisiert wurden, boomt das Geschäft – und reißt eine Familie nach der anderen in den finanziellen Abgrund. Die Sucht ist weit verbreitet. Nun ist Präsident Luiz Inácio Lula da Silva im Begriff, Onlinewetten komplett zu verbieten.

Lula zufolge sei es vollkommen inakzeptabel, wenn am Tropf des Staates hängende einkommensschwache Familien finanzielle Beihilfen bei Sportwetten drangeben. Laut brasilianischer Zentralbank hatten die Empfänger von Sozialleistungen allein im August 2024 rund 550 Millionen Dollar auf diese Weise ausgegeben. Am 3. Oktober 2024 legte Lula seinem Regierungskabinett die Frage vor, ob diesen Familien das Wetten offiziell verboten werden soll. Eine Entscheidung steht noch aus.

Das brasilianische Beispiel zeigt eine erschreckende Tendenz, vor der Kritiker auch in der Bundesrepublik seit Jahren nachdrücklich warnen. Offiziellen Angaben zufolge verbuchte die Sportwettenbranche im Jahr 2022 in der Bundesrepublik einen Jahresumsatz von 8,2 Milliarden Euro. Galten vor zehn Jahren rund 400.000 Menschen als wettsüchtig, ist die Zahl derjenigen, die Haus und Hof riskieren, inzwischen auf etwa 1,3 Millionen gestiegen. Jeder dritte davon nehme an Livesportwetten teil, so Burkhard Blienert, Beauftragter der Bundesregierung für Sucht- und Drogenfragen.

Besonders anfällig seien Menschen mit Migrationshintergrund und junge Männer, die meinen, sich in der Fußballwelt bestens auszukennen. Eine fatale, mitunter tödliche Form der Selbstüberschätzung, urteilte die Bayerische Akademie für Sucht- und Gesundheitsfragen bereits vor fünf Jahren. Personen mit pathologischem Glücksspielverhalten haben demnach ein hohes Risiko für Suizidgedanken und Suizidversuche.

Solidarität jetzt!

Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.

In unseren Augen ist das Urteil eine Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit in der Bundesrepublik. Aber auch umgekehrt wird Bürgerinnen und Bürgern erschwert, sich aus verschiedenen Quellen frei zu informieren.

Genau das aber ist unser Ziel: Aufklärung mit gut gemachtem Journalismus. Sie können das unterstützen. Darum: junge Welt abonnieren für die Pressefreiheit!