Komplizierter Abzug
Von Philip TassevVor dem Afghanistan-Untersuchungsausschuss des Bundestages haben am Donnerstag Nochbundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und Exverteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) als Zeugen ausgesagt. Kramp-Karrenbauer erklärte in ihrer Aussage, dass das ursprüngliche Verfahren für die Evakuierung der afghanischen Kollaborateure der Bundeswehr »gut aufgesetzt, gut überlegt, aber auch hinreichend kompliziert« gewesen sei. Im April 2021 habe sich dann gezeigt, dass angesichts der erfolgreichen Offensive der Taliban »der eingeübte Prozess einfach zu komplex und zu langsam« gewesen sei.
Erfreulich sei, dass mittlerweile viele der früheren Bundeswehr-»Ortskräfte« samt Angehörigen Afghanistan hätten verlassen können. Trotzdem bleibe die Frage, ob man mehr von diesen afghanischen »Ortskräften« hätte retten können, wenn der Kreis der Aufnahmeberechtigten früher erweitert und Charterflüge organisiert worden wären, sagte Kramp-Karrenbauer. Nach Angaben der Bundeswehr sind rund 5.300 Afghanen ausgeflogen worden.
Laut der Exministerin war die Bundesregierung Ende 2020 davon ausgegangen, dass sich die von der NATO eingesetzte Regierung auch nach Abzug der westlichen Truppen länger gegen die Taliban behaupten könnte. Statt dessen waren die Taliban, nachdem sie in einer Offensive bereits 18 von 34 Provinzhauptstädten hatten einnehmen können, am 15. August 2021 auch in Kabul eingerückt. Das (nicht länger) vom Westen gestützte Regime implodierte daraufhin, Marionettenpräsident Aschraf Ghani setzte sich ins Ausland ab. NATO-Truppen unter US-Führung blieben in der Stadt, um vom Flughafen aus die Evakuierung zu organisieren, die schnell in ein Chaos ausartete, das manche Beobachter an den schmachvollen Abzug der US-Truppen aus Vietnam 1975 erinnerte.
Der damalige Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) hatte vergangene Woche vor dem Ausschuss ausgesagt, er habe 2021 die Ausreise von Zehntausenden afghanischen Bundeswehr-Mitarbeitern sowie ihren Familien verhindert, weil er eine »Sogwirkung« befürchtete. Kramp-Karrenbauer erklärte dazu am Donnerstag, dabei habe es auch eine Rolle gespielt, dass 2021 ein Wahljahr mit einer öffentlichen Debatte über Migrations- und Flüchtlingspolitik gewesen sei. Über die Aussage von Scholz, der zum Zeitpunkt der Evakuierung Finanzminister der Merkel-Regierung war, wurde bis jW-Redaktionsschluss nichts bekannt.
Offizieller Auftrag des Ausschusses unter dem Vorsitz von Ralf Stegner (SPD) ist die Analyse der Geschehnisse rund um den Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan und der Evakuierung des deutschen Personals, der Kollaborateure und weiterer Betroffener. Hauptsächlich geht es dabei um den Zeitraum vom 29. Februar 2020 – dem Tag, an dem die damalige US-Regierung unter Donald Trump und Vertreter der Taliban in Katar das sogenannte Doha-Abkommen abschlossen – bis zum endgültigen Abzug am 30. September 2021. Der Ausschuss soll die Entscheidungen der Bundesregierung, der beteiligten Bundesbehörden und Geheimdienste und die Zusammenarbeit mit den Verbündeten, vor allem den US-Amerikanern, untersuchen. Ebenfalls aufgeklärt werden soll, ob und wie weit die Bundesregierung auf die Umsetzung des Doha-Deals und den Abzug der US-Truppen Einfluss genommen hat. Anhand der gewonnenen Erkenntnisse soll der Ausschuss schließlich eine Empfehlung geben, welche Konsequenzen, etwa für zukünftige Kriegseinsätze, zu ziehen sind.
Durch die für den 23. Februar 2025 geplante Bundestagswahl bleibt nun aber weniger Zeit für die noch ausstehenden Vernehmungen und den Abschlussbericht. Deshalb haben die elf Ausschussmitglieder den Zeitplan geändert: Exaußenminister Heiko Maas (SPD) und Exentwicklungsminister Gerd Müller (CSU) sollen am 28. November befragt werden, in der Folgewoche dann Exkanzleramtschef Helge Braun (CDU) und Exkanzlerin Angela Merkel (CDU).
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