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Aus: Ausgabe vom 15.11.2024, Seite 10 / Feuilleton
Theorie

Der böse Blick

Fredric Jamesons lässiger Gang durch fünfzig Jahre französische Theorie
Von Stefan Ripplinger
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Im Grunde sehr nett: Fredric Jameson

In seinem letzten Lebensjahr zeigt sich der marxistische Kulturtheoretiker Fredric Jameson (1934–2024) von einer ungewohnten Seite. Zum ersten Mal lässt er Mitschriften seiner Seminare drucken. Kommen seine Essays hoch gespannt daher, wirken die beiden ersten Seminare, die er vorlegt, überaus lässig. Mal fügt er eine Anekdote über Stalin ein, mal scherzt er über seine Neigung zur Pummeligkeit. Nur halb im Spaß nennt er den Sturm des Trump-Mobs aufs Kapitol (6. Januar 2021) »maoistisch«.

Das Protokoll des ersten Seminars, gehalten im Jahr 2003 über Theodor W. Adornos »Ästhetische Theorie«, notiert peinlich genau jedes Hüsteln oder Kichern des Dozenten und jedes Schlagen der Tür im Seminarraum. Das zweite, über die französische Theorie seit Jean-Paul Sartre, verzichtet auf solche Extras und deckt ein ungleich weiteres Feld ab, das Jameson kennt wie kein zweiter.

Von den ehemaligen Mitgliedern der Gruppe »Socialisme ou barbarie« (neben anderen Cornelius Castoriadis, Gérard Genette, Claude Lefort, Edgar Morin) würdigt Jameson nur Jean-François Lyotard einer Betrachtung. Einige der großen B der Theorie – Gaston Bachelard, Georges Bataille, Maurice Blanchot, Pierre Bourdieu – rückt er an den Rand; Nicos Poulantzas kommt gar nicht vor. Bedauerlicherweise bezieht er in seine reichen Ausführungen zu Claude Lévi-Strauss nicht dessen Schüler Maurice Godelier ein. Aber sonst sind alle an Bord, auch Julia Kristeva, die er sehr schätzt, ja, sogar das Unsichtbare Komitee.

Das Seminar hält Jameson, der damals gerade auf die 87 zugeht, von Januar bis April 2021, und er ist in Hochform. Nicht nur überblickt er die ganze zerklüftete Gebirgslandschaft dieses Denkens, er springt auch leichtfüßig von einem Gipfel zum anderen. Durchaus willkürlich ist es, dass er Sartres »Das Sein und das Nichts« (1943) an den Anfang stellt. Mit größerem Recht hätte er den Beginn des neuen französischen Denkens auf Alexandre Kojèves Hegel-Vorlesungen (1933–1939) datieren können. Aber Sartre liefert ihm ein sich durch sämtliche Theorien ziehendes Motiv: den Blick des Anderen. Der Blick des Anderen bedeutet bei Sartre eine Gefahr: Er macht mich zu dem, der ich bin oder sein soll, und formiert die sich zur Abwehr zusammenschließende Gruppe.

Für Sartre lässt erst der böse Blick des Antisemiten einen Juden zum (Klischee des) »Juden« werden, für Simone de Beauvoir und später Monique Wittig ist es der Blick der Männer, der die Frauen zu »Frauen« macht, Frantz Fanon betrachtet die Auswirkungen des Blicks der Kolonisatoren auf die Kolonisierten. Es ist der Blick des Anderen, der bei Jacques Lacan das Ego herausbildet. Daraus entwickelt Louis Althusser seine Ideologietheorie und Michel Foucault seine Lehre vom Ausschluss der Infamen.

Das zweite große Motiv der französischen Theorie ist die Sprache, die schon Lacan und Althusser als »verdinglicht« erkennen, und die Roland Barthes für »faschistisch« erklärt, weil sie einzigartige Phänomene in teils toxischen Begriffen erstickt: Subjekt, Identität, Zentralmacht – Stellvertreter Gottes, gegen die auch Gilles Deleuze und Félix Guattari Sturm laufen. Für Jacques Derrida ist Sprache ein Gegenstand unermüdlicher Dekonstruktion, aber zu den Gegenständen selbst, zum »Realen« Lacans, führt für ihn kein Weg mehr.

Kurz, diese Denktradition bietet eine unerhört feine Beschäftigung mit Überbau und Ideologie. Streng marxistisch denken die wenigsten theoretisierenden Französinnen und Franzosen, aber ebenso wenige denken gegen Marx. Mit der Austreibung des Marxismus in den achtziger und neunziger Jahren endet auch die hohe Zeit der französischen Theorie, damals, als, wie Fredric Jameson beiläufig bemerkt, die BRD ihre »Schwindler« (Carpetbaggers) an die Universitäten des Ostens entsandte, um sie auf Vordermann zu bringen.

Fredric Jameson: Mimesis, Expression, Construction. Seminar on »Aesthetic Theory«. Hg. v. Octavian Esanu. Repeater, London 2024, 775 Seiten, circa 38 Euro

Ders.: The Years of Theory. Postwar French Thought to the Present. Hg. v. Carson Welch. Verso, London/New York 2024, 458 Seiten, circa 25 Euro

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