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Aus: Ausgabe vom 12.11.2024, Seite 11 / Feuilleton
Theorie

Schuld und Sühne

Philosophieren in Zeiten kolonialen Unrechts: Onur Erdur über die Wurzeln der modernen französischen Theorie
Von Marc Püschel
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Ein Denken auf der Flucht: Jacques Derrida (15.7.1930–8.10.2004)

Die Philosophiegeschichte gibt immer noch Rätsel auf. Eines davon ist die Frage, warum philosophische Strömungen oder Schulen oftmals geradezu eruptiv und in einem sehr kleinen Gebiet auftauchen. Die Antwort, die Georg Wilhelm Friedrich Hegel parat hielt, ist simpel: Die Eule der Minerva – also die Erkenntnis – fliege erst, wenn in der Wirklichkeit ein Reich untergegangen sei. Die Menschen flüchteten sich dann ins reine Denken, wo allein sie noch Antworten auf Fragen fänden, die eigentlich das Leben stellt. Dies gelte bereits für den Anfang der Philosophie, den Hegel im Untergang der ionischen Freistaaten in Kleinasien aufgrund der lydischen und persischen Eroberungen verortet.

Was für Denker wie Thales von Milet oder Heraklit von Ephesos gilt, könnte analog auch für Pierre Bourdieu, Jean-François Lyotard und Co. gelten, die in den nordafrikanischen Kolonien Frankreichs entweder geboren oder durch Zivil- und Kriegsdienst dorthin gekommen waren. Die durch den Algerienkrieg von 1954 bis 1962 erzwungene Flucht beziehungsweise die Konfrontation mit einer neuen unabhängigen Welt könnte einen entscheidenden Anstoß zur Entwicklung der französischen Philosophie gegeben haben. Dieser Vermutung geht der Kulturwissenschaftler Onur Erdur in seinem Buch »Schule des Südens« nach.

Am Strand von Tunis

Er reagiert damit auf eine bemerkenswerte Vernachlässigung in der Ideengeschichte. Selbst wenn man keine Einbettung in eine große philosophiegeschichtliche Logik im Sinne Hegels vor Augen hat, sind die Hinweise, dass es einen Zusammenhang zwischen dem Niedergang der Kolonialherrschaft und Theoriebildung geben muss, schlagend: Albert Camus, Louis Althusser, Hélène Cixous, Jacques Derrida und Jacques Rancière sind in Algerien geboren, Marguerite Duras in Französisch-Indochina, Alain Badiou in Marokko – und da ist noch gar nicht die Rede von all denen, die in den französischen Kolonien arbeiteten oder dort Kriegsdienst leisteten. Eigenständige Untersuchungen dazu sind jedoch Mangelware.

Die Lücke füllt Erdur auf beeindruckende Weise, indem er der französischen Theorie als einem Denkstil nachspürt, »der gegen die Identität und für die Differenz, gegen das Zen‑trum und für die Peripherie, gegen das Hegemoniale und fürs Minoritäre« eintritt. Er zeigt, wie dieser Denkstil »nicht etwa in Pariser Bibliotheken, sondern am Strand von Tunis und in den Straßen Algiers entstanden ist« und widmet sich in acht plastischen Porträts Pierre Bourdieu, Jean-Francois Lyotard, Roland Barthes, Michel Foucault, Jacques Derrida, Hélène Cixous, Étienne Balibar und Jacques Rancière.

Aus ihren Lebenswegen leitet Erdur die Folgerung ab, dass sich die Anfänge der französischen Theorie in der Epoche der Dekolonisierung verorten lassen: »Ihre Blüte erfährt sie unmittelbar in der Zeit nach dem Ende des Algerienkrieges. In der Philosophie (…) war dies ein Moment, bei dem die Gewissheiten einer traditionellen (manche würden sagen: westlichen) Vernunft ins Wanken gerieten und ihre inneren Widersprüche (manche würden sagen: Differenzen) offen zu Tage traten.«

Eine »homogenisierende Erzählung« wird jedoch vermieden, die Porträts bleiben getrennt und zeigen gerade in ihren Differenzen, wie vielfältig die Kolonien sich auf die Theoriebildung auswirkten. Mitunter waren es ganz direkte und offenkundige Einflüsse, wie etwa für den jungen Bourdieu, der als Wehrdienstleistender 1955 nach Algerien kam und später im Dienste des französischen Statistikamtes INSEE stand, in welcher Rolle er soziologische Studien in Algerien unternehmen konnte. Das Habitus-Konzept, mit dem Bourdieu als Soziologie berühmt wurde, entstammt dieser Zeit: »Algerien war in diesem Fall tatsächlich das Laboratorium der Theorie.«

Andere Denker prägte der Krieg zunächst politisch. Lyotard etwa, der von 1950 bis 1952 als Lehrer im algerischen Constantine arbeitet, war von der Realität des französischen »Zivilisationsexports« so erschüttert, dass er sich nach seiner Rückkehr nach Frankreich aktiv für die Unabhängigkeitsbewegung FLN einsetzte, gesuchte Algerier bei sich versteckte und publizistisch Partei für sie ergriff. Der koloniale Rassismus, den er miterlebt, bereitet auch die Bahn für seine Skepsis gegenüber einer einzigen dominanten Form »westlicher« Vernunft, die ihn später zum Vater des Begriffs der Postmoderne macht. »Ich verdanke Constantine einfach mein ganzes Erwachen«, so Lyotard im Rückblick.

Erweckungserlebnisse in Nordafrika haben auch Barthes und Foucault – dieser entwickelte in Sidi Bou Saïd in Tunesien von 1966 bis 1968 seinen Diskursbegriff, jener erlebte in Casablanca 1978 einen literarischen Heureka-Moment. Doch kam ihnen Nordafrika selbst kaum in den Blick, Tunesien und Marokko dienten vor allem als Ort konzentrierter Arbeit und sexueller Abenteuer, wobei auch die neokoloniale Asymmetrie gegenüber armen Nordafrikanern, die sich als Prostituierte für reiche Franzosen verdingen müssen, ausgenutzt wird. Zur grausamen französischen Kolonialherrschaft und ihren Folgen äußerte sich Foucault zeitlebens nie. »Lebten Adorno und Horkheimer im ›Grand Hotel Abgrund‹, so residierten Foucault und Barthes zusammen mit dem Rest der Reisegruppe im ›Club Méditerranée‹.«

Zwischen allen Stühlen

Weit unmittelbarer war dagegen Jacques Derrida betroffen, der als algerischer Jude in den 1930er Jahren zwischen allen Stühlen aufwuchs, sich weder mit den französischen Kolonisatoren noch den algerischen Unterdrückten identifizieren kann. Seine Erfahrungen mit Ausgrenzung, die in der Flucht seiner Familie aus Algerien 1962 gipfelte, führten ihn zur philosophischen Beschäftigung mit der Kategorie der »Identität« und zur berühmten Methode der De‑konstruktion.

Abschließend geht Erdur auf die politischen Diskussionen ein, die sich um poststrukturalistische oder (de-)konstruktivistische Theorien mittlerweile entspannen. Deren Ansätze, so sein Fazit, lassen sich nicht auf den einfachen Nenner bringen, den die Anti-Woke-Polemiker der Gegenwart gerne hätten. Und auch Erdurs Buch eignet sich nicht für einseitige Perspektiven. Kritisch, aber ausgewogen nähert er sich einer Philosophie, die man nach dem Buch vielleicht nicht mehr nur eine »französische« nennen mag, und hält dabei eine fast perfekte Waage zwischen biographisch-anschaulicher Darstellung und Vermittlung abstrakt-theoretischer Gehalte. Bücher, die man uneingeschränkt empfehlen kann, sind selten. Die »Schule des Südens« zählt dazu.

Onur Erdur: Schule des Südens. Die kolonialen Wurzeln der französischen Theorie. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2024, 335 Seiten, 28 Euro

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