»Es fehlt gut die Hälfte der Schutzplätze«
Allein in Berlin gab es 29 Femizide in diesem Jahr. Bemerken Sie eine verstärkte Angst, wenn Gewaltbetroffene bei Ihrer BIG-Hotline anrufen?
Wir merken bei der Hotline einen Anstieg der Anrufzahlen. Das war schon den ganzen Sommer zu beobachten und bricht auch jetzt nicht ab, so dass wir die höchsten Anrufzahlen seit Beginn der Pandemie verzeichnen. Also wir merken auf jeden Fall, dass es erhöhten Bedarf gibt. Das Problem dabei ist, dass viele Gewaltbetroffene einen Schutzplatz suchen, die Anzahl der verfügbaren Schutzplätze in Berlin aber nicht in dem Maße gestiegen ist wie der Bedarf. Das ist kein neues Phänomen: Schon seit Jahren gibt es zu wenige Plätze in Berlin, so dass viele nicht den Schutz kriegen, den sie eigentlich brauchen.
Mit welchen Anliegen oder Sorgen sehen sich die Beraterinnen am Telefon konfrontiert?
Es rufen tatsächlich viele an, die konkret nach einem Schutzplatz suchen. Es melden sich aber auch Unterstützerinnen, die sich Sorgen um jemanden in ihrem Freundes- oder Familienkreis machen. Es rufen auch Frauen an, die sich gar nicht so sicher sind, ob das, was sie erleben, überhaupt als häusliche Gewalt zählt. Für die ist dann erst mal wichtig, gemeinsam zu gucken: Ja, doch, das, was ich erlebe, das ist Gewalt, das muss man ernst nehmen. Ich bilde mir das nicht ein. Und ich habe ein Anrecht auf Schutz und Unterstützung. Weitere Komplikationen sind zum Beispiel, wenn die Frauen nicht finanziell selbständig, sondern in irgendeiner Form von ihrem Partner abhängig sind. Manchmal hängt da ein Aufenthaltsstatus mit dran. Oder es gibt gemeinsame Kinder, auch die müssen geschützt werden.
Wie gut ist das Hilfesystem für Betroffene geschlechtsspezifischer Gewalt momentan hier in Berlin ausgestattet?
Wir sind chronisch unterbesetzt, alle Sozialarbeiterinnen arbeiten mehr, als gesund ist. Wir bräuchten in Berlin eigentlich 963 Schutzplätze. Es gibt aber nur 477, die den Kriterien der Istanbul-Konvention genügen. Das heißt, es fehlt gut die Hälfte der Schutzplätze.
Woran liegt das?
In Berlin wurde letztes Jahr der Landesaktionsplan verabschiedet. Das ist die Berliner Umsetzung der Istanbul-Konvention. Die Konvention ist seit 2018 in Deutschland geltendes Recht, wird aber nur mangelhaft umgesetzt. Der Landesaktionsplan ist nun seit etwa einem Jahr in Kraft, da stehen zwar gute Maßnahmen drin, die sind aber nicht mit konkreten finanziellen Mitteln hinterlegt – werden also nicht verlässlich umgesetzt. Gerade in Anbetracht der Sparmaßnahmen, die Berlin noch vorhat, ist zu befürchten, dass am Schutz von Menschenleben gespart wird, um ein Haushaltsloch zu stopfen.
Warum scheinen Frauenleben so wenig wert zu sein?
Das Problem an Femiziden wie auch generell an geschlechtsspezifischer Gewalt ist, dass sie immer noch als individuelles Problem wahrgenommen werden. Wenn eine Frau partnerschaftliche Gewalt erlebt, dann wird es als »Beziehungsdrama« abgetan. Wenn eine Frau sexualisierte Gewalt erlebt, dann wird gefragt, was sie getragen hat. Dabei sind all diese Formen von Gewalt inklusive Femiziden Ausdruck patriarchaler Gewalt. Bei all diesen Gewaltformen geht es um Macht und Kontrolle von Frauen und Kindern. Indem wir die Gewalt individualisieren, verschleiern wir ihren strukturellen Charakter.
Unter dem Motto »Lasst uns (gewaltfrei) leben! – Istanbul-Konvention umsetzen jetzt!« ruft ein breites Bündnis am 25. November – dem internationalen Aktionstag – zur Demonstration gegen Gewalt an Frauen und Mädchen auf. Was ist geplant?
Wir treffen uns um 16 Uhr vor dem Abgeordnetenhaus. Dort werden wir unsere Forderungen vortragen: Die sofortige Umsetzung des Landesaktionsplans ohne Wenn und Aber. Die Bekämpfung geschlechtsspezifischer Gewalt muss allerhöchste Priorität im Land Berlin werden. Gemeinsam machen wir uns dann auf den Weg Richtung Senatsverwaltung für Finanzen, wo wir der ermordeten Frauen gedenken wollen. Dazu ist ein Lichtermeer mit Grabkerzen geplant. Diese wollen wir vor dem Finanzministerium plazieren. Denn in der Regel ist es das Geld, was fehlt, um Frauenleben zu retten.
Nua Ursprung ist Sprecherin der Berliner Initiative gegen Gewalt an Frauen (BIG)
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