»Riesige« russische Verluste?
Von Lars LangeDer russische Vormarsch beschleunigt sich. Bis zum Freitag konnten russische Truppen im Monat November 441 Quadratkilometer erobern. Damit ist es den russischen Streitkräften gelungen, die Geschwindigkeit ihres Vormarsches in diesem Monat im Vergleich zum Rekordmonat Oktober noch einmal um 37 Prozent zu steigern. Zwei Schauplätze stechen besonders hervor: der handstreichartige Vorstoß russischer Spitzen in die Stadtzentren von Kupjansk und Tschassiw Jar. Das ist ein Vorgang, der aufhorchen lassen muss und noch vor wenigen Monaten nahezu unmöglich gewesen wäre, denn besonders Tschassiw Jar gilt als besonders gut befestigt. Fällt die Kleinstadt, so steht der russischen Führung der Vormarsch auf das mit rund 70.000 Einwohnern Vorkriegsbevölkerung ungleich größere Kostjantiniwka offen, welches sich nur knapp zwanzig Kilometer südwestlich von Tschassiw Jar befindet. Die Eroberung Kostjantiniwkas kann als Voraussetzung für die Einnahme von Pokrowsk gelten, die letzte Bastion der ukrainischen Verteidiger vor dem Dnipro. Denn hinter Pokrowsk gibt es keine signifikanten ukrainischen Verteidigungsstellungen mehr.
Die militärische Lage der ukrainischen Armee kann nur als verzweifelt bezeichnet werden, eine Tatsache, die besonders von den deutschen Medien weitgehend verschwiegen wird. Das Vordringen in die Stadtzentren von Kupjansk und Tschassiw Jar, bedeutende militärische Entwicklungen, findet zumindest medial kaum Beachtung. Statt dessen wird berichtet, dass russische Truppen zwar vorrücken, aber, so lautet das mediale Begleitnarrativ, unter »riesigen«, »astronomischen« oder auch »nie dagewesenen« Verlusten.
Fragwürdig sind in diesem Zusammenhang die Quellenangaben zu den berichteten Verlusten: Zum einen ist das der ukrainische Generalstab, zum anderen wird das britische Verteidigungsministerium zitiert. Letzteres vermeldet regelmäßig, dass Russland beispielsweise Panzer oder Munition ausgegangen seien. Dass russische Soldaten ukrainische Stellungen mit Spaten angriffen, behauptete das Verteidigungsministerium allen Ernstes noch im März vergangenen Jahres. Weitere, handfestere Belege für hohe russische Verluste fehlen.
Solche Einschätzungen haben auch mit der Realität in der Ukraine wenig zu tun. Das Vorgehen der russischen Führung scheint methodisch und offensichtlich darauf ausgerichtet, die eigenen Verluste zu minimieren. Die russische Armee rückt unter Ausnutzung der eigenen überlegenen Feuerkraft langsam vor. Man könnte auch von einem Fernwaffenkrieg sprechen. Und obwohl die Ukraine substantielle Waffen- und Munitionslieferungen aus NATO-Staaten erhalten hat, scheint die Überlegenheit der russischen Artillerietruppen erdrückend zu sein. So sprach Olexander Ochrimenko, Kommandeur der ukrainischen 72. Mechanisierten Brigade, die in Wugledar kämpfte, noch vor einem Monat von einer neunfachen russischen Überlegenheit bei Schlüsselsystemen wie der Artillerie. Und die US-amerikanische Zeitschrift National Interest berichtete schon im Juni, dass die Artillerie für 80 Prozent der Verluste auf beiden Seiten verantwortlich sei.
In westlichen Medien wird immer wieder von sogenannten Fleischangriffen berichtet. Der Begriff impliziert das selbstmörderische Anrennen Hunderter oder gar Tausender Soldaten gegen stark befestigte Stellungen unter Inkaufnahme horrender Verluste. Solche Angriffe sind jedoch nicht belegt, und zwar weder auf russischer noch auf ukrainischer Seite. Unter den Bedingungen des »gläsernen Schlachtfeldes«, bei dem Hunderte Drohnen das Geschehen nahezu lückenlos 24 Stunden am Tag überwachen, müsste zumindest ein einziger solcher Angriff belegbar sein. Ist es aber nicht. Statt dessen sieht man auf den Bildern eine Art Molekularisierung der Angriffstaktiken, bei der in der Regel nur wenige Soldaten versuchen, die gegnerischen Stellungen zu infiltrieren. Eine seriöse Bezifferung der Verluste auf beiden Seiten ist derzeit nicht möglich. Es lässt sich jedoch sagen, dass der russische Vormarsch sich immer mehr beschleunigt.
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Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (18. November 2024 um 10:34 Uhr)Ergänzend zu den im Artikel angesprochenen Themen möchte ich zwei weitere Punkte hervorheben: Erstens: Der akute Personalmangel in der ukrainischen Armee erschwert die Rotation der Soldaten erheblich. Dies führt dazu, dass die Kämpfer an der Front sowohl physisch als auch psychisch erschöpft sind. Gleichzeitig können die Verluste in den Reihen der Truppen nicht adäquat kompensiert werden, was die Kampfkraft erheblich schwächt. Zweitens: Die zunehmende Demoralisierung der Soldaten spielt eine entscheidende Rolle. In der heutigen vernetzten Welt erreichen die Nachrichten über die militärische Lage auch die Frontlinien. Diese oft aussichtslose Situation, die die Soldaten selbst unmittelbar erleben, wirkt stark deprimierend. Immer mehr kleinere, isolierte Einheiten ergeben sich, um dem sicheren Tod auf dem Schlachtfeld zu entgehen. Zudem kommt es vermehrt vor, dass Einheiten ohne entsprechende Befehle ihre Positionen aufgeben und sich zurückziehen, wodurch strategisch wichtige Stellungen kampflos an die russischen Truppen fallen. Diese Faktoren zeichnen ein düsteres Bild der aktuellen Lage an der Front.
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Leserbrief von A.G. (18. November 2024 um 10:00 Uhr)Okay. Seltenheitswert. Deshalb hier und nicht in der FAZ oder SZ. Stellt sich aber die Frage, warum überhaupt MI-6 Erfindungen – denn darum handelt es sich – und selbiges aus ukrainischen PR-Büros berichtet wird? Den neuen Regeln der Presse-»courtesy« zufolge gälte das doch als Desinformation und ergo »pfui«. Warum also nicht einfach mal das russische Verteidigungsministerium zitieren? Das Pentagon wird 24/7 zitiert. Als ob die neutral wären?! Für die Russen ist ein erfolgreiches Ende des Krieges überlebenswichtig. Was die Öffentlichkeit in Europa und den USA denkt oder nicht denkt, ist dafür irrelevant. Relevant sind Tote, Verletzte, zerstörte Panzer, Haubitzen, Raketen und deren Produktion. Entscheidend ist die materiale Realität des Krieges. Deshalb hat auch das russische Militär kein substantielles Interesse daran, diesen unechten Krieg an der PR-Front auf Teufel komm raus zu gewinnen. Er verändert nicht den Verlauf des Krieges. Im Gegensatz dazu ist die Wahrheit hinter den Zahlen von Verlusten überlebenswichtig – für Russland, nicht für uns. Das habe ich aber noch in keiner dt. Analyse gelesen. Wenn also die russ. Seite mittlerweile ukr. Verluste (tot & verletzt) mit 900.000+ beziffert, warum ignorieren? NYT 18. August 2023: »Troop Deaths and Injuries in Ukraine War Near 500,000, U.S. Officials Say Ukraine and Russia have lost a staggering number of troops as Kyiv’s counteroffensive drags on. A lack of rapid medical care has added to the toll.« Natürlich darf der Russe nicht weniger verlieren. Aber es gehört zum Handwerk, diese PR mit Tatsachen zu mischen. Daher tauchen in der US-Presse alle paar Monate solche Überschriften auf. Aber wenn schon die Times, keine neutrale Partei in diesem Krieg, vor einem Jahr von 500.000 Opfern sprach – wie schlimm ist die Realität dann wirklich?
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Rainer Erich K. aus Potsdam (18. November 2024 um 09:50 Uhr)Die Überlegenheit der russischen Armee und deren permanentes Vordringen wird im westlichen Informationskrieg verschwiegen und stattdessen werden Horrormeldungen über russische Verluste verbreitet, die dem Medienkonsumenten vermitteln sollen, da gehe noch was. Wie man heute erfuhr, hat der Bellizist Biden die Genehmigung erteilt, Russland mit westlichen Langstreckenwaffen zu beschießen. Dass dies eine enorme Eskalation darstellt, sollte jedem klar sein. Denn diese »Genehmigung« an das Kiewer Regime ist ein Fake, da das dortige Regime längst seine Möglichkeiten genutzt hat, tief ins russische Hinterland einzudringen. Der Beschuss russischen Territoriums mit Präzision-Langstreckenwaffen aus dem Westen ist in Wirklichkeit der Eintritt der USA, Frankreichs und Englands in den Krieg gegen Russland, denn ohne deren Satellitendaten und deren Programmierung vor Ort ist der Einsatz dieser Waffen nicht möglich. Russland hat vor dem Eintritt der NATO-Staaten in den Krieg gewarnt und betrachtet in diesem Fall die genannten Staaten als Kriegsgegner.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Marc P. aus Cottbus (18. November 2024 um 08:46 Uhr)Selbst wenn die Behauptungen über »riesige« russische Verluste stimmten, so sind doch nicht die absoluten Zahlen entscheidend, sondern die Fähigkeit, diese Verluste zu kompensieren oder zu ersetzen. Und das gelingt Russland aufgrund seiner umfangreichen eigenen Ressourcen deutlich besser als der Ukraine.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Ralf S. aus Gießen (17. November 2024 um 20:01 Uhr)Das ist doch die alte Leier, um die kognitive Dissonanz beim eigenen Publikum, das seit 3 Jahren zu hören bekommt wie horrend die russischen Verluste seien und dass dem »Iwan« doch eigentlich bereits vor 2 Jahren die Raketen und andere Munition ausgegangen sein müsste, er aber weiterhin auf dem Vormarsch ist und munter weiterkämpft, wenigstens einigermaßen zu minimieren, muss man nun mal militärische Erfolge des »Feindes« irgendwie relativieren. Nach dem Motto »Wenn wir hier nicht gewinnen, dann treten wir ihnen wenigstens den Rasen kaputt!« Deutsche Rechte und Revisionisten, wobei das ja mittlerweile auch in der sog. politischen Mitte gern gehört wird, die sich der Implikationen dessen nicht bewusst ist, haben doch auch seit Jahr und Tag das Klagelied von der ungerechten Niederlage der Deutschen im Zweiten Weltkrieg gesungen. Wie unfair war es doch! Die anderen waren viel mehr! Und »wir« haben den Russen doch zigmal größere Verluste zugefügt als die uns! Mist, verloren haben sie aber trotzdem. Aber immerhin hält man so noch den Kern des Glaubens an die deutsche Überlegenheit wach. Und wo wir schon dabei sind: Die Legenden der sog. »Fleischangriffe« gehören in dieselbe Kategorie. So sind sie nämlich, die »Barbaren« des Ostens, können halt keine Qualität aufs Schlachtfeld führen (schließlich sind wir doch die Herrenmenschen, mit all den klugen Köpfen!), daher können sie nur mit Quantität kommen. Und ein Teil des Glaubens an westliche Überlegenheit ist nun mal auch, dass bei den »Barbaren« des Ostens Menschenleben nichts wert seien (hat vermutlich irgendwas mit der Aufklärung zu tun …). Was an rassistischem Zynismus kaum zu überbieten ist, wenn man bedenkt, wer für die größten Kriege der Menschheitsgeschichte verantwortlich war und ist.
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