75 Ausgaben junge Welt für 75 €
Gegründet 1947 Montag, 18. November 2024, Nr. 269
Die junge Welt wird von 2983 GenossInnen herausgegeben
75 Ausgaben junge Welt für 75 € 75 Ausgaben junge Welt für 75 €
75 Ausgaben junge Welt für 75 €
Aus: Ausgabe vom 18.11.2024, Seite 7 / Ausland
Ukraine-Krieg

»Riesige« russische Verluste?

Ukraine-Krieg: Russische Truppen rücken vor. Deutsches Narrativ verkennt Realität auf dem Schlachtfeld
Von Lars Lange
7.jpg
Ein alltägliches Bild des Krieges: Ukrainischer Soldat bei Tschassiw Jar (7.8.2024)

Der russische Vormarsch beschleunigt sich. Bis zum Freitag konnten russische Truppen im Monat November 441 Quadratkilometer erobern. Damit ist es den russischen Streitkräften gelungen, die Geschwindigkeit ihres Vormarsches in diesem Monat im Vergleich zum Rekordmonat Oktober noch einmal um 37 Prozent zu steigern. Zwei Schauplätze stechen besonders hervor: der handstreichartige Vorstoß russischer Spitzen in die Stadtzentren von Kupjansk und Tschassiw Jar. Das ist ein Vorgang, der aufhorchen lassen muss und noch vor wenigen Monaten nahezu unmöglich gewesen wäre, denn besonders Tschassiw Jar gilt als besonders gut befestigt. Fällt die Kleinstadt, so steht der russischen Führung der Vormarsch auf das mit rund 70.000 Einwohnern Vorkriegsbevölkerung ungleich größere Kostjantiniwka offen, welches sich nur knapp zwanzig Kilometer südwestlich von Tschassiw Jar befindet. Die Eroberung Kostjantiniwkas kann als Voraussetzung für die Einnahme von Pokrowsk gelten, die letzte Bastion der ukrainischen Verteidiger vor dem Dnipro. Denn hinter Pokrowsk gibt es keine signifikanten ukrainischen Verteidigungsstellungen mehr.

Die militärische Lage der ukrainischen Armee kann nur als verzweifelt bezeichnet werden, eine Tatsache, die besonders von den deutschen Medien weitgehend verschwiegen wird. Das Vordringen in die Stadtzentren von Kupjansk und Tschassiw Jar, bedeutende militärische Entwicklungen, findet zumindest medial kaum Beachtung. Statt dessen wird berichtet, dass russische Truppen zwar vorrücken, aber, so lautet das mediale Begleitnarrativ, unter »riesigen«, »astronomischen« oder auch »nie dagewesenen« Verlusten.

Fragwürdig sind in diesem Zusammenhang die Quellenangaben zu den berichteten Verlusten: Zum einen ist das der ukrainische Generalstab, zum anderen wird das britische Verteidigungsministerium zitiert. Letzteres vermeldet regelmäßig, dass Russland beispielsweise Panzer oder Munition ausgegangen seien. Dass russische Soldaten ukrainische Stellungen mit Spaten angriffen, behauptete das Verteidigungsministerium allen Ernstes noch im März vergangenen Jahres. Weitere, handfestere Belege für hohe russische Verluste fehlen.

Solche Einschätzungen haben auch mit der Realität in der Ukraine wenig zu tun. Das Vorgehen der russischen Führung scheint methodisch und offensichtlich darauf ausgerichtet, die eigenen Verluste zu minimieren. Die russische Armee rückt unter Ausnutzung der eigenen überlegenen Feuerkraft langsam vor. Man könnte auch von einem Fernwaffenkrieg sprechen. Und obwohl die Ukraine substantielle Waffen- und Munitionslieferungen aus NATO-Staaten erhalten hat, scheint die Überlegenheit der russischen Artillerietruppen erdrückend zu sein. So sprach Olexander Ochrimenko, Kommandeur der ukrainischen 72. Mechanisierten Brigade, die in Wugledar kämpfte, noch vor einem Monat von einer neunfachen russischen Überlegenheit bei Schlüsselsystemen wie der Artillerie. Und die US-amerikanische Zeitschrift National Interest berichtete schon im Juni, dass die Artillerie für 80 Prozent der Verluste auf beiden Seiten verantwortlich sei.

In westlichen Medien wird immer wieder von sogenannten Fleischangriffen berichtet. Der Begriff impliziert das selbstmörderische Anrennen Hunderter oder gar Tausender Soldaten gegen stark befestigte Stellungen unter Inkaufnahme horrender Verluste. Solche Angriffe sind jedoch nicht belegt, und zwar weder auf russischer noch auf ukrainischer Seite. Unter den Bedingungen des »gläsernen Schlachtfeldes«, bei dem Hunderte Drohnen das Geschehen nahezu lückenlos 24 Stunden am Tag überwachen, müsste zumindest ein einziger solcher Angriff belegbar sein. Ist es aber nicht. Statt dessen sieht man auf den Bildern eine Art Molekularisierung der Angriffstaktiken, bei der in der Regel nur wenige Soldaten versuchen, die gegnerischen Stellungen zu infiltrieren. Eine seriöse Bezifferung der Verluste auf beiden Seiten ist derzeit nicht möglich. Es lässt sich jedoch sagen, dass der russische Vormarsch sich immer mehr beschleunigt.

Solidarität jetzt!

Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.

In unseren Augen ist das Urteil eine Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit in der Bundesrepublik. Aber auch umgekehrt wird Bürgerinnen und Bürgern erschwert, sich aus verschiedenen Quellen frei zu informieren.

Genau das aber ist unser Ziel: Aufklärung mit gut gemachtem Journalismus. Sie können das unterstützen. Darum: junge Welt abonnieren für die Pressefreiheit!

Ähnliche:

  • Das Original: Iran präsentiert die Drohne »Shahed-136« bei einer...
    08.11.2024

    Vorteil im Luftkrieg

    Russland hat iranische Technik weiterentwickelt und auch die Produktionszahlen von Drohnen erheblich gesteigert
  • Eher keine Nordkoreaner: Russische Truppen feuern in der Region ...
    07.11.2024

    Kämpfe gegen Koreaner?

    Ukrainische Führung spricht von Gefechten – auf russischem Gebiet. Widersprüchliches zu Waffenstillstandsverhandlungen

Mehr aus: Ausland