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Aus: Ausgabe vom 15.11.2024, Seite 11 / Feuilleton
Kino

Haarscharf an allem vorbei

Dokfilm: »Die Bekenntnisse des Hochstaplers Thomas Mann« versacken im Zeitgeist
Von Felix Bartels
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Ion Țiriac gefällt das: Krull beim Tennisspiel

Film siegt über Buch. Kein Bildungsdünkel kann darüber hinwegtäuschen, dass Lesen ungleich anstrengender ist, als ein paar Bilder vorbeirauschen zu lassen. Es gibt indessen Filme, bei denen das nicht gilt. Durch 95 Minuten muss hindurch, wer »Die Bekenntnisse des Hochstaplers Thomas Mann« sehen will, jene Dokumentation, die von Thomas Mann und seinem Roman »Die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull« handelt. Die Verschränkung von Werk und Autor immerhin scheint legitim. Felix Krull war in der ersten Arbeitsphase als Alter ego angelegt, zwischen 1910 und 1913, am Fuße des »Zauberberg«, schien Mann noch hinreichend jung, dem Helden seine Züge einzuschreiben. Als er in den fünfziger Jahren ein zweites Mal ansetzte, funktionierte das nicht mehr. So flocht er sich in die Figur des Lords Kilmarnock, der Roman enthält damit gewissermaßen zwei Porträts des Autors.

Befremdlich, dass dieser Film kaum intellektuelle Dynamik entfaltet. Er ist doch überfrachtet mit Texten des großen Erzählers, mit O-Tönen gar jener gesetzt-sonoren Stimme, die einen Eindruck vermittelt, was Peter Hacks gemeint haben konnte, als er die Haltung von Manns »Lotte in Weimar« in der Formel »Kühnheit im Schicklichen« zusammenfasste. Das Wort‑material scheint kontaminiert durchs Szenische. Jene Krise, in der das Doku‑genre sich befindet, seit TV und Stream mit ihm geflutet sind, zeigt sich auch hier. Einfach einen Gegenstand anhand visuellen, akustischen und ideellen Stoffen in eine Form bringen, das scheint nicht mehr zu gehen. Allzu gern ziehen Regisseure sich hinters Material zurück, lassen es, wie verklärend erklärt wird, »selbst sprechen«. Was fehlt, ist dann nicht bloß die Form, es ist die tragende Idee, die sich nie im einzelnen Moment zeigen kann, sondern erst über die Szenen hinweg, die von ihnen zusammengehalten werden. So bleibt diese »Krull«-Doku bloß Montage, reine Schnipselei, bei der man sich was denken kann – oder auch nicht. Fragment an Fragment ohne inneren Zug. Wer mittendrin auf Toilette gehen will, nur zu, das Gefühl, was verpasst zu haben, wird sich nicht einstellen. Der »Krull« blieb Fragment, weil er nicht abgeschlossen wurde. Die »Krull«-Doku erweist sich als Fragment in anderer Hinsicht. Abgeschlossen ist sie, fertig nicht.

Widerspruch zwischen Szene und Ton kann fruchtbar sein. Hier irritiert er bloß. Wir hören Mann und sehen disparate Bilder, teils dramatisch, teils als Stilleben, nachgestellt im Szenenbild unserer Gegenwart – Modernisierung eines alten Stoffs wurde spätestens in den neunziger Jahren zum Inbegriff der Einfallslosigkeit. Ein Film, der nicht weiß, was er will, dafür aber um so mehr will, was er weiß. Aber das eben scheint nicht viel: Manns »Krull« wird serviert als Protobeitrag zur Diversity. Dieser ganz heutige Ansatz wird brutal durchdekliniert, und der Widerspruch zur akustisch vermittelten Dignität Mannscher Sprache wäre immerhin nutzbar gewesen, wozu man ihn aber hätte herausarbeiten müssen.

So schwindet die psychologische Tiefe des Werks, wir sehen Mann auf Bonsai gebracht. Seine Bisexualität war ihm durchaus ein Motiv, ein wichtiges sogar, doch das Konfliktuöse daran, das gesellschaftliche Tabu, hat den Dichter gar nicht so sehr interessiert. Entsprechend spielt es, wo Liebe von Mann zu Mann in den Werken Manns auftaucht, kaum eine Rolle. Der Autor zog vor, den Komplex in Philosophie zu verwanden. Zu weit war sein Blick, zu ziseliert seine Kunst, zu scharf sein Verstand, in die öden Kategorien der Diversitätstheologie zu passen. Krulls Liebe zu Männern und Frauen drückt eine Pansexualität aus, und in der ist eine ganze Welthaltung enthalten.

Diversity, wichtig, wenn es um die Befreiung des Subjekts von Vorschriften geht, für die gar keine Not besteht – zur Lebensphilosophie geweitet, macht sie dumm. So kann auch dieser Film dem Gegenstand nicht beikommen. Das tiefe Thema der Metamorphose im sich verwandelnden Felix bleibt unberührt, die Frage nach der Identität verschwindet im Komplex der Geschlechtsidentität. Wie viel weiter Woody Allen da mit »Zelig« schon war, und er hatte keinen Thomas Mann als Sprungbrett.

Der Film nimmt Mann nicht ernst, Mann seinen Helden schon. Nicht Schadenfreude, nicht Tadel, sondern Reflexion war sein Thema. Wir alle befinden uns ja permanent in einer Rolle, je nachdem, mit wem wir gerade verkehren, und selbst, wenn wir ganz allein mit uns verkehren. Jeder Mensch gibt beständig vor, mehr zu sein, als er ist. Und zwar genau deswegen, weil er tatsächlich mehr ist, als er jeweils vorgibt zu sein. In der Rolle wird typenhafte Reinheit gewonnen, die Vielfalt eines Charakters geht verloren.

Der Komplex ist zudem verwoben mit dem des Genies. Gerade hochbegabte Kinder müssen oft hören, dass man sie für Blender halte, was sie genau genommen auch sind. Die Fähigkeit, Worte der Erwachsenen schnell und geschickt sich anzueignen, sie in Sinn zu verwandeln, ist andererseits erstaunlich. Das Genie wäre gerade nicht das Wesen, das viel hat, sondern das, was aus wenig viel macht. Daraus kann die Überzeugung wachsen, aus »feinerem Holz geschnitzt zu sein« (wie Felix Krull es ausdrückt), es kann aber auch von einem Impostersyndrom begleitet sein, dem permanenten Glauben, eigentlich nicht verdient zu haben, was man geleistet hat (wovon bei Krull weniger zu sehen ist). Erwachsene, die Kinder für ihre Anpassungsarbeit tadeln, übersehen, dass Nachahmung die erste Form des Lernens ist, ein vorläufiger Ersatz für selbst erworbenes Wissen und eigene Lebenserfahrung.

Und jede ästhetische Schöpfung ist zugleich Ergebnis von Leistung und Blendung. Durch das Auffüllen unvermeidlicher Lücken vermittels Beredsamkeit, das Verdecken des Unstimmigen vermittels Glanz, den Entsatz mangelhafter Konsistenz vermittels Form. Drama wird von Dramaturgie zusammengehalten, mehr als von Ideenstruktur. Ein Kunstwerk trägt sich selbst, nur so kann es wirken, und sein Schöpfer wächst nicht nur in seinem Werk über sich hinaus, er macht sich damit immer größer, als er ist. Das Publikum indessen – das begreift Felix bei der Berührung mit der Theaterwelt – will die Illusion, es will getäuscht werden. In der Kunst, soll Gorgias gesagt haben, ist der Betrogene der Weise und der Betrüger der Rechtschaffene.

Der Preis von Krulls Fähigkeit, mit beinahe jedem warm zu werden, ist die Einsamkeit. Zum Schicksal des Verführers gehört die Entsagung. Krull bezaubert die Menschen, muss sich beständigen Bindungen allerdings entziehen. Seine Beziehungen sind von histrionischer Struktur, oberflächlich, inszeniert. Das ist folgerichtig, denn echte Bindung bedeutet den Verlust, weitere und andere einzugehen. Der Hochstapler stellt etwas dar, werden darf er es nicht. So wie der Künstler beim Abschluss eines Werks schon sein nächstes im Kopf hat.

Und noch in dieser Hinsicht sagt der Roman, leger im Vorbeigehen, mehr über sich als diese Dokumentation, die ja allen Raum gehabt hätte, über das Buch tief und breit zu werden. Krull versichert am Beginn des Buchs, dass alles, was er erzählen werde, die Wahrheit gewesen sein wird. Beteuerungen aus dem Mund eines Lügners. Die Erzählung macht sich dergestalt selbst zum Teil des Erzählten, zum Teil der Aktionen eines Hochstaplers. Und damit schon wieder ganz ehrlich. Buch siegt über Film.

»Die Bekenntnisse des Hochstaplers Thomas Mann«, Regie: André Schäfer, BRD 2024, 95 Min., bereits angelaufen

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