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Aus: Ausgabe vom 19.11.2024, Seite 12 / Thema
Westliche Sanktionen

Stotternde Maschine

Vorabdruck. Wer Sanktionen verhängt, muss sie auch durchsetzen können. Das aber gelingt den westlichen Nationen immer weniger. Die Abhängigkeit von China wächst
Von Manfred Sohn
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China ist für eine erfolgreiche Sanktionspolitik mittlerweile einfach zu einflussreich. Zu Gast bei der Weltmacht, diesmal nur im Gästehaus: Die Spitzen der EU, Ratspräsident Charles Michel und Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, mit Chinas Präsident Xi Jinping (Beijing, 7.12.2023)

In diesen Tagen erscheint im Kasseler Mangroven-Verlag Manfred Sohns Buch »Die Sanktionsmaschine – Eine Einführung«. Wir dokumentieren daraus mit freundlicher Genehmigung von Autor und Verlag einen redaktionell bearbeiteten Auszug aus dem Schlusskapitel »Das Zerbrechen der Sanktionsmaschine«. (jW)

Um zumindest eine Ahnung davon zu bekommen, wie tiefgreifend, dramatisch und rasant sich gegenwärtig die Kräfteverhältnisse auf unserem Globus verschieben, muss man noch nicht einmal zwingend Publikationen in der Tradition von Marx und Engels lesen. Wir können fast beliebig in den Stapel solcher selbsternannten Qualitätsmedien wie dem Londoner Economist oder der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) greifen. Die FAZ vom 8. Dezember 2023, Seite eins, verkündet per Schlagzeile »Biden: Republikaner beschenken Putin«. Berichtet wird dort über den Streit im US-amerikanischen Senat über weitere Milliardenhilfe für die militärisch gerade scheiternden ukrainischen Operationen gegen Russland. Nikolas Busse kommentiert unter der Überschrift »Überdehnte USA« den Vorgang mit den Worten, er sei »ein Signal des Prioritätenwechsels und der strategischen Erschöpfung einer seit langem überdehnten Weltmacht. In Berlin glauben noch viele, dass Amerikas Beistand auf alle Ewigkeiten gesichert sei. Aber wir leben nicht mehr im Kalten Krieg. (…) Auch in Deutschland müssen sich die Prioritäten ändern. Es will keiner hören, aber hier wird man bald zwischen Sozialstaat und Verteidigung wählen müssen.«

Empfang im Gästehaus

Unter diesem Artikel lesen wir die Schlagzeile »EU hält China unfairen Wettbewerb vor«, und wir werden verwiesen auf eine Reportage des FAZ-Reporters Jochen Stahnke aus Beijing, der gemeinsam mit seinem Brüsseler Kollegen Thomas Gutschker über das Martyrium der Spitzen der EU, Ratspräsident Charles Michel und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bei ihrem Besuch in der chinesischen Hauptstadt schreibt. Empfangen worden seien sie vom chinesischen Präsidenten Xi Jinping nicht wie bei Staatsbesuchen üblich in der »Großen Halle des Volkes«, sondern im »Staatsgästehaus Diaoyutai«, und Xi hätte für sie beim üblichen Foto noch nicht mal ein Lächeln übriggehabt. Wie sehr die Dinge ins Rutschen gekommen sind, macht nicht nur das Protokoll, sondern vielmehr eine Zahl deutlich, die in der Reportage erwähnt wird: »Da ist zum einen das gigantische Handelsdefizit, das sich in den vergangenen Jahren auf 400 Milliarden Euro verdoppelt hat.« Statt sich selbstkritisch zu fragen, was dazu führt, dass die 450 Millionen Menschen im europäischen Westzipfel zunehmend chinesische Waren – viele davon Hightechprodukte wie Laptops oder E-Autos – kaufen, aber die in China angebotenen Produkte von Unternehmen des alten Kontinents bei den 1,4 Milliarden Menschen dort auf so wenig Gegenliebe stoßen, jammert die Erbin alter Kolonialherren: »›Die europäischen Anführer werden es politisch nicht tolerieren können, dass unsere Industriebasis durch unfairen Wettbewerb untergraben wird‹, sagte von der Leyen am Ende des Tages. Sie sei froh‚ dass ›wir darin übereinstimmen, dass Handel ausgewogen sein sollte‹. (…) Europa verlangt von Beijing, dass es staatliche Subventionen vermindert und vor allem seine Überkapazitäten abbaut.«

Diese Worte muss man sich auf der Zunge zergehen lassen: Die EU-Kommissionspräsidentin will, dass die Volksrepublik China ihre eigenen Fabriken verkleinert, damit die in Europa wieder wie vor 150, 100 oder 50 Jahren aufblühen und ihre Produkte in der ganzen Welt zu Geld machen können. Geträumt wird immer noch davon, dass China nicht von »europäischer Hochtechnologie (…) abgeschnitten werden wolle«, obwohl die Lektüre der eigenen Zeitung die beiden FAZ-Journalisten davon überzeugen würde, dass die chinesische Hochtechnologie von E-Autos über Solarzellen bis hin zu Wärmepumpen sowie von der Weltraumtechnologie bis zu Windkrafträdern der europäischen Technologie inzwischen nicht mehr hinterherhinkt, sondern ihr um Jahre voraus ist – was die erwähnten 400 Milliarden Euro Handelsdefizit ja zum erheblichen Teil erklärt.

Bei so viel Unterlegenheit, protokollarischer Demütigung und angsterfüllter Defensive hilft nur noch drohendes Knurren von unten: Man habe »deutlich gemacht«, wird Michel referiert, »wie wichtig es sei, dass China Russland nicht bei der Umgehung von Sanktionen helfe. Die EU habe eine Liste verdächtiger Unternehmen zusammengestellt – sie wurde der chinesischen Seite übergeben und soll etwa ein Dutzend Unternehmen enthalten. Es sei wichtig, ›dass sie handeln, nachdem wir ihnen die Beweise vorgelegt haben‹, sagte von der Leyen. Andernfalls könnte die Europäische Union im zwölften Sanktionspaket gegen Russland erstmals auch Handelssperren gegen Unternehmen aus Festland-China verhängen.«

Der Hauptgrund für die Wirkungslosigkeit der westlichen Sanktionspolitik gegen Russland ist die Unfähigkeit, trotz aller Versuche das von den Staatsoberhäuptern Chinas und Russlands mehrfach als »strategische Partnerschaft« bezeichnete Bündnis zwischen den beiden Ländern aufzubrechen. Auch unterhalb des großen internationalen Parketts entwickelt sich diese Partnerschaft: Im Oktober 2023 berichtete Reuters von einer »regionalen Konferenz im Nordosten der Volksrepublik (…) in der Provinz Liaoning«, an der rund 800 chinesische Unternehmen teilgenommen hätten, die auf dem russischen Markt »Fuß fassen wollen«. (jW, 24.10.2023) Umgekehrt hätten sich allein von Januar bis September 40 russische Firmen in Liaoning niedergelassen.

Die abenteuerlichsten Kräfte innerhalb des herrschenden Blocks in den USA und der EU antworten auf diese gravierenden Verschiebungen mit dem Vorschlag, dann eben auch China vollumfänglich in die Sanktionspolitik einzubeziehen. Die Entstehung der modernen Sanktionspolitik ist eng mit der Debatte um die – aus der Sicht der Sanktionierenden – Legitimität der Neutralität verknüpft. Wer als Wirtschaftsblock – damals das britische Empire – über einen anderen Wirtschaftsblock – damals Deutschland und Österreich-Ungarn – eine Blockade oder Sanktionen verhängt, muss auch dafür sorgen können, dass Dritte diese Blockade nicht ständig straflos durchbrechen. Primärsanktionen sind ohne Sekundärsanktionen wirkungslos. Neutralität ist ein Feind der Sanktionen.

»Gemeine Sanktionsverräter«

Seit Mitte 2022 hat sich von Quartal zu Quartal der Trend der Isolation nicht Russlands, sondern des Wertewestens verstärkt. Das Sanktionsregime des alten Westens kommt sichtbar an seine Grenze, und es zeigt sich, dass auch in der Politik die Erfahrung jedes Strandläufers gilt: Auch jede noch so bedrohlich sich auftürmende, riesig erscheinende Welle bricht irgendwann und versickert im Sand. Dieser Moment scheint nicht mehr so weit entfernt.

Der Preisdeckel gegen den wichtigsten russischen Devisenbringer Erdöl hat sich als »Eigentor« (FAZ, 20.2.2023) erwiesen. Deutschland flucht nicht nur gegenüber Indien, das seine Handelsbeziehungen zu Russland seit dem Februar 2022 nicht verringert, sondern sprunghaft ausgeweitet hat, sondern beschimpft auch Italien und die Türkei in noch aus ganz düsteren Zeiten bekannter Manier als »gemeine Sanktionsverräter« (jW, 4.10.2023), da beide ihre Kupferimporte aus Russland über den eigenen Bedarf hinaus, also mit dem Ziel des Weiterverkaufs in andere Länder, gesteigert hätten und so die Sanktionspolitik gegen Putins Reich unterlaufen würden. Der niederländische Schiffsbauer Damen Shipyards entschloss sich sogar – in völliger Verkennung seiner nationalen Pflichten – zu einer Klage gegenüber dem niederländischen Staat, weil ihm durch die EU-Sanktionspolitik Millionengewinne aus Geschäften entgangen seien, die er vor dem 24. Februar 2022 mit russischen Firmen vereinbart hatte. Der Kampf um die Aufrechterhaltung des Sanktionsregimes nimmt zum Teil verzweifelte, zum Teil groteske Züge an. Im September 2023 reiste eine hochrangige Delegation aus den USA, Großbritannien und der EU in die Vereinigten Arabischen Emirate, mit dem erklärten Ziel, diese aufzufordern, die »gegen Russland verhängten Strafmaßnahmen einzuhalten.« (jW, 9./10.09.2023) In einem bezeichnenden Bild sitzt eine eifernde EU-Kommissionspräsidentin einem ironisch-aufmerksam lächelnden Mohamed bin Zayed gegenüber, an dem nicht nur ausweislich dieses Fotos, sondern auch ausweislich der sich an den Besuch anschließenden Erklärungen und Handlungen alle diese Aufforderungen abperlen – wie eben auch der vermutlich viel freundlichere Besuch von Wladimir Putin in Abu Dhabi im Dezember desselben Jahres beweist.

Der Sanktionswesten ist von Schlupflöchern umzingelt – selbst innerhalb der eigenen Grenzen. Nicht nur Italien und Ungarn tanzen, wann immer sie können, aus der Reihe. Auch die Schweiz spielt den Blockadebrecher, wie die FAZ am 9. September 2023 auf einer ganzen Zeitungsseite unter dem Titel »Ein Grüezi für die Oligarchen« über den Kanton Zug berichtet, der frustriert so endet: »Der Rundgang zu russischen Firmen in Zug wird noch weiter fortgesetzt, doch Josef Lang fasst ein Fazit. Es sei ein Ablenkungsmanöver, die Debatte über die Schweizer Neutralität an der Frage von Waffen- und Munitionslieferungen aufzuhängen. Denn wichtiger sei die Rolle der Schweiz als ›Zentrum des ökonomischen Putinismus‹. Durch den Handel mit russischen Rohstoffen flössen Milliarden über das Land und speziell über den Kanton Zug, die letztlich Putins Kriegskasse füllen.«

Es klingt wie eine Tautologie, ist es aber nicht: Sanktionen kann nur verhängen, wer sanktionsfähig ist. Sie gehen auf das lateinische Wort »sancire« zurück – festsetzen, verbieten. Wer keine Kraft hat, etwas zu verbieten, es aber dann trotzdem versucht, wird nicht stärker, sondern schwächer. Sanktionen, die nicht durchgesetzt werden können, unterspülen die Position des Sanktionierenden, so wie Wasser eine Festung unterspült, egal wie drohend sie in der Landschaft steht.

Die vom Westen verhängten Sanktionen beschleunigen dessen Niedergang, statt ihn zu bremsen. Das Wasser, das seine Festungen unterspült, gluckst zumindest an zwei Stellen zunehmend an die Oberfläche.

»Tendenz sinkend«

So unterspült es zunehmend eine der wichtigsten Institutionen. Die »G7«, bis in die 1990er Jahre das Zentrum weltpolitisch wirksamer Entscheidungen, verliert rasant an Durchsetzungskraft. Am 20. Mai 2023 veröffentlichte der Economist eine Grafik, die das schlagend deutlich macht: 1992 wurden in den G7-Staaten noch fast 50 Prozent des weltweiten Bruttoinlandsprodukts, gerechnet nach Kaufkraftparität, hergestellt. Inzwischen sind es nur noch 30 Prozent mit weiter abnehmender Tendenz. Die BRICS-Staaten, die 1992 noch unter 20 Prozent des Bruttoinlandprodukts erwirtschafteten, haben inzwischen die G7 überholt, liegen bei knapp über 30 Prozent, und von diesem Jahr an, so prognostiziert das Londoner Blatt, werde sich die Schere zugunsten der um China und Russland und zuungunsten der um die USA und EU herum gruppierten Staatengruppe öffnen. Noch zugespitzter formulierte es am 22. Mai 2023 Julia Löhr von der FAZ in ihrer Kommentierung des G7-Gipfels in Hiroshima, in der sie die Frage stellte, »wie zeitgemäß die Institution des G7-Gipfels noch ist. Als sich die Gruppe 1975 gründete, stand sie noch für rund 60 Prozent der weltweiten Wirtschaftsleistung. Nun sind es noch 31 Prozent, Tendenz sinkend. Von den ›führenden Industrienationen‹ kann nur noch die Rede sein, wenn man die Zusätze ›westlich‹ und ›demokratisch‹ hinzufügt. Es mag weiter der Anspruch der G7 sein, die Weltordnung zu prägen. Erfüllen können sie ihn immer weniger.« Die größte Freihandelszone, fügt sie hinzu, seien heutzutage weder die EU noch die NAFTA (North American Free Trade Area), sondern die 15 in der RCEP (Regional Comprehensive Economic Partnership) zusammengeschlossenen Länder der Asien-Pazifik-Region – und da seien sowohl die USA als auch die EU außen vor.

Auch aus Regionen, die früher einmal als Hinterhof der USA galten und noch früher Kolonien Spaniens, Großbritanniens und Portugals waren, also aus Südamerika, häufen sich die in Washington und Brüssel eingehenden schlechten Meldungen, insbesondere angesichts des drohenden Scheiterns des jahrelang verhandelten EU-Mercosur-Handelsabkommens und der zunehmenden Hinwendung der Mercosur-Länder nach China.

»Opfer der Multipolarität«

Es verbessert die Lage der von Washington dirigierten G7-Staaten nicht, dass sich parallel zum BRICS-Bündnis eine weitere Gruppierung gebildet hat, die sich – wohl nicht ohne Absicht das G7-Kürzel aufgreifend – als »G77« im September in Havanna getroffen hat. Ihr gehören mittlerweile 134 Staaten und damit zwei Drittel aller UN-Mitglieder an – und das ohne China, das eng mit der G77 kooperiert. Zusammen mit China leben in diesen G77-Staaten 80 Prozent der Weltbevölkerung. Kein einziger der G7-Staaten gehört der Gruppierung an, aber mit den BRICS-Ländern ist sie institutionell und über eine Fülle bilateraler Gesprächsebenen und Vereinbarungen verknüpft. Auf diesen Treffen spielte die übereinstimmende Ablehnung der westlichen Sanktionspolitik eine solch überragende Rolle, dass das Leiden unter der westlichen Sanktionsmaschine in gewisser Weise als das einigende Band dieser überwältigenden Mehrheit auf unserem Globus betrachtet werden kann. Die zunehmende Koordination dieser Länder wird über kurz oder lang auch bis in UN-Gremien und -Vollversammlungen durchschlagen. Zerrieben werden dabei andere, im nachhinein eher hilflose Versuche des alten Zentrums, zu retten, was zu retten ist, indem beispielsweise die G20-Gruppe die Führung der USA und EU zwar aufrechterhalten, ihr aber mehr globalen Resonanzboden verschaffen müsste. Sie sei inzwischen, kommentierte Nikolas Busse am 9. September in der FAZ, ein »Opfer der Multipolarität« geworden, und er resümierte angesichts des kläglichen Resultats der letzten Zusammenkunft in Neu-Delhi, »dass der Westen bei vielen Themen international in der Defensive ist. Gerade in Berlin ist das noch nicht bei allen angekommen. Es wird die Spielräume der deutschen Außenpolitik aber weiter beschneiden.«

Die sich im Lager der (noch) herrschenden Sanktionsmächte abzeichnende Defensivstrategie wird mit einem Problem konfrontiert werden, das ihre Festung noch stärker unterspülen wird als die Bildung solcher Bündnisse wie BRICS oder G77. Auf dem bereits erwähnten Gipfel dieser Gruppe in Havanna standen neben den Sanktionen das internationale Finanzsystem und mögliche Alternativen im Mittelpunkt der Beratungen. Das Missverhältnis zwischen den G7 und den BRICS bzw. den G77 verdeutlichte Jörg Kronauer am 18. September in der jungen Welt so: »In den Bretton-Woods-Institutionen spielen sie keine Rolle: Eine kleine Staatengruppe, die G7, hat sich allein 41,25 Prozent der Stimmen im IWF gesichert und durchgesetzt, dass die Präsidenten von Weltbank und IWF nie aus einem G77-Land kommen.«

Alternativen zum Dollar

Sowohl von den G77 als auch von der BRICS-Gruppe wird daher zunehmend eine Alternative zur Herrschaft des US-Dollars ins Auge gefasst. Diese Suche hat sich durch die Sanktionspolitik seit Anfang 2022 erheblich beschleunigt, in deren Gefolge Milliardenguthaben beispielsweise der russischen Staatsbank beschlagnahmt und sowohl dieses als auch andere Länder aus dem vom US-Dollar beherrschten internationalen Zahlungssystem SWIFT ausgeschlossen wurden. Diese damals noch als finanzpolitische »Nuklearwaffe« gepriesene Maßnahme hat nicht wirklich gezündet – sie hat lediglich den Aufbau alternativer internationaler Zahlungssysteme und die stärkere Etablierung direkter Verrechnungen der russischen mit der indischen oder chinesischen Währung anstelle der früher üblichen US-Dollar-Errechnung beschleunigt. Nach wie vor werden zwar 58 Prozent aller Währungsreserven in US-Dollar gehalten und weit über 80 Prozent aller Finanztransaktionen in US-Dollar abgewickelt – aber beide Werte sinken. »Die Dominanz des Dollars« sei zwar noch nicht in Gefahr, stellte am 29. April 2024 der Economist fest, aber es würden zunehmend die Grenzen dieser Dominanz sichtbar werden. Einer der Gründe, warum die USA von Sekundärsanktionen – also Verhängung von Sanktionen gegen Indien oder China, die die Sanktionen gegen Russland unterlaufen – abgesehen haben, sei der warnende Hinweis des US-amerikanischen Fed gewesen, das würde die weltweite Abkehr vom US-Dollar als Leitwährung beschleunigen und damit das gesamte US-amerikanische Finanzsystem untergraben. Janet Yellen, US-Finanzministerin, wird mit den Worten zitiert, dass »auf Dauer Sanktionen die Vorherrschaft der Währung unterminieren könnten«.

Im übrigen ist im Windschatten dieser tektonischen Verschiebungen völlig unbeachtet von den herrschenden Medien dieser Welt eine andere Seifenblase still und leise geplatzt: der Traum vom Euro als ebenbürtiger weltweiter Leitwährung neben und irgendwann vielleicht sogar vor dem US-Dollar. Bei seiner Gründung vor gut 20 Jahren waren die deutschen Taufpaten noch voll solcher Zukunftshoffnungen. Sie sind inzwischen Asche. Wenn überhaupt von einer Alternative zum US-Dollar gesprochen wird, dann wird – nach einer langen Phase vor allem direkter Bezahlungen in den Landeswährungen der handelnden Länder – an Renminbi Yuan oder eine von den BRICS-Staaten organisierte gemeinsame Verrechnungseinheit gedacht und nicht an den zunehmend ins Abseits driftenden Euro.

»Ohne China geht es nicht«

Das Spannungsfeld, in dem die Sanktionspolitik des Wertewestens und besonders ausgeprägt die Deutschlands und der von ihr geprägten EU seit Monaten hin und her schwankt, ist durch Schlagzeilen der FAZ beschreibbar: Am 14. November 2023 titelte das Blatt auf Seite eins: »Vor allem China umgeht EU-Sanktionen« und sieben Monate zuvor: »Ohne China geht es nicht.« Und der oben bereits wiedergegebene Kommentar von Julia Löhr zum Bedeutungsverlust der G7-Staaten trägt die Überschrift »An China führt kein Weg vorbei«.

China dominiert inzwischen weltweit nicht nur den Automobilmarkt, sondern auch den Bereich, der das Kernstück der offiziellen deutschen Politik bildet, die ökologische Wende, denn, so die FAZ am 14. April 2023, »viele der für die Transformation nötigen Produkte und Rohstoffe kommen aus China. ›China dominiert den Markt für Photovoltaik‹, sagt Alexander Sandkamp, Außenhandelsexperte am Kieler Institut für Weltwirtschaft (IfW). ›Wenn die Einfuhren von dort versiegen würden, dann würde die Energiewende hier erst mal nicht weitergehen.‹ Höhere Produktionskapazitäten in Deutschland allein können dieses Problem nicht lösen, denn auch der Rohstoff Silizium komme zu zwei Dritteln aus China. ›Ähnlich sieht es bei den seltenen Erden aus. Falls wir die nicht mehr bekämen, könnten wir keine Windräder mehr bauen. Null.‹ (…) 87 Prozent der im vergangenen Jahr nach Deutschland importierten Photovoltaikanlagen kamen nach Angaben des Statistischen Bundesamtes aus China. (…) Das für Batterien (…) benötigte Magnesium bezog Deutschland (…) zuletzt zu 50 Prozent aus China.« Seiten ließen sich füllen mit ähnlichen Daten – aber jeder kann ja auch selbst zu Aldi oder zu einem Elektrowarenmarkt gehen und versuchen, dort irgendeinen technischen Gegenstand oder ein Spielzeug zu kaufen, auf dem nicht »Made in China« steht.

In dem FAZ-Kommentar vom 9. Mai 2023 frohlockte Nikolas Busse, »Das nächste Tabu fällt«, und verkündete, die EU-Kommission schlage »neue Sanktionen gegen eine Reihe von Firmen aus Drittstaaten vor, die im Verdacht stehen, Russlands Krieg in der Ukraine zu unterstützen. Mit solchen sogenannten Sekundärsanktionen arbeiteten bisher vor allem die Vereinigten Staaten. Soweit sie europäische Firmen betrafen, betrachtete die EU sie sogar als völkerrechtswidrig. Putin erzwingt nun auch hier eine realpolitische Neuausrichtung. Ein Land sticht auf der Brüsseler Liste hervor: China. (…) Auch die deutsche Industrie sollte nicht darauf setzen, dass die EU in jedem Fall den Geschäften den Vorzug gibt.«

Bisher haben die feuchten Finger der europäischen Regierungen diese davon abgehalten, den Scharfmachern wie Herrn Busse zu folgen. Zwar hatte die EU auch schon vor 2022 gegen China immer mal wieder mit dem Sanktionsbesen gewedelt, etwa wegen angeblicher Menschenrechtsverstöße in Yinjiang. Aber die Sanktionswelle, die gegen Russland in Gang gesetzt wurde, auch gegen Beijing loszutreten, wagt man sich zur Zeit weder in Washington noch in Berlin oder Brüssel. Das liegt nicht nur an der sonst gefährdeten Rohstoffversorgung, sondern zunehmend an der Abhängigkeit von Hightechprodukten aus China und der sich langsam auch in deutsche Gehirne einsickernden Einsicht, dass die chinesischen Unternehmen – ob staatlich oder privat – nicht nur billiger, sondern immer häufiger auch besser produzieren. Das ist auch kein Wunder – allein in Shanghai leben und arbeiten mehr Ingenieure als in der ganzen Bundesrepublik Deutschland.

Die EU wird nicht in der Lage sein, eine Aufgabe zu bewältigen, an der schon der große Bruder jenseits des großen Wassers gescheitert ist. Da werden weder Sanktionslisten noch Strafzölle wie jetzt bei Elektroautos helfen. Am 12. August 2023 veröffentlichte der Economist eine umfassende Untersuchung über die Lieferströme zwischen den beiden größten Volkswirtschaften der Welt. Der direkte Handel sei zwar, wie von US-Präsident Joe Biden lauthals verkündet, drastisch zurückgegangen – unter anderem wegen der schon von seinem Vorgänger erhobenen Zölle gegen chinesische Produkte. Das Ergebnis, so die Londoner Ökonomen, sei aber »teuer und gefährlich«. Parallel zum Rückgang der Importe aus China seien die aus anderen asiatischen Ländern und auch aus Ländern in Osteuropa oder Mittel- und Lateinamerika gestiegen – wobei gleichzeitig deren Importe aus China anstiegen. Chinas Exporte von Fahrzeugteilen nach Mexiko hätten sich in den letzten fünf Jahren mehr als verdoppelt, und entsprechende Zahlen aus Indien, Vietnam und anderen Ländern seien teilweise regelrecht »explodiert«. »Was ist da los?« fragt das Blatt und gibt gleich die Antwort: »Chinesische Waren werden einfach neu verpackt und über ein Drittland in die USA exportiert.«

Extraprofite dank Zöllen

Weil die Strafzölle gegen China keine Geltung gegenüber Indien und anderen Ländern haben, die gegen China hofiert werden, bekommen die dortigen Unternehmer faktisch eine Extragewinnmarge aus Washington geliefert: Bei einem zwanzigprozentigen Zoll können sie auf chinesische Waren zehn Prozent draufschlagen und in die USA importieren. So haben sowohl die chinesischen Unternehmen als auch die indischen etwas davon, wenn die US-Amerikaner für chinesische Waren nun mehr zahlen. Das Ergebnis ist, »dass die ökonomischen Beziehungen zwischen China und anderen in die USA exportierenden Ländern gestärkt werden.«

Die EU wird mit ihren Strafzöllen vermutlich demnächst eine ähnliche Erfahrung machen. Der Renault 5 fährt mit einer chinesischen Batterie, die dann auf eine neue Verpackung wartet.

Besonnenere Kräfte im Westen realisieren darüber hinaus, dass sich auch auf dem Feld der Wissenschaft die Windrichtung zu ändern beginnt. Am 14. Oktober 2023 warnte der Economist die Regierung der USA davor, das 1979 abgeschlossene »Science and Technology Agreement« zu zerstören, auf dessen Basis eine Reihe von gemeinsamen US-amerikanischen und chinesischen Forschungsprojekten operiert. Es wäre ein »Fehler«, führt das Blatt aus, »zu denken, die Vorteile der Kooperation wären eine Einbahnstraße. Chinesische Wissenschaftler sind in einigen Feldern denen Amerikas nicht nur ebenbürtig, sondern sogar überlegen, wie bei Batterien, Telekommunikation und Nanowissenschaften. Und weil Chinas Forschungslandschaft nach außen viel verschlossener ist als die Amerikas, könnte Uncle Sam mehr davon haben, über den Zaun zu schauen als die Chinesen.«

Was für die USA gilt, gilt um so mehr für die EU und ihre größte Volkswirtschaft. Wer sich 2024 noch an die in der Adventszeit über Deutschland hereinbrechende erneute PISA-Bestätigung über den Niedergang des deutschen Schulwesens erinnert, wird ahnen, dass sich der Abstand zwischen dem, was chinesische Ingenieure in den nächsten Jahrzehnten entwickeln werden, zu dem, was ihre deutschen Kollegen in die Welt bringen, nicht verringern, sondern vergrößern wird.

Deshalb wird es, wenn es noch einen Rest Vernunft in der Politik der USA und EU gibt, gegenüber China bei eher symbolischen Sanktionen bleiben, die eher auf das heimische Publikum als darauf zielen, die schmerzliche Erfahrung mit den russischen Sanktionen in einem noch größeren Maßstab zu wiederholen.

Manfred Sohn: »Die Sanktionsmaschine – Eine Einführung«. Mangroven-Verlag, Kassel 2024, 131 Seiten, 25 Euro

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Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Joachim S. aus Berlin (19. November 2024 um 06:17 Uhr)
    Das ist eben das wirklich Bedeutsame: Auch in der Politik entwickelt sich die Welt dialektisch. Alles enthält eben auch sein Gegenteil. Natürlich wackelt der Tisch umso heftiger, je stärker man draufhaut. Allerdings nehmen auch die Schmerzen in der Hand zu, die das veranstaltet. Und zum Schluss kann es sogar passieren, dass nicht die Tischplatte bricht, sondern die Hand. Manfred Sohn hat wunderbar dargestellt, dass der Westen gerade dabei ist, das wieder einmal nachzuweisen.
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Heinrich H. aus Stadum (18. November 2024 um 23:07 Uhr)
    Das ist des Pudels Kern: »wenn es noch einen Rest Vernunft in der Politik der USA und EU gibt«. Gibt es noch einen?

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