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Aus: Ausgabe vom 19.11.2024, Seite 3 / Schwerpunkt
Ukraine-Krieg

Ein Ende nicht abzusehen

Nach 1.000 Tagen Krieg deutet wenig auf einen baldigen Waffenstillstand oder gar Frieden in der Ukraine hin. Obwohl alles dafür spräche
Von Reinhard Lauterbach
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Kriegsziele bisher nicht erreicht. Per Plakat ruft Wladimir Putin die Bevölkerung der Krim zur Unterstützung Russlands auf

Dieser Dienstag ist der 1.000. Tag, seit Wladimir Putin am 24. Februar 2022 die »militärische Spezialoperation« in der Ukraine eröffnete. Der russische Terminus ist ein Euphemismus, um den größten Krieg auf europäischem Boden seit 1945 nicht als solchen bezeichnen zu müssen, obwohl russische Kommentatoren, indem sie die Geschehnisse in der Ukraine mit denen des Zweiten Weltkriegs vergleichen, den beschönigenden Charakter dieser Benennung selbst einräumen: denn den vergangenen Krieg nennen sie schließlich auch nicht »Große Vaterländische Spezialoperation«.

Politisch haben in diesen 1.000 Tagen Krieg weder Russland noch die Ukraine ihre Ziele erreicht: Russland nicht die »Denazifizierung« und »Entmilitarisierung« der Ukraine oder den dauerhaften Verzicht Kiews auf die Eingliederung in die NATO; die Ukrai­ne nur soviel, dass sie nach wie vor existiert und sich – hochgepäppelt mit westlichen Militär- und Finanzhilfen – hinhaltend verteidigt. Von der Rückgewinnung der seit 2022 oder auch 2014 an Russland verlorenen Gebietsanteile oder auch nur der Aussicht hierauf kann zum jetzigen Stand keine Rede sein.

Russland hält gegenwärtig etwa 20 Prozent des ukrainischen Territoriums der Vorkriegszeit besetzt: die Krim, den überwiegenden Teil des Donbass, einen einige Dutzend Kilometer tiefen Geländestreifen entlang der Nordküste des Asowschen Meeres und entlang des linken Ufers des Dnipro. Dieser ist faktisch zur natürlichen Barriere zwischen den beiden Armeen geworden, seitdem sich Russland im Spätherbst 2022 aus der am rechten Flussufer gelegenen Stadt Cherson und deren Umgebung hatte zurückziehen müssen, weil ukrai­nischer Beschuss die existierenden Brücken zerstört und damit die Nachschubrouten unterbrochen hatte. Auch im Norden der Ukraine musste Russland in den ersten Kriegstagen handstreichartig erobertes Gelände im Bezirk Charkiw im Herbst 2022 wieder aufgeben, ebenso Teile des Kiewer Gebiets, das Russland in den ersten Kriegstagen erobert hatte, aber dann nicht hatte halten können. Von russischer Seite heißt es heute dazu, die Räumung des nördlichen und westlichen Kiewer Umlands sei eine Geste des guten Willens gewesen, um der Ukraine den Abschluss des in Minsk und Istanbul ausgehandelten Friedensabkommens zu erleichtern. Ob das mehr ist als die Klage des Fuchses über die angeblich ohnehin sauren Trauben, ist unklar.

Umgekehrt hat Russland die Lektion des mäßig erfolgreichen ersten Kriegsjahres zügig ausgewertet und die mit großen Erwartungen gestartete ukrainische Sommeroffensive 2023 zum Scheitern gebracht. Die Kiewer Einheiten liefen sich unter hohen Verlusten in den tiefgestaffelten Minenfeldern und Befestigungen fest, die die russische Armee vor allem in den Frontabschnitten nördlich des Asowschen Meeres angelegt hatte. Zum heutigen Zeitpunkt sind die geringfügigen ukrainischen Geländegewinne im Zuge dieser Offensive durch russische Gegenangriffe wieder wettgemacht. Auch der ukrainische Vorstoß ins grenznahe russische Gebiet Kursk hat Kiew nicht die erhoffte militärische Entlastung gebracht.

Generell haben sich Erwartungen eines Bewegungskriegs wie im Zweiten Weltkrieg als unrichtig erwiesen, einzig die ukrainische Offensive östlich von Charkiw im Herbst 2022 war ansatzweise damit zu vergleichen. Im großen und ganzen aber war der Kriegsverlauf durch monatelange Stellungskämpfe vor allem in den dicht urbanisierten Regionen des Donbass gekennzeichnet. Dabei war die Ukraine lange Zeit im Vorteil, weil sie sich in den Plattenbauhochhäusern und Industriebetrieben der Städte verschanzen konnte. Die entscheidenden Waffensysteme sind dabei nicht wie im Zweiten Weltkrieg die Panzer, sondern einerseits Artillerie und andererseits Drohnen. Gegen diese relativ billig herzustellenden unbemannten Objekte haben sich Panzer in den ersten Kriegswochen als verwundbar erwiesen und wurden daher auch mehr und mehr von der Front abgezogen. Einen großen taktischen Vorteil verschafften Russland die Gleitbomben, die mit geringem Aufwand aus sowjetischen Altbeständen modernisiert wurden und von Flugzeugen aus Positionen mehrere Dutzend Kilometer hinter der Front abgeschossen und satellitengestützt auf ukrainische Stellungen gelenkt werden. Diesen Waffen hat die Ukraine nichts Gleichwertiges entgegenzusetzen.

Die Verluste beider Seiten sind hoch; jede Seite nennt Zahlen für die Gegenseite, die nicht unabhängig zu überprüfen sind, aber auf jeweils bis zu einer halben Million Gefallener und Schwerverletzter hinauslaufen. Keine Seite beziffert die eigenen Verluste, sie können nur indirekt aus offenen Daten wie zum Beispiel Erweiterungen von Friedhöfen im Hinterland geschätzt werden. Dabei ist klar, dass Russland mit seiner dreimal größeren Bevölkerung Verluste einfacher »wegstecken« kann als die Ukraine, deren Rekrutierungsbemühungen durch Korruption, massenhafte Desertion und Flucht Wehrpflichtiger ins Ausland beeinträchtigt werden. Aus Russland sind ähnliche Erscheinungen mit Ausnahme der Ausreise einiger zehntausend potentieller Rekruten zur Zeit der Teilmobilisierung im Herbst 2022 nicht bekannt geworden.

Die industrielle und energiewirtschaftliche Infrastruktur der Ukraine ist durch russische Bombardements und Raketenangriffe schwer in Mitleidenschaft gezogen worden; mindestens 70 Prozent der Wärmekraftwerke sind zum Beispiel zerstört, und jede neue Angriffswelle – wie zuletzt am vergangenen Wochenende – reißt neue Lücken in die Stromversorgung. Wie machtlos letzten Endes die Ukraine gegenüber diesem »Energiekrieg« ist, zeigt der Umstand, dass die letzten offiziellen Szenarien zur Energieversorgung sich in Abhängigkeit von dem menschlich nicht zu beeinflussenden Faktor unterscheiden – nämlich wie kalt der bevorstehende Winter wird.

Hintergrund: Trumps Vorschlag

Er wolle den russisch-ukrainischen Krieg innerhalb von 24 Stunden beenden und die beiden Parteien »an den Verhandlungstisch setzen«, hat Donald Trump im Wahlkampf erklärt. Was daran Rhetorik ist und was ernstgemeint, weiß einstweilen niemand. Russland hat denn auch sofort erklärt, so schnell wie von ihm behauptet, gehe das jedenfalls nicht. Die am häufigsten debattierte Variante ist ein »Take it or leave it«-Frieden entlang der Frontlinie zum Stichtag. Kombiniert mit der möglichen Drohung Trumps, der Ukraine mehr Waffen und diese zum unbeschränkten Gebrauch zu liefern, falls Russland ablehnen sollte. Aber eine solche Lösung wäre für Russland mit Sicherheit nicht zu akzeptieren. Denn irgendwelche Territorien sind nicht Moskaus primäres Kriegsziel, auch wenn sich Russland durch die faktische Annexion von Teilen der Ukrai­ne ins eigene Staatsgebiet an dieser Stelle selbst die Hände gebunden hat. Ziel ist der dauerhafte Ausschluss der Aufnahme der Ukraine in die NATO. Auch wenn Trump, wie es einige Medien berichten, ein 20jähriges Moratorium für diese Aufnahme vorschlagen sollte, würde dies aus russischer Sicht das Problem lediglich vertagen. Eine in 20 Jahren hochgerüstete Ukraine ist mit Sicherheit nicht das, was Wladimir Putin seinem Nachfolger hinterlassen will. Eine andere Sache ist die Kriegsbereitschaft der EU. Bekannt ist, dass Trump die Kosten der Unterstützung der Ukraine der EU überwälzen will. Es wäre logisch, dass Brüssel sagt: wenn schon die Kosten, dann bitte auch die Profite. Als Prämie könnte sich Brüssel ausrechnen, durch »prinzipienfeste« Ukraine-Unterstützung den USA die Nutzung der ukrai­nischen Bodenschätze wegzuschnappen. Doch das ist so illusorisch wie gefährlich: das angebliche Friedensprojekt EU als Speerspitze des Stellvertreterkrieges gegen Russland, und dies auf absehbare Zeit ohne die Ressourcen für diesen Konflikt. An letzterem wird freilich gearbeitet. (rl)

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