Nachtkrapp in Afrika
Von André DahlmeyerKrieg bedeutet Frieden und Abschiebung einen kontemplativen Gratisurlaub (One-Way-Ticket) in vermeintlich exotischen Ländern, Folter inklusive. Auch Deutschland ist längst wieder so weit und also bereit für massenhafte Abschiebungen alles Nichtdeutschen, also unwerten Lebens. Die Syrerkinder klauen uns die letzten Brotkrumen vom Teller, und andere Araber jagen mit wildem Auf-sie-mit-Geschrei-Affenlauten im Rudel jeden deutschen Rock, der nicht bei drei auf den Bäumen ist, salbadert der gemeine deutsche Schwachschädel. Von linksliberal-alternativ bis AfD ist man sich einig: Deutschland den Deutschen, Ausländer raus!
Wenn schon Abschiebungen, warum dann nicht gleich richtig? Für den exportierten Plastikmüll hat die deutsche Bundesrepublik ja auch mit quasi religiöser Pünktlichkeit monetäre Ströme nach Indonesien fließen lassen. Die Indonesier bedankten sich dafür mit horrenden Einkäufen bei der deutschen Rüstungsindustrie. Eine bellizistische Gier, die unermesslich zu sein scheint. Warum nicht Schwerverbrecher und andere Sexualstraftäter nebst der ganzen Naziklitsche einfach nach Indonesien ausweisen und per Mausklick Bitcoin-Bakschisch mit vielen Nullen hinterherjagen?
Bei Nautilus in Hamburg ist der dritte Roman von Sven Recker erschienen. Auch darin geht es um Flucht, Abschiebung und den ganzen Driss. Mit dem Unterschied, dass es das Schicksal hier schlecht mit Deutschen meint. Recker orientiert sich an einem außerhalb Badens wohl kaum bekannten historischen Stoff, den er fiktionalisierend weiterspinnt. Er macht das ganz hervorragend, entführt uns nach Pfaffenweiler bei Freiburg ins Markgräflerland, wo es im 19. Jahrhundert aufgrund von Missernten und politischen Unruhen zur Verelendung der unteren Schichten, also vor allem der Tagelöhner, kam. Um ihre Dorfarmen loszuwerden, nötigen der Bürgermeister und der Gemeinderat von Pfaffenhofen 23 Familien, insgesamt 132 Menschen zwischen zirka zwei und 70 Jahren, mit viel krimineller Energie zur Auswanderung in die französische Kolonie Algerien, wo ihnen blühende Landschaften und grenzenloser Wohlstand in Aussicht gestellt werden. Natürlich muss Pfaffenweiler diese Abschiebungen auch bezahlen. Finanziert wird das kriminelle Werk mit der Abholzung eines Waldstücks, dessen Böden danach als Rebflächen verpachtet werden. Den neuen Weinberg nennen die neuen Dorfbonzen dann »Afrika«. Eine wahre und doch unglaubliche Geschichte. An den Fakten ist nicht zu rütteln.
Mitte Dezember 1853 startet der beschwerliche Weg nach Marseille, zunächst mit Kutschen, überwiegend entpuppt sich das Ganze jedoch als Fuß- respektive Todesmarsch für die Badenser Wirtschaftsflüchtlinge. Darunter befindet sich auch der 15jährige Franz Xaver Luhr mit seiner Mutter. Der Vater hatte es einst nach Amerika versucht und war über den Jordan gegangen.
Man möchte wirklich kein Flüchtling sein. In Algerien erwartet die meisten Geschassten der pure Horror: Armut und Leid spitzen sich noch zu, nichts an den Versprechungen ist wahr. Rasch verreckt die Mutter kläglich, mit 39 Jahren. Nach einigen Jahren schafft es Franz, der in Nordafrika das Arabertöten gelernt hat, als einziger zurück in seinen Heimatort, wo er fortan als das personifizierte schlechte Gewissen gemieden und als »der Afrik« tituliert wird. Er gilt als Sonderling. Noch immer thront auf seiner Schulter der lästerhafte Nachtkrapp, der ihn schon in Algerien begleitet hatte. Er ist wieder Tagelöhner, schuftet in einem Stollen und bunkert jahrzehntelang Sprengstoff für seine große Rache, den Big Bang: Er will Afrika für alle Zeiten in den Orbit sprengen. Er spricht nicht mehr (außer mit sich selbst), bellt nur noch flatterhafte Silben.
Dann ändert sich alles. Ein fremder Junge tritt in sein Leben. Eines Tages steht er vor seiner Hütte, mit einem Zettel in der Hand, auf dem auf französisch steht: »Ich heiße Jacob, Du bist Familie.« Der Junge ist eine Kaspar-Hauser-Gestalt, und die beiden Menschenentwöhnten passen gut zusammen. Die Laute des Jungen klingen wie entgleiste Güterwaggons, seine Herkunft bleibt bis zuletzt ungeklärt. Der 70jährige beginnt sich aufopferungsvoll um den »geistig zurückgebliebenen« Jungen zu kümmern, da sind plötzlich wieder Lebensfunken. Erzählt wird das Ganze aus der Perspektive des Alten, in Rückblenden, mit archaischen Komponenten, zappend vom verschneiten Schwarzwald in die knüppeltrockenen Wüsten Nordafrikas und zurück, als Soundtrack unterlegt mit Reminiszenzen an den guten alten Aberglauben, Lead Vocal: der Nachtkrapp.
Sven Recker: Der Afrik. Edition Nautilus, Hamburg 2023, 160 Seiten, 22 Euro
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