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Aus: Ausgabe vom 19.11.2024, Seite 15 / Natur & Wissenschaft
Schrift

Ton und Schrift

Herkunft der Alphabete: Jüngere Erforschung ältester Dinge
Von Felix Bartels
15 wikimedia commons.jpg
Tonscherbe aus dem phönizischen Archiv von Idalion

Wissenschaft macht aus allem einen Wettbewerb. Das größte Schwarze Loch, das heißeste Jahr, der früheste gemeinsame Vorfahre. Solche Marken haben mal mehr Sinn, mal weniger. Die älteste Schrift der Welt? Das ist leichter gesagt als geschrieben. Zunächst müsste, wie immer, hinzugesetzt werden, dass die älteste Schrift der Welt die älteste uns bekannte wäre. Schreiben hängt ab vom Material, auf dem Schriftzeichen fixiert werden. Hinweise aus vielen Strängen der Altertumswissenschaft lassen gesichert erscheinen, dass die ersten Materialien recht flüchtig waren: Wachs, feuchter Ton etc. Binnen kurzer Zeit mussten die Stücke zerfallen. Was geschrieben wurde, war also lange vor jeglicher Forschung schon wieder verschwunden. Wir reden von einer Sache, von der wir eigentlich wissen, dass wir einen großen Teil davon nicht wissen.

Eine paradoxe Pointe im griechischen Zweig der Altertumswissenschaft besteht darin, dass die Linear-B-Schrift der mykenischen Kultur, festgehalten auf Tontafeln, nur deswegen bewahrt blieb, weil die Palastbrände um 1200 v. u. Z. weiche Tontafeln festgebrannt und damit beständig gemacht haben. Der Untergang der Kultur erst sicherte ihr Fortleben in der Überlieferung. Die Forschung konnte ermitteln, dass die Mykener bereits ein griechisches Idiom sprachen. Der Linguist Michael Ventris fand das 1952 gemeinsam mit dem Altphilologen John Chadwick, der im Zweiten Weltkrieg als Kryptologe für die US-Marine japanische Militärcodes entschlüsselt hatte, heraus. Bis dahin war man davon ausgegangen, dass die griechische Kultur auf der Peloponnes erst bei der Einwanderung dorischer Stämme um 1200 v. u. Z. anzusetzen sei. Die folgenden 400 Jahre bis zum von den Phöniziern übernommenen griechischen Alphabet, das mehr oder weniger noch heute benutzt wird, bezeichnet man als »Dark Ages«, weil für diese Zeit kein Gebrauch von Schrift nachgewiesen ist. Was aber, wie gesagt, nicht heißt, dass nicht geschrieben wurde.

Doch nicht nur Material ist von Belang. Schrift lässt sich definieren als System von Zeichen, vermittels dessen ein Schreiber einem Leser Informationen übermitteln kann. Es bedarf also neben einem physischen Medium, auf dem Schrift hinterlassen wird, einer Schreiber und Leser gemeinsamen Kenntnis, wie diese Zeichen zu entschlüsseln seien. Und hinsichtlich des Systems muss man ferner seine Form von seiner Bedeutung unterscheiden. Die Form kann in Symbolen, Piktogrammen oder auch in Strichzeichen bestehen, die für sich keine Bedeutung haben. Historisch fußen Schriftsysteme mitunter aufeinander. So haben etwa Archäologen der Universität Bologna zuletzt die Protokeilschrift Mesopotamiens bis in den Zeitraum zwischen 3350 und 3000 v. u. Z. zurückverfolgt. Auf Tontafeln in Uruk wurden figürliche Zeichen gefunden, die große Ähnlichkeit mit einigen Elementen der späteren Keilschrift haben. Die Forscher gehen davon aus, dass es sich um »Etiketten« für Waren wie Textilien und Lebensmittel handelt. Die Keilschrift scheint zunächst eine Bildschrift gewesen zu sein, aus der sich später ein System von mehr Variabilität entwickelt hat.

Auch im phönizischen Alphabet lassen sich Spuren einer früheren Bildschrift erkennen. Unser Buchstabe A zum Beispiel geht auf das griechische Alpha zurück, und das griechische Alphabet, wie erwähnt, kommt von den semitischsprachigen Phöniziern. Alpha hat seine Wurzeln im Zeichen Aleph, das den semitischen Gutturallaut markiert, im Hebräischen aber auch »Rind« bedeutet. Man kann das Bild im Buchstaben noch entdecken. Dreht man das A um 90 Grad, sieht man das Maul einer Kuh, die eine Art Zaumzeug trägt, ein Ochse also vorm Pflug. Bei der Übernahme des Zeichens durch die Griechen hatte das Zeichen diese Bedeutung nicht mehr.

Die Form also kann ihre Bedeutung ändern, ein und dasselbe Schriftsystem Symbole für (ideelle oder physische) Gegenstände bereitstellen, die für sich schon Bedeutung tragen, oder Silben bezeichnen, die selbst keine Bedeutung haben, aus denen sich aber Bedeutungsträger (Worte) zusammensetzen, oder gar Buchstaben, die ihrerseits Silben zusammensetzen. Die Entwicklung von der Symbolschrift zur Silbenschrift zur Alphabetschrift scheint historisch nicht immer geradlinig gewesen, ihre logische Entwicklung aber vom Konkreten zum Abstrakten lässt sich als Muster dennoch zugrundelegen: Das System der Schrift musste sich, um zur Perfektion zu kommen, von den Dingen, die es bezeichnen soll, lösen. Das gilt nicht nur für den Übergang von der bildhaften Schrift zur Silbenschrift, sondern auch für den von der Silbenschrift zur Alphabetschrift, indem die Unterscheidung von Konsonanten und Vokalen etwas trennt, das phonetisch eigentlich nicht zu trennen ist. Wir sprechen einen Konsonanten nicht gesondert, er benötigt einen vokalischen Hall, um zur Geltung zu kommen. Die Trennung von Konsonant und Vokal scheint praktisch, weil die Kombination von Buchstaben ungleich sparsamer ist im Vergleich zu einem System, das die Menge aller gesprochenen Silben enthalten muss.

Die ältesten Schriften erscheinen gegen das Alphabetsystem seltsam umständlich, zugleich aber lassen sie deutlich werden, wie viele unbewusste Voraussetzungen der moderne Mensch aufgrund seines Umgangs mit den ihn umgebenden Hilfsmitteln macht. Man lernt Wege kennen, die längst verschüttet sind, aber so versteht man den eigenen besser.

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  • Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (19. November 2024 um 18:43 Uhr)
    Sich selbst aufzuzeichnen. Die Schrift ist eine Erfindung, die man sich beinahe als Zufall vorstellen könnte: Da saß ein Mensch – vermutlich ein ziemlich findiger – vor einem Klumpen Ton oder einem Stück Holz und wollte etwas Wichtiges oder Banales festhalten. Am Anfang stand wohl das Bedürfnis, Ordnung ins Chaos zu bringen. Menschen haben immer gezählt: Körner, Rinder, Nachbarn, die ihnen eines davon klauen könnten. So entstanden erste Symbole – Striche, Punkte, Kreise –, aus denen sich nach und nach Piktogramme entwickelten. Diese sagten Dinge wie: »Achtung, das gehört mir!« oder »Hier geht’s zum Wasser«. Die frühen Schriftkünstler arbeiteten an einer semantischen Revolution, ohne es zu ahnen. Der nächste Schritt war die Abstraktion. Menschen erkannten: Für jedes Ding ein Bild zu malen, ist mühsam. Viel klüger ist es, Laute und Klänge zu verschlüsseln – ein System zu schaffen, das jede denkbare Idee ausdrücken kann. Doch warum entstand die Schrift? Nicht, weil sie jemand dringend brauchte, sondern weil die Natur des Menschen danach verlangt, das Vergängliche festzuhalten. Er will Spuren hinterlassen, Gedanken verewigen, sich selbst zum bleibenden Teil der Welt machen. Ein Flüstern im Sand, das nicht vom nächsten Wind verweht wird. Ein Sieg über die Zeit. Dass die Schrift zugleich unsere größte Illusion ist, macht ihre Erfindung nur um so menschlicher: Wir glauben, Dinge gesagt zu haben, wenn sie aufgeschrieben sind. Ein Trugschluss vielleicht – aber einer, der uns seit Jahrtausenden antreibt.

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