(Un)begrenzte Vorstellungskraft
Von Daniel BratanovicFrüher glaubten die Menschen zu wissen, dass es Gottes Wille sei: die Krone der Schöpfung über dessen andere Schöpfungen zu sein. Später beschlichen sie Zweifel, von Gottes Werk sollte bald keine Rede mehr sein. Die Erklärung wurde materialistisch, Evolution Gegenstand des Nachdenkens. Aber noch immer beschäftigt Anthropologen die Frage, warum ausgerechnet die Gattung Homo, besser gesagt die Art Homo sapiens, andere Tiere des Planeten dominiert.
Nun haben die beiden Evolutions‑anthropologen Thomas Morgan von der Arizona State University und Marcus Feldman von der Stanford University eine neue Erklärung vorgelegt, was der Mensch dem Tier voraushaben könnte. Auch Tiere sind fähig, Wissen und Können über Generationen weiterzugeben – über die Gene, über das Lehren bzw. die Nachahmung. Durch epigenetische Vererbung verwandelt sich die Heuschrecke aus einem grünen Einzelgänger zu einem gelb-schwarzen Schwarmtier, eine Errungenschaft ihrer Vorfahren. Die Gesänge der Buckelwale und der Savannensperlinge werden über Generationen komplexer, Schimpansen und Krähen haben über Millionen von Jahren den Gebrauch von Werkzeugen erlernt. Es gibt also in der Tierwelt etwas, von dem man noch bis vor kurzem annahm, es sei den Menschen vorbehalten: die Akkumulation von Kompetenzen.
Solche Entwicklung hat aber offenbar ihre Grenzen. Die tierischen Kulturen kommen früher oder später an einen Endpunkt, können nur in begrenztem Umfang Wissen und Kompetenzen weitergeben, schreibt Morgan. Anders der Mensch: »Am Ende kamen wir zu dem Schluss, dass das Besondere an der menschlichen Kultur ihr ›Open End‹ ist. Unsere Kompetenzen können sich ansammeln, ohne je aufzuhören, es geht einfach weiter«. Tiere hingegen, vermutet Morgan, könnten sich »aufwendige Sequenzen« des Handelns oder Teilziele »nicht so leicht vorstellen«. Die Zubereitung einer Mahlzeit etwa ist ein mehrstufiger Prozess, und jeder Schritt »ist ein Teilziel und muss in der richtigen Reihenfolge ausgeführt werden. Daher ist das Ganze ein aufwendiges Verfahren«.
Die vermutete grenzenlose Vorstellungskraft des Menschen, die ihm immer wieder neue Wege aufzeigt, sich an Gegebenheiten besser anzupassen, erinnert ein wenig an Marx und dessen Baumeister-Bienen-Gleichnis. Und mit Marx wiederum könnte Evolutionsanthropologen eine wenigstens kleine Portion historischen Materialismus eingepaukt werden. Bei ihnen ist die »Open End«-Fähigkeit des Menschen schon von vornherein unterstellt, eine Frage der vorab gegebenen Ausstattung des Einzelnen. Warum aber Homo sapiens erst nach Jahrhunderttausenden anfing, komplexer zu denken und zu handeln, dürfte mit dem Zusammenspiel von sozialer Organisation, Arbeitsteilung und Werkzeugeinsatz zu tun haben. Doch solche Fragen nach Gesellschaftlichkeit sind der Anthropologie noch immer in aller Regel fremd.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Norbert S. aus München (20. November 2024 um 05:48 Uhr)Na ja, ich finde ja, Evolutionsbiologen sollten sich in Zusammenarbeit mit entsprechend gleichartig bewanderten -neurologen und -psychologen eher mal an Marx' Motto halten, die Welt zu verändern, statt nur zu beschreiben. Denn warum nun gerade das Säugetier namens Mensch von diesem zufallsbasierten, chaotischen System der Evolution die Chance bekommen hat, genau innerhalb dieses Systems einen Paradigmenwechsel herbeizuführen, scheint mir doch relativ irrelevant. Zumal viele Erkenntnisse bereits vorliegen, die plausibel begründen können, warum der Mensch diese Chance nicht bzw. in einem sehr negativ/destruktiven Sinne nutzt. Aber wie sich dies ändern ließe, wie aus den sich Zivilisation nur einbildenden Barbaren tatsächlich vernünftig agierende Menschen werden, statt massenweise zombiehafte Geiseln mit Stockholmsyndrom dieses ekelhaften Evolutionssystems als Geiselnehmer, ist doch die heiße und absolut dringend zu beantwortende Frage. Schließlich ist die biologische Evolution quasi eine Art Wettrüsten fast aller Spezies gegeneinander, welches mittels immensen Leids in Form von massenhaft missglückten Mutationen geführt wird, und zwar mit der perversen Zielrichtung, anderen Spezies möglichst viel Leid zuzufügen, um selbst als Spezies quantitativ ins Unendliche zu wachsen. Die sich hier aufdrängenden Ähnlichkeiten mit den Prinzipien des Kapitalismus, sukzessive Faschismus, sind sicherlich ganz und gar nicht zufällig.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Heinrich H. aus Stadum (21. November 2024 um 16:12 Uhr)Ganz schön viel Vulgär-Darwinismus in 1457 Zeichen. Das Evolutionssystem ist halt das Evolutionssystem und sonst nichts. Es kann nur zustande bringen, was ihm die Chemie als Physik der Atomhülle und die Länge der verfügbaren Zeit in halbwegs stabiler Umgebung erlaubt. Wäre nicht vor 65 Millionen Jahren ein Asteroid von etwa 15 Kilometern Durchmesser auf der Erde eingeschlagen, wären die Säugetiere heute womöglich immer noch auf ihre damalige Mausgröße beschränkt. Und wenn die Werte von fundamentalen Naturkonstanten minimal anders wären, täte es uns nicht geben. Dann wäre z. B. entweder kein Kohlenstoff entstanden oder überhaupt keine Atome oder keine Sterne und Galaxien. Dem Ganzen eine »Zielrichtung«, gar eine perverse, zuschreiben zu wollen, grenzt an Überheblichkeit. Man sollte sich schon darüber vergewissern, was man ändern kann und was nicht. Die Natur hat andere Zeitkonstanten wie der Mensch, man könnte auch sagen, sie hat einen längeren Atem.
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vom 19.11.2024