Wie war damals das Wetter?
Von Jürgen RothDu mußt dein Leben nicht ändern. Geändert hat sich schon alles / allein. Wer ordnet hier an, wer will ans Steuer … verhandeln / kann man, wenn es fair dabei zugeht. Am Tisch bleibst du / jedenfalls sitzen, alleiniger geht es nicht.
Jürgen Becker
*
Ich schaute hinaus, / es war trocken. Ich schaute noch einmal hinaus, es war naß.
Jürgen Becker
*
Eine Woche, bevor mich die Meldung vom Tod des Dichters Jürgen Becker am 7. November erreichte, war sein neues Buch im Briefkasten gelegen.
Ich öffnete das Kuvert, zog den schmalen Band heraus und kniff ein wenig die Augen zusammen. Der Titel schien mir zu Beckers Werk nicht zu passen.
Ich schlug »Nachspielzeit – Sätze und Gedichte« (Berlin 2024) irgendwo auf. Es war die Seite 48, und ich las als erstes: »Der Club. Das war, mit Heiner Stuhlfauth / im Tor, der 1. FC Nürnberg, in den dreißiger Jahren.«
Zu erklären, was mir das bedeutet, führte zu weit.
Rund um den Zweizeiler sind folgende Vignetten gruppiert: »Daß man sie nicht übersieht, die Einzelheiten, auf die es ankommt.« – »Der Gurkenhobel. Das Kartoffelschälmesser. Der Quirl.« – »Wenn ich mich auf den Gang der Geschichte besinne, / fällt es mir schwer, die Zeitung von gestern wegzuwerfen.« – »Ins Erzählen mischen sich Erinnerungen ein, von denen man gar nicht erzählen wollte.« – »So viele Sätze, soviel, was verschwiegen, vergessen ist.« – »Und jeder Satz sollte haben und hat sie doch nicht, die Eigenschaft einer Lupe, eines Fernrohrs.«
In dieser Konstellation von Mitteilungen, die aufs sorgsamste komponierte Miniaturen sind, hat Jürgen Becker, ließe sich vielleicht sagen, seine Poetologie skizziert. Oder an dieser Stelle: »jeder Tag schreibt mit, und er läßt seine Mitschrift / nicht jeden Tag lesen // am Küchentisch der erste Satz und dann Frühstück«. Oder an jener: »Was alles es bedeuten kann, wenn / ein Fenster offen steht.«
Für Jürgen Becker war alles aus der (Meso-)Sphäre des Lebens gleichwertig, jedes Element, das sich in sein Sichtfeld schob, jede Wahrnehmung von etwas Unscheinbarem, das eben deshalb nicht unscheinbar ist, jedes Geräusch, jeder Farbton, all das also, was den furchtbaren Zeitgenossen in ihrer Veränderungsraserei, ihrem Gedröhne, ihrer schäumenden Wut immer schon entgangen ist.
Jürgen Becker suchte Erfahrungen an den vielgestaltigen Rändern der Dinge und die Vagheit der Gefühle festzuhalten. Strikt mied er die Eindimensionalität der sogenannten öffentlichen Rede, das Belehrende, das Auffordernde, das Fordernde, diese »täglich scheppernden Wörter«, den »Diskurs«, der »vor keinem Gartentörchen haltmacht«.
Die Lupe: »Keine Schlagzeile von heute / kann ich zitieren; heute las ich kein Wort, außer / dem Wort Quittengelee, / auf einem Glas, das im Vorbeigehen / ich im Regal stehen sah, mit einem Datum / von vor drei Jahren.« Das Fernrohr: die Zeitangabe »von vor drei Jahren«.
Jürgen Becker schrieb, als sei er ein Zeichner gewesen. Sein assoziativer Reihungsstil konservierte Abertausende Kontexte unwiederholbarer Augenblicke, in denen er unzählige Schichten der Erinnerung freilegte und dergestalt Geschichte, die ja das Geschichtete ist, erhellte. »Wie war damals das Wetter?« ist keine banale Frage.
Wolken, Wind, Licht, Frost, Regen waren für ihn Anregungspartikel; Erscheinungsmomente, die etwas auslösten, auf dass sich aus dem Schutt des Gewesenen ein paar Scherben bergen ließen. Einmal heißt es in »Nachspielzeit« – und da ist exemplarisch Beckers große Kunst der lakonischen Verflechtung zu gewahren –: »Neuigkeiten / sind unaufhörlich unterwegs. Vergangenes ist immer dabei. / Die Straße ist naß, weil der Regen vor einer halben Stunde / vorbeikam. Im Garten keine Himbeere mehr, im Regal / die Himbeermarmelade. Rundum Hinterlassenes. Als Volkswagen / den Volkswagen baute, baute die Kriegsführung zeitgleich / den Bunker, den jetzt wir wiedersehen auf einem Photo / mit einem VW-Bulli vorm Eingang – / Tausende Bunker, / Tausende Bomber. Die Luft zwischen Erde und Himmel / läßt Tropfen nur und Flocken fallen. Die Felder sind phasenweise / feldgrau –.«
In einer Lesepause schaltete ich den Fernseher ein. Im BR lief ein Film über VR und das Reisen mit Computerbrille, eine jungjournalistische Eloge, die die analoge Welt als etwas Ödes, Schäbiges, Wegzuwerfendes geradezu verhöhnte. Unsere Gegenwart ist eine Schande und zum Kotzen.
»Geblieben das Rezept von Dr. Benn: Du mußt / aus deiner Gegend alles holen, denn auch von Reisen / kommst du leer zurück«; was sich, gedankenlyrisch gefasst, so zeigt: »Ein Wunder, daß man Linsensuppe / kochen kann. Was, wenn morgens der Alltag sagt, ich bleibe weg, / ich komme nicht mehr. Wie, wenn der Schlüssel futsch ist, bekomme / ich die Haustür auf. Finde ich Brille und Bleistift, kann ich / aufschreiben, daß es bis abends nur regnet.«
Jürgen Beckers Arbeit an den nicht korrumpierten Wörtern war eine – der stets drohenden Sprachlosigkeit abgetrotzte – fortlaufende Inventur, bei der jede zufällige Einzelheit Gewicht besaß (»Dichter Waldrand, üppige Büsche, / und die Fahrbahn voll von Igel und Fuchs«). Hinterlassen hat Becker ein Archiv, in dem Zeugnisse der Verluste und der Hilflosigkeit überdauern werden – jede Ellipse Ausdruck zaghafter Humanität.
»Koffer auf dem Speicher, Konservendosen im Schrank. / So viele Geschichten, die noch warten, daß man sie erzählt. / Erfinden muß man keine, alle sind im Haus. // Nebenstraßen, wo nur Autos stehen von Leuten, / die seit Jahrzehnten dort wohnen. / Die Ränder des Vororts, inselhaft und abgelegen.«
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