Schlechtes Vorbild
Von Raphael MolterWie im europäischen Profifußball ein »fairer« Wettbewerb zu sichern ist, treibt nicht nur Politiker um. Besonders Gehaltsobergrenzen werden gerne gefordert, die Idee ist bei Hipstern wie Romantikern gleichermaßen beliebt. Man solle sich generell ein Beispiel an der Sportwelt der USA nehmen, heißt es dann oft. Deren Regelungen seien sogar irgendwie sozialistisch, liest man nicht selten in bürgerlichen Medien. Eine Einschätzung, zu der man freilich bloß bei völliger Ignoranz für Fragen der Eigentumsverhältnisse, der Einbettung des Sports in den medialen wie kulturellen Staatsapparat und der ideologischen Funktion von Leistungssport als freizeitliches Äquivalent zu den Anforderungen der bürgerlichen Gesellschaft kommen kann.
Besonders nach der Gründung der European Super League (ESL), mit der 14 der größten und mächtigsten Fußballvereine Europas 2021 versucht hatten, im Nachgang der Pandemie ihre Umsätze zu vervielfachen und besser abzusichern, was am Widerstand von Fans, Verbänden und Politik scheiterte, wurden Rufe laut, sich verstärkt am US-Modell zu orientieren. Wie auf Knopfdruck begannen Mainstreamsportwissenschaftler Hohelieder auf dessen vermeintliche strukturelle Vorteile anzustimmen und Papiere darüber zu publizieren, wie es auch hierzulande implementiert werden könnte.
Offensichtlich hat das franchise-basierte, geschlossene US-Ligenmodell klare Vorzüge in Sachen Profitabilität und ökonomischer Stabilität. Die Warenförmigkeit des europäischen Fußballs ist maßgeblich von der Möglichkeit des Ab- und Aufstiegs geprägt, oft kann nur kurzfristig geplant werden. Teams liefern sich einen ineffizienten Wettlauf um die spielenden Arbeitskräfte, was zu Gehaltsinflation und wirtschaftlicher Instabilität führt. Die Funktion des Sports als ideologischer Staatsapparat gerät dabei freilich aus dem Blick. Das »Freizeitvergnügen« wird als solches beschrieben, analysiert und nach Verbesserungsmöglichkeiten abgeklopft. Die kulturelle Komponente erscheint somit nur noch als Abstraktum, als unbestimmter »Mikrokosmos« der Gesellschaft, der im Zweifel stört. Diese Störungen hat der US-Sport vollends eliminiert.
Blicken wir etwa in die kalifornische Bay Area, wo in der nordamerikanischen Basketballiga NBA die Golden State Warriors am vergangenen Freitag die Grizzlies aus Memphis empfingen. Das Chase Center ersetzte vor wenigen Jahren die traditionelle Spielstätte in Oakland, die Warriors zogen dafür nach San Francisco und ließen ihre jahrzehntelang gewachsene Fanbasis links liegen. Bereits weit vor Tip-Off und außerhalb der Arena stellt sich ein Gefühl der Nutzlosigkeit ein. Touristen und reiche Locals geben sich die Klinke in die Hand, aber Fans, wie wir sie aus Europa kennen, sind nicht zu finden. Das in die Jahre gekommene Shooting-Phänomen Stephen Curry zieht als Zirkusattraktion die Massen in die Halle, Stimmung kommt erst auf, sobald er sich warm macht. Die alten Anhänger aus Oakland gehen kaum noch zu den Spielen. Der Umzug »ihres« Teams, eine Art unmittelbar erlebte Gentrifizierung.
Anders scheint es an der Stanford University zuzugehen. Das Footballteam der Eliteuni spielt seit über 100 Jahren an traditionsreicher Stätte, die überraschenderweise keinen Sponsoren im Namen trägt. Das typische Tailgating auf den Parkplätzen – man trifft sich an den Autos, grillt und trinkt – fühlt sich an wie ein Familientreffen im Grünen. Das Stadion steht zwischen hochgewachsenen Bäumen und empfängt seine Besucher wie die Alte Försterei in Köpenick oder das Waldstadion in Frankfurt am Main.
Doch schaut man genauer hin, zeigt sich auch hier die gewohnte Fratze eines völlig auf Profit getrimmten Sports. Im Collegesystem werden mit TV-Vermarktung, Ticketeinnahmen, Merchandising und Co. Milliarden US-Dollar eingenommen. Doch die Athleten bekommen nichts davon, sieht man von ihren Sportstipendien ab. Unter der Herrschaft der National Collegiate Athletic Association (NCAA) verdienen nur der Verband und die Unis. Die Fans allerdings sind treu, eben weil Colleges – anders als die Profifranchises – nicht einfach Standort, Namen und Farben ändern können, wenn es mehr Umsatz verspricht. Stimmung kommt vor Ort trotzdem nicht auf, was eher mit den Alumni der Universität zu tun haben dürfte: weiß, reich und in vielen Punkten genau das Eventpublikum, das sich ein Konstrukt wie RB Leipzig wünscht. So überrascht nur das Ergebnis: Stanford schafft in buchstäblich letzter Sekunde das siegbringende Field Goal. Endstand 38:35 gegen die hochfavorisierten Louisville Cardinals. Von den anfangs knapp 18.000 Zuschauern (Kapazität: 50.424) sieht das jedoch nur noch ein Bruchteil.
Tags darauf im Levi’s Stadium der San Francisco 49ers, die in der nordamerikanischen Footballiga NFL den Rivalen aus Seattle empfangen. Zwei Fanlager, die für dortige Standards als durchaus energiegeladen gelten. Zu spüren ist davon wenig. Auch hier gibt es nur punktuell etwas Unterstützung von den Rängen, auf Animation von Verantwortlichen. Ein Trauerspiel für Menschen, die den Support europäischer Fans gewöhnt sind. Die 49ers geben die sportlich wenig reizvolle Partie kurz vor Schluss noch aus den Händen – 17:20, ihre Play-off-Chancen schwinden.
Wem kann der US-Sport also als Vorbild dienen? Nur denjenigen, die Sport wie andere kulturelle Phänomene nur als Instrumente für ihre Vorstellung von Politik und Gesellschaft sehen (hier dürfen sich auch einige Sozialisten angesprochen fühlen). Dabei dürfte offensichtlich sein: Der europäische Fußball ist historisch geprägt von seinem Herkommen aus dem Amateursport, eine simple Übernahme der nordamerikanischen sozioökonomischen Strukturen schon deshalb nicht ohne weiteres möglich. Für alle, die durch geschlossene Ligen das Leistungsprinzip reduziert sehen, statt dessen den Breitensport fördern und Freude an der Bewegung wecken wollen: Eine gute Nachricht.
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