Raketentest am Feind
Von Reinhard LauterbachRussland hat am frühen Donnerstag morgen die ukrainische Industriestadt Dnipro (früher: Dnepropetrowsk) mit einer neu entwickelten Interkontinentalrakete angegriffen. Die ukrainischen Behörden räumten ein, dass »ein Industriebetrieb« getroffen worden sei. Nach Angaben des früheren Präsidentenberaters Olexij Arestowitsch war Ziel des Angriffs die Raketenfabrik Piwdenmasch (russisch: Juschmasch), wo zu sowjetischen Zeiten die Produktion von Interkontinentalraketen konzentriert war. Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij hat in letzter Zeit verschiedentlich davon gesprochen, dass die Ukraine die Produktion von ballistischen Raketen wieder aufnehmen müsse.
Videos des Einschlags zeigen überdies, dass mehrere Sprengköpfe abgeworfen wurden, die parallel zueinander im Abstand weniger Sekunden einschlugen. Die Rakete vom Typ R26 ist nach russischen Angaben dafür optimiert, gegnerische Abwehrsysteme zu überwinden. Da es der ukrainischen Luftabwehr nicht gelang, die Rakete abzufangen, kann der Test als erfolgreich und als Illustration der Aussage der russischen Außenamtssprecherin Marija Sacharowa vom Mittwoch gelten, dass die neueröffnete US-Raketenbasis im nordpolnischen Redzikowo bereits auf der Liste der »prioritären Ziele« für russische Gegenschläge stehe. Das Verteidigungsministerium in Warschau nannte diese Äußerung eine Provokation, weil in Redzikowo keine Atomsprengköpfe gelagert seien.
Der erstmalige Einsatz einer solchen Rakete mit einer technischen Reichweite von etwa 5.800 Kilometern ist auch eine russische Demonstration nach den ersten Einsätzen westlicher Marschflugkörper gegen Ziele im Inneren Russlands. Zuletzt hatte die Ukraine am Mittwoch mehrere »Storm Shadow«-Marschflugkörper aus britischer Produktion auf ein denkmalgeschütztes Anwesen in Marjino im Bezirk Kursk abgefeuert. Russland behauptete, zwei anfliegende Raketen abgeschossen zu haben, ukrainische Medien verbreiteten Bilder schwarzer Rauchwolken nach dem Einschlag. In Marjino soll sich das Hauptquartier der russischen Truppen befunden haben, die den ukrainischen Vorstoß im Gebiet Kursk bekämpfen.
US-Verteidigungsminister Lloyd Austin hat die bevorstehende Lieferung von Antipersonenminen an die Ukraine mit der neuen Angriffstaktik der russischen Truppen begründet. Bei einem Besuch in Laos sagte er, die russischen Truppen rückten nicht mehr mit Panzern und Schützenpanzern vor, sondern mit Infanteriestoßtrupps, die von Drohnen unterstützt würden. Dieser militärischen Realität müsse die Ukraine Rechnung tragen. Kiew müsse sich aber verpflichten, die Minen nicht in Gebieten zu verlegen, in denen auch Zivilisten lebten. Außerdem entschärften sich die Minen nach gewisser Zeit automatisch, wenn ihre batteriebetriebene Zündung keinen Strom mehr habe, erklärte Austin. Menschenrechtsorganisationen aus den USA kritisierten die Lieferung als Verstoß gegen die Ottawa-Konvention von 1999, laut der Landminen weder verwendet noch produziert, gelagert oder weitergegeben werden dürfen – Washington ist dem Abkommen freilich nicht beigetreten.
Auf der politischen Ebene setzt sich Selenskij weiter von bisher öffentlich vertretenen Kriegszielen ab. Nachdem er im Parlament kürzlich die Möglichkeit »vorübergehender« territorialer Verluste eingeräumt hatte, schloss er nun gegenüber dem trumpnahen US-Fernsehsender Fox News eine Rückeroberung der Krim mit militärischen Mitteln ausdrücklich aus. Ein entsprechender Versuch wäre mit größeren Verlusten verbunden, als sie sich die Ukraine leisten könne, und überdies gebe es dafür keine Erfolgsgarantie. Der Präsident bekräftigte gleichzeitig, dass Kiew den Verlust der Krim niemals diplomatisch anerkennen werde.
Das Thema der ukrainischen Verluste sprach indirekt auch der frühere Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte und jetzige Botschafter des Landes in Großbritannien, Walerij Saluschnij, an. Nach einem Bericht der Times sagte er am Dienstag bei einem Besuch in einem Ausbildungslager für ukrainische Soldaten in Großbritannien zu den angetretenen Kämpfern, jeder wisse, dass die Überlebenschancen für sie minimal seien. Sie sollten die Todesfurcht ablegen und lernen, ohne Hemmungen zu töten, bevor der Feind sie selbst töte. Sie sollten immer daran denken, dass die Ukraine nur auf sie zählen könne. Saluschnij gilt als aussichtsreichster Gegenkandidat Selenskijs im Fall künftiger Neuwahlen in der Ukraine.
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