Disziplinierung statt Kampf
Von Christian BunkeDie jüngsten Nationalratswahlen haben Österreich einen sogenannten Rechtsruck beschert. Die FPÖ konnte 28,85 Prozent aller abgegebenen Stimmen erringen, und das bei einer insgesamt hohen Wahlbeteiligung, die in einigen Bundesländern sogar über 80 Prozent lag. Und je höher die Wahlbeteiligung, desto stärker konnte die FPÖ punkten. In Bundesländern wie Niederösterreich, Oberösterreich oder dem Burgenland kratzte sie an der 30-Prozent-Marke oder konnte diese übertreten. Ausreißer nach oben ist Kärnten, wo die FPÖ 38,38 Prozent der Stimmen erzielte; in Wien kam die Partei nur auf rund 21 Prozent. Dennoch müssen all diese Zahlen relativiert werden: Die FPÖ profitierte hauptsächlich von einem Kollaps der konservativen ÖVP. Die verlor an vielen Orten etwa so viele Prozentpunkte, wie die FPÖ hinzugewinnen konnte. Es könnte sich hier also um eine Verschiebung innerhalb des offen reaktionär auftretenden Lagers in Österreich handeln.
Die historisch starke österreichische Sozialdemokratie wurde durch die jüngsten Wahlen weiter geschwächt. Sie verliert seit Beginn des neoliberalen Zeitalters Anfang der 1990er Jahre, an dessen Durchsetzung sie über die Privatisierung österreichischer Schlüsselindustrien selbst mitgewirkt hat, kontinuierlich an Rückhalt in der Bevölkerung. Erzielte die SPÖ bei den Nationalratswahlen 1983 noch 47,65 Prozent der abgegebenen Stimmen, waren es 2024 lediglich 21,14 Prozent. Und das trotz eines Parteichefs Andreas Babler, der rhetorisch an alte sozialdemokratische Werte aus der Ära Kreisky in den 1970er Jahren anzudocken versuchte.
Progressive Kräfte weltweit scheinen aufgrund von Wahlergebnissen wie jenem in Österreich und zuletzt in den USA unter Schock zu stehen. In zahlreichen Staaten sind explizit rassistische und extrem rechte Kräfte auf dem Vormarsch, Teile von ihnen treten offen faschistisch auf. Gewerkschaften haben nicht damit zu kämpfen, dass rechte Inhalte von außen in sie hineingetragen werden; rechtes Gedankengut wird längst auch innen, also von gewerkschaftlich aktiven Personen, propagiert.
Verschleierung und Nostalgie
All das führt zu einer Suche nach Erklärungsmustern und Lösungskonzepten. Eine gängige Erklärung findet sich in den durch Wirtschaftskrisen und marktradikale Reformen hervorgerufenen sozialen Verwerfungen seit Mitte der 1970er Jahre. Der oft gewaltsam durchgesetzte Abbau von Industrien, wachsende Arbeitslosigkeit sowie brutale Angriffe auf soziale Sicherungssysteme haben Teile der lohnabhängigen Bevölkerungsgruppen für rechte Propaganda anfällig gemacht. Der Erfolg der Rechten ist laut dieser Denkrichtung somit auch ein Versagen linker Kräfte, denen es in den vergangenen Jahrzehnten nicht gelungen sei, dem neoliberalen Ansturm auf soziale Freiheitsrechte effektiv etwas entgegenzusetzen. Verwiesen wird dabei manchmal auch auf die Integration linker, sozialistischer oder teils sogar kommunistischer Kräfte in den kapitalistischen Staat durch Regierungsbeteiligungen, die selten soziale Fortschritte, oft aber ein Aufgeben eigener, linker Positionen bedeutet haben.
Diese an sich richtige Analyse wird zunehmend um das Element einer weiteren Erzählung ergänzt. Es handelt sich um die Kritik an einer angeblich ausschließlich identitätspolitisch ausgerichteten linken Bewegung, die mit ihren Kämpfen etwa für die Rechte von Frauen, von queeren und transgender Personen oder von Migranten den universellen Charakter der Arbeiterbewegung unterwandert und deren Stärke somit zerstört habe. Man macht Antirassisten oder Vertreter feministischer Positionen für die Spaltung der Arbeiterbewegung verantwortlich. Durch diese Erzählung wird die teils negative Rolle zentraler Institutionen wie zum Beispiel Gewerkschaften oder Parteien, und hier insbesondere von deren Funktionärsebenen, im Laufe der vergangenen Jahrzehnte verschleiert.
Diese Verschleierung geht oft mit einer Verklärung der Vergangenheit einher. Das äußert sich beispielsweise in einer Nostalgie für die Jahre des Klassenkompromisses der 1950er und 1960er Jahre, wie sie das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) propagiert, oder einer Nostalgie für die Hochphase der Sozialpartnerschaft in Österreich während der 1960er und 1970er Jahre. Auf im Detail sehr verschiedene Weise, im Inhalt jedoch frappierend ähnlich, agitieren sowohl Sahra Wagenknecht in Deutschland als auch der österreichische sozialdemokratische Parteichef Andreas Babler eine Rückbesinnung auf diese vermeintlich goldenen Jahre.
Gerade das Beispiel der österreichischen Gewerkschaftsbewegung seit Ende des Zweiten Weltkriegs zeigt jedoch, dass derlei Denkschablonen einer kritischen Betrachtung unterzogen werden müssen. So stellt sich der Österreichische Gewerkschaftsbund (ÖGB) zwar durchaus in eine antifaschistische Tradition. Viele Gründungsmitglieder waren aktive Antifaschisten. Dennoch hat auch der ÖGB über seine Einbindung in die österreichische Sozialpartnerschaft seinen Anteil an der Verfestigung rassistischer Denkmuster innerhalb der österreichischen lohnarbeitenden Bevölkerung und so schon früh zu einer Institutionalisierung des Rassismus in der zweiten Republik beigetragen. So wurden Pfadabhängigkeiten geschaffen, aus denen die Gewerkschaften heute nur schwer herauskommen, wodurch der Kampf gegen den »Rechtsruck« erschwert wird.
Ein zentrales Element der Blütezeit der österreichischen Sozialpartnerschaft waren die sogenannten »Lohn-Preis-Abkommen«, als deren bekanntestes Beispiel das »Raab-Olah-Abkommen« gilt. Dieses legte im Jahr 1961 einen Grundstein für die Ausbeutung migrantischer Arbeitskräfte auf österreichischem Boden. Das »Haus der Geschichte Österreichs«, Österreichs führendes zeitgeschichtliches Museum, beschreibt den Sachverhalt auf seiner Webseite so: »Die österreichische Sozialpartnerschaft ist ein Unikat, versucht sie doch, die Auseinandersetzung um ökonomische Konflikte von der Straße an den grünen Tisch zu verlagern. Wirtschaftskammer Österreich (WKO), Arbeiterkammer (AK), Österreichischer Gewerkschaftsbund (ÖGB) und Landwirtschaftskammer (LK) fanden über die Lohn-Preis-Abkommen zueinander, was 1957 zur Gründung der paritätischen Kommission führte, die die Idee der Abkommen institutionalisierte. Nächster Schritt war das Raab-Olah-Abkommen von 1961. Die beiden Präsidenten (Bundeswirtschaftskammer bzw. Gewerkschaftsbund) kamen überein, in der ersten Welle der Hochkonjunktur temporär ausländische Arbeitskräfte aus Jugoslawien anzuwerben. Das war der Startschuss für die ›Gastarbeiter‹ mit den vielfältigsten Lebensgeschichten und Zukunftserwartungen. Gleichzeitig verfestigten sich die sozialpartnerschaftlichen Strukturen.«
Das ist eine reichlich geglättete Darstellung der österreichischen Sozialpartnerschaft, und sie ist exemplarisch für die in Österreich weitverbreitete Folklore. In der gängigen Sichtweise hat die Sozialpartnerschaft die Klassenkonflikte der ersten Republik zwar nicht überwunden, doch in institutionalisierte Bahnen umgeleitet. Sowohl das bürgerliche als auch das durch die Gewerkschaften vertretene lohnabhängige Lager verpflichten sich in dieser Partnerschaft zu einem Verzicht auf außerparlamentarische Kampfmethoden. Interessenkonflikte werden hinter verschlossener Tür in Gremien verhandelt. Das ist einer der Gründe, warum die österreichische Gewerkschaftsbewegung sehr stark in staatsnahe Organisationsstrukturen eingebunden ist, während sie in den vergangenen Jahrzehnten kaum etwas für den Aufbau von Aktivistenstrukturen jenseits von Betriebsratskörperschaften getan hat. Dies ging mit einer Wandlung der Sozialdemokratie von einer »austromarxistischen« zu einer »austrokeynesianistischen« Partei einher, womit das Abrücken von systemüberwindenden Denkansätzen deutlich gemacht wurde. Das erlaubte dem bürgerlichen Lager, die Gewerkschaften als Komanager des Standorts Österreich anzuerkennen.
Gewerkschaften als Komanagement
Im Rahmen dieses Komanagements nehmen die Gewerkschaften auf die Bedürfnisse der Unternehmen Rücksicht und üben deshalb auch Lohnverzicht, wenn sie es aus einer gesamtkapitalistischen Sicht für den »Standort Österreich« für nötig halten. Zugleich versuchen sie, die Kaufkraft der Bevölkerung zu erhalten, was allerdings ebenfalls standortpolitisch argumentiert wird, da für die Gewerkschaften der Massenkonsum eine wesentliche wirtschaftliche und ideologische Bedeutung hat. Aus der Sicht der österreichischen Gewerkschaftsbewegung ist das nur über ein klares Bekenntnis zu einer wachstumsorientierten Politik möglich. Es geht nicht vorrangig darum, den Anteil der Lohnabhängigen am Kuchen zu erhöhen, sondern einen immer größeren Kuchen zu backen, damit der Anteil der Lohnabhängigen indirekt mitwächst. Entsprechend wurde in Österreich seitens der Gewerkschaften schon früh der Begriff des »Wachstumssozialismus« geprägt, der einem »Umverteilungssozialismus« entgegenstehe. Wohlstandssteigerung für lohnabhängige Menschen geht laut der innerhalb der österreichischen Gewerkschaften herrschenden Ideologie nur über die Schaffung guter Bedingungen und wachsender Profite für Konzerne.
Um die dafür nötigen Rahmenbedingungen zu schaffen, kommt den Gewerkschaften im Rahmen der Sozialpartnerschaft eine regulierende, aber auch eine disziplinierende Rolle zu. Sie haben ein Interesse daran, das Arbeitskräfteangebot derart zu regulieren, dass ein genügend hoher Prozentsatz der Lohnabhängigen im Land von der Sozialpartnerschaft profitiert, um sich an diese gebunden zu fühlen. Diese Regulierung kann entweder über eine Verknappung des Arbeitskräfteangebotes oder aber über den Ausschluss eines Teils der Lohnabhängigen aus dem System der Sozialpartnerschaft passieren – etwa indem die Forderung nach einer Beschränkung der Migration aufgestellt wird. Zugleich müssen die Gewerkschaften beweisen, dass sie in der Lage sind, Kampfbestrebungen der Lohnabhängigen einzudämmen, wenn diese den Bereich sozialpartnerschaftlicher Gepflogenheiten zu verlassen drohen.
Ein weiteres Element in der Dialektik der Sozialpartnerschaft ist das der Angst des bürgerlichen Lagers vor dem aufständischen Potential der Lohnabhängigen. Allein die Erfahrung vergangener Aufstände verleitet das bürgerliche Lager dazu, Einrichtungen wie die Arbeiterkammer zu tolerieren. Die österreichische Arbeiterkammer ist ein Überbleibsel der revolutionären Rätebewegung aus den Jahren 1917 bis 1919, zu denen neben anderen Ereignissen die russische Revolution, die deutsche Revolution mit verschiedenen Versuchen des Aufbaus von Räterepubliken oder auch die ungarische Räterepublik zählen. Noch heute findet zweimal im Jahr in den Räumlichkeiten der Wiener Arbeiterkammer das »Arbeitnehmer:innenparlament« der Bundesarbeiterkammer statt, welches vom Namen her an vergangene Revolutionsereignisse erinnert, inhaltlich damit aber heute kaum noch etwas zu tun hat.
Aufstandsbekämpfung
Tatsächlich wurde das potentiell aufständische Element innerhalb der österreichischen Arbeiterbewegung schon zu Beginn der zweiten Republik durch den österreichischen Gewerkschaftsbund erfolgreich unterdrückt. Als im Oktober 1950 die Beschäftigten zahlreicher österreichischer Großbetriebe, angeführt durch hauptsächlich kommunistische Betriebsräte, gegen die vom ÖGB verordnete Lohnzurückhaltung in den Streik traten, wurde diese Streikbewegung von Verbänden der Polizei unter Einsatz von Bajonetten gewaltsam niedergeschlagen. Beteiligt an der Niederschlagung dieses Streiks waren auch von der Gewerkschaft Bau-Holz (GBH) organisierte Kampfverbände, die mit Lkw und Schlagstöcken ausgerüstet Streikposten verprügelten. In den folgenden Jahren wurden diese vom damaligen GBH-Vorsitzenden Franz Olah gegründeten Verbände unter Beteiligung des US-Geheimdienstes CIA zu einer antikommunistisch orientierten »Stay Behind«-Organisation im Rahmen des europaweit tätigen rechtsterroristischen, NATO-gesponsorten »Gladio«-Netzwerkes ausgebaut. Es handelt sich hier um jenen Franz Olah, nach dem das »Raab-Olah-Abkommen« benannt ist. Olah agierte nicht im Alleingang. Im Gegenteil war die Gründung dieser paramilitärischen Kampfverbände schon 1947 mit dem damaligen ÖGB-Präsidenten Johann Böhm abgesprochen gewesen.
In mehrfacher Hinsicht hatte der Oktoberstreik dramatische Auswirkungen für die folgenden Jahrzehnte. Zum einen stellt er einen wesentlichen Schritt in Richtung Westorientierung Österreichs auf geopolitischer Ebene dar, indem sich die Gewerkschaften, und in weiterer Folge der Staat, klar zu einer antikommunistischen Haltung bekannten. So wurde die Verzahnung der österreichischen Wirtschaft mit der Bundesrepublik Deutschland vorbereitet, die sich unter anderem einerseits über die Dominanz einer auf (west-)deutsche Automobilkonzerne ausgerichteten Zulieferindustrie und andererseits über Baukonzerne wie die auch bei deutschen Infrastrukturprojekten führend auftretende Strabag-AG verdeutlicht. Bis heute ist Österreich ein von Export und Tourismus abhängiges Land.
Zudem wurden mit der Bekämpfung des Oktoberstreiks kämpferische Elemente aus der österreichischen Arbeiterbewegung nachhaltig entfernt. Zahlreiche mit der KPÖ in Verbindung gebrachte Betriebsräte verloren dauerhaft ihren Job, und man schloss sie aus dem ÖGB aus. Bis 2015 stellte der ÖGB den Oktoberstreik als einen kommunistischen Putschversuch dar. Im Umkehrschluss wurden so auch die von Olah organisierten Kampfverbände indirekt als Instrument der Aufstandsbekämpfung legitimiert. Der Aufbau eines linksradikalen Flügels innerhalb der österreichischen Arbeiterbewegung war um Jahrzehnte zurückgeworfen und blockiert, auch wenn es inzwischen auf verschiedenen Ebenen Ansätze eines neuen linken gewerkschaftlichen Aktivismus in Österreich gibt.
Dennoch sind aufgrund der Geschichte jene Kräfte relativ schlecht aufgestellt, die für eine inklusive, sich nicht an staatlichen oder wirtschaftlichen Bedürfnissen orientierende Klassenpolitik stehen – was nötig wäre, um antirassistische und feministische Inhalte konsequent vertreten zu können. Die Gewerkschaften wurden von Kampf- in Disziplinierungsorganisationen umgewandelt, deren Aufgabe die Sicherung des Wirtschaftswachstums ist. Das zeigte sich einmal mehr im Dezember 1984, als die GBH mit einer gewaltsamen Mobilisierung von Bauarbeitern drohte, um eine Besetzung der Hainburger Au durch junge Umweltschützer (darunter auch viele Gewerkschaftsmitglieder) zu beenden, die dort gegen den Bau eines Kraftwerks protestierten.
Rassistische Spaltung
Die österreichische Sozialpartnerschaft war und ist alles andere als inklusiv. Über viele Jahrzehnte orientierte sie sich am immer noch in vielen Branchen vorherrschenden Alleinverdienermodell. Die Gehälter von Männern und Frauen klaffen in Österreich auch deshalb sehr weit auseinander, weil die Gewerkschaftsspitzen Lohnangleich bei Frauen nie für eine Priorität gehalten haben. Die lohnstarken Leitbranchen sind industriell, in sogenannten Frauenbranchen wie Handel und Pflege steht es vergleichsweise schlecht. Das Raab-Olah-Abkommen bedeutete den Beginn einer zusätzlichen Spaltung der in Österreich arbeitenden Lohnabhängigen: in privilegierte »Einheimische« und großenteils aus dem Genuss sozialpartnerschaftlicher Rechte herausfallende »Ausländer«. Mit dem Abkommen vereinbarten Wirtschaftskammer und Gewerkschaftsbund »Fremdarbeiterkontingente«, die jährlich revidiert wurden.
Der Status der neu nach Österreich geholten Migranten wurde mit dem Begriff »Fremdarbeiter« schon zu Beginn klar definiert. Es handelt sich hier um eine Wortschöpfung aus der Nazizeit, die Arbeitskräfte aus vom Deutschen Reich besetzten Staaten und Territorien bezeichnete, die in das damals auch Österreich umfassende Deutsche Reich als Arbeitskräfte geholt wurden. »Fremdarbeiter« unterschieden sich von Zwangsarbeitern dadurch, dass ihnen zumindest auf dem Papier ein Lohn zugestanden wurde. Dennoch machte der Begriff deutlich, dass es sich hier um Personen handelte, die dem deutschen Staatsvolk nicht gleichgestellt waren. Viele ursprünglich als »Fremdarbeiter« nach Österreich geholte Arbeitskräfte wurden im Verlauf des Zweiten Weltkriegs einfach zu Zwangsarbeitern umdeklariert. Ihre Arbeitskraft schuf unter unwürdigsten Arbeitsbedingungen Industrieanlagen, Häfen und Flughäfen, die bis heute den Kern der industriellen und logistischen Infrastruktur Österreichs bilden.
Die neuen »Fremdarbeiter« der Raab-Olah-Ära sollten ab den 1960er Jahren vor allem Löcher in österreichischen Niedriglohnbranchen stopfen: Also vor allem dort, wo sich keine einheimischen Arbeitskräfte mehr fanden, da diese inzwischen in besser bezahlte, angesehenere und – für die Gewerkschaften besonders wichtig – konsumstarke Berufsgruppen vorgestoßen waren. SPÖ-Parteichef Andreas Babler verweist gerne auf diese Zeit. In seiner Rede während der konstituierenden Sitzung des Nationalrats am 24. Oktober 2024 sprach er von einem Versprechen, das man den Menschen geben müsse: »Dieses Versprechen muss lauten, dass man sich mit seiner Leistung wieder etwas aufbauen kann und es der nächsten Generation ein Stück weit besser geht.« Die 1970er Jahre seien die Zeit, »in der Bruno Kreisky dieses Versprechen in die Wirklichkeit umgesetzt hat«. Was Babler zu erwähnen vergaß: Es gab diese Aufstiegschancen nur aufgrund der Ausbeutung migrantischer Arbeitskräfte, denen jedoch bis heute Aufstiegschancen erschwert und oft verunmöglicht werden.
Der Status der Gastarbeiter war von Beginn an prekär. Sie lebten überwiegend in schlechten Behausungen, ihre Aufenthaltsgenehmigung musste zunächst jedes Jahr erneuert werden. Es waren die Gewerkschaften, die diese Verpflichtung in das Abkommen mit der Wirtschaftskammer hineinreklamiert hatten. Sie sorgten auch dafür, dass das Prinzip galt, Gastarbeiter im Fall von Stellenabbau zuerst zu kündigen. In den 1970er Jahren wurden viele dieser Arbeiter in ihre Herkunftsländer abgeschoben, da die österreichische Wirtschaft schwächelte und die Sozialpartner einen Stellenabbau unter »Einheimischen« vermeiden wollten (und dies auch erfolgreich taten).
Für die Verbesserung der Lebensumstände der Gastarbeiter fühlten sich die Gewerkschaften lange Zeit nicht zuständig. Erst als sich Selbsthilfevereine unter den migrantischen Arbeitskräften gründeten, begannen die offiziellen Gewerkschaften sich zumindest verbal für bessere Bedingungen einzusetzen. Die Furcht davor, dass sich unter den Gastarbeitern eine außerhalb des ÖGB stehende Arbeiterbewegung formieren könne, dürfte ein Grund dafür gewesen sein. Bis heute führen Migranten in den Strukturen des ÖGB ein stiefmütterliches Dasein. In den Funktionärsetagen sucht man sie zumeist vergeblich.
Krise der Sozialpartnerschaft
Heute wird nicht nur der österreichische Kapitalismus von Krisenerscheinungen erschüttert, die für das Konzept der Sozialpartnerschaft eine enorme Herausforderung darstellen. Die Krise der deutschen Automobilwirtschaft ist auch die Krise der österreichischen Zulieferbetriebe. Eine Pleitewelle rollt langsam, aber stetig, durch das Land, auch branchenübergreifend. Zum anderen wachsen Wirtschaftsbereiche, auf die Gewerkschaften kaum Zugriff haben. Während einerseits in Niedriglohnbranchen – wie etwa Pflege oder Logistik – die Arbeit mehrheitlich durch Migranten zu großenteils miesen und prekarisierten Arbeitsbedingungen besorgt wird, nehmen andererseits die Unsicherheitserfahrungen unter den gewerkschaftlich betreuten Kernschichten der österreichischen Lohnabhängigen zu.
Diese Dynamik macht sich die FPÖ zunutze, deren Parteichef Herbert Kickl im Wahlkampf die Rückkehr zu einem »normalen« Österreich versprach: Normalität suggeriert ein Österreich ohne Ausländer oder queere Personen, mit traditionellen Geschlechterrollen und einer stabilen Wirtschaft, wie es sie in den 1960er Jahren gab. Mit einer ähnlichen Politik, die konservative Wertvorstellungen mit keynesianischen Ansätzen verknüpft, schaffte es auch der sozialdemokratische Landesvater Hans Peter Doskozil im Burgenland zum beliebtesten derzeitigen SPÖ-Politiker zu avancieren. Und obgleich der ÖGB die faschistische »Remigrations«-Politik der FPÖ zwar nicht teilt, steht zumindest dessen sozialdemokratischer Flügel doch für eine restriktive Einwanderungspolitik. So forderte der GBH-Vorsitzende und Vorsitzende der Fraktion Sozialdemokratischer Gewerkschafter im ÖGB, Josef Muchitsch, im vergangenen Wahlkampf, den Zuzug neuer Asylsuchender nach Österreich weitgehend zu unterbinden. Seinem Parteichef Babler warf er vor, gegenüber Asylsuchenden eine zu liberale Politik zu verfolgen.
Wenn die FPÖ heute insbesondere den antimuslimischen Rassismus anfacht, kann sie auf den institutionellen Rassismus der österreichischen Sozialpartnerschaft aufbauen. Die Ironie daran ist, dass ein wichtiges politisches Ziel der FPÖ die Zerschlagung dieser Sozialpartnerschaft ist. Hier kommt es regelmäßig zu Spannungen mit der eigenen Wählerklientel. Als die letzte »schwarz-blaue« Bundesregierung den Zwölfstundenarbeitstag einführte, kam es zu den größten gewerkschaftlichen Protesten seit Jahrzehnten. Die Unterstützung für die FPÖ ging zeitweise deutlich zurück. Klassenkampf kann den Faschismus zurückdrängen. Doch dafür muss er konsequent antirassistisch geführt werden. Und das würde für die Gewerkschaften bedeuten, dem Staat Österreich die Loyalität zu entziehen.
Christian Bunke schrieb an dieser Stelle zuletzt am 7. Februar 2023 über die »Drei-Meere-Initiative« in Ost- und Mitteleuropa
Solidarität jetzt!
Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.
In unseren Augen ist das Urteil eine Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit in der Bundesrepublik. Aber auch umgekehrt wird Bürgerinnen und Bürgern erschwert, sich aus verschiedenen Quellen frei zu informieren.
Genau das aber ist unser Ziel: Aufklärung mit gut gemachtem Journalismus. Sie können das unterstützen. Darum: junge Welt abonnieren für die Pressefreiheit!
-
Leserbrief von Onlineabonnent/in Joachim S. aus Berlin (22. November 2024 um 11:10 Uhr)Dieser Artikel ist äußerst lesenswert, analysiert er doch nicht nur die Lage in Österreich messerscharf. Er lässt wunderbar jene Parallelen erkennen, wieso und wann es dem Kapital auch in Deutschland und anderen westlichen Ländern so wirkungsvoll gelungen ist, die Gewerkschaftsbewegungen als klassenkämpferische Organisationen zu paralysieren. Wir sollten allerdings vermeiden, vom traurigen Zustand der Gewerkschaften in Westeuropa auf den in der ganzen Welt zu schließen. Gewiss hat Westeuropa aufgehört, das revolutionäre Zentrum der Welt zu sein. Das heißt aber längst nicht, dass es keine revolutionären Kräfte und Entwicklungen mehr gäbe. Die Werkbank der Welt steht heute woanders. Wir sollten aufmerksam verfolgen, was sich infolge dessen in jenen Regionen der Welt tut, wo sie jetzt steht.
-
Leserbrief von Onlineabonnent/in Norbert S. aus München (22. November 2024 um 04:58 Uhr)Sehr korrekte Analyse. Danke! Hilft sehr, dieses nationalistisch-rassistische Dumm-Geblubber – ob von SPÖ oder BSW – auf das viele Menschen hereinfallen zu entlarven. Und zwar in der Hinsicht, dass genau dieser von damals bis heute anhaltende opportunistische Verrat an den eigenen Leuten zu den aktuellen Verwerfungen, inkl. Präkarisierung mit sukzessive wesentlich erleichterter Refaschisierung, erheblich beitrug und beiträgt. Die Verklärung als »Goldene Zeiten«, durch BSW z. B. mittels völlig ungerechtfertigter Erhöhung der Willy-Brandt-Regierungszeit, gelingt u. a. aufgrund zweier Dinge: 1. Der Fehlerhaftigkeit des menschlichen Hirns: Langfristig werden negative Erinnerungen mit starker Tendenz verdrängt, wodurch es für Nostalgie anfällig wird und sich entsprechend manipulieren lässt. 2. Einen »Apfel- und Birnenvergleich«: Das Kapitalismusstadium des sogenannten »Wirtschaftswunders« ist mit dem heutigen unvergleichbar: Ein durch zerbombte Städte und Marschall-Plan-Finanzierung bei gleichzeitigem Ost-Konkurrenzsystem explodierendes Wirtschafts- und Sozialstaatswachstum ist heute nicht erreichbar. Selbst die psychopathische Spekulation, dass der neu aufkommende Faschismus wieder alles kurz und klein bomben wird und danach wieder entsprechendes Wachstum erreicht werden könnte, wird nicht aufgehen: Denn entgegen aller dystopischen Phantasien von US-amerikanischen Militärstrategen ist ein dann unausweichlicher Atomkrieg eben nicht führbar, wird ihn angesichts der dem System zugrunde liegender Dynamiken absolut niemensch überleben können. Für eine strategische Positionierung zum BSW sollte mensch sich daher auch bewusst machen, dass der Kopf Wagenknechts auf seinem langsam drehenden Wendehals das Glück hat, alt genug zu sein, in der DDR eine marxistische Ausbildung erhalten zu haben, der heutigen Millionärin Wagenknecht diese Zusammenhänge also durchaus bewusst sind, sie also die Menschen belügt und im Falle des politischen Überlebens folgerichtig (weiter) verraten wird.
Ähnliche:
- 31.01.2023
ÖVP-Hochburg erschüttert
- 16.08.2019
So nicht, Herr Schindler!
- 26.04.2019
FPÖ mit Startschwierigkeiten